August Sperl
Kinder ihrer Zeit
August Sperl

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2

Ein Abendlüftlein hatte sich erhoben. Leise glucksend plätscherten die Wellen des Sees an die hohe Gartenmauer des Klosters, und leise murmelnd saßen die Mönche mit ihren Gästen am großen Steintische hinter der Mauer und besprachen die Dinge, die ihre Herzen bewegten.

Abseits von ihnen, an einem der Rundbogen, die auf den See hinausgebrochen waren, stand ein 94 hochgewachsener, reichgekleideter Herr und blickte auf die gekräuselte Fläche des Wassers.

Am Steintische erhob einer die Stimme über das Gemurmel der andern. »Wie seid Ihr denn eigentlich zu dem wundertätigen Bildstock gekommen, andächtiger Herr Abt?« fragte der Heiligenprobst der Stadt Seefels.

»Fraget lieber, wie das Heiligenbild zu uns gekommen ist,« antwortete der Abt mit Salbung. »Auf wunderbare Weise vor langer, langer Zeit,« fügte er bei, lehnte sich zurück und kreuzte die kurzen Beinchen. »Es mag etwa fünfzig Jahre her sein, es war lange vor meinem Eintritte in dieses Kloster, und keiner von den Brüdern, die damals an den Ufern unsers gesegneten Sees nach der Regel des heiligen Franziskus lebten, weilt mehr in unsrer Mitte.«

Er hielt inne und nahm einen Schluck aus seinem Kruge.

Langsam näherte sich der Reichgekleidete dem Steintische und trat hinter den Abt. Er blieb so stehen, mit gefalteten Händen auf den Korb seines Degens gestützt, während der alte Herr in seinem Berichte fortfuhr:

»Es war ein stürmischer Abend im November – das Jahr des Herrn vermag ich leider nicht mehr zu nennen. Aber man hat mir die Begebenheit 95 öfter als einmal erzählt, und deshalb weiß ich sie, als wäre ich selber zugegen gewesen. Die Brüder waren im Refektorium versammelt, der Pförtner allein waltete abseits von den andern seines Amtes in dem Stüblein, das ihr alle kennet. Da erhellte urplötzlich ein Blitzstrahl das Dunkel der Nacht, und ein Donnerschlag erschütterte das Haus in seinen Grundfesten. Sprachlos lagen die Brüder auf ihren Knien und vermeinten, nun werde ihr Kloster vom Feuer hinweggeraffet. Aber es geschah nichts dergleichen. Da warf einer von ungefähr den Blick auf einen verschlossenen Laden, der in den Hof hinausgeht, und erschrak sehr; denn es funkelte Lichtschein durch die Ritzen in das Refektorium, das doch auch erleuchtet war vom Lichte der Späne. Da rissen sie den Laden auf, und siehe, die Wohnung des Pförtners erstrahlte in weißlichem, überirdischem Schimmer. Die Brüder liefen, die Ursache zu ergründen. Da fanden sie das Klostertor offen stehen, und offen stand in gleicher Weise die Türe des Pförtnerhäuschens. Sie drangen ein, und siehe da, mitten in dem engen Stüblein stand leuchtend in Glanz und Glorie die Statue des heiligen Antonius von Padua, und vor ihr lag in Verzückung der Pförtner. Es verging geraume Zeit, bis er der Sprache mächtig wurde, und man vermochte auch dann nicht viel aus 96 ihm herauszubringen; so sehr hatte ihn die Erscheinung erschüttert. Die Brüder aber hoben den Heiligen mit Frohlocken auf den Altar.«

»Eine wunderbare Geschichte,« sagte der Reichgekleidete nachdenklich. »Aber, andächtiger Herr, wodurch wurde den Brüdern offenbar, daß es gerade der heilige Antonius von Padua und kein andrer von den Halbgöttern war?«

Einen Augenblick besann sich der Abt. Dann erwiderte er hastig: »Ich denke, es ist am Geburtsfeste des Heiligen gewesen.«

»Ei, andächtiger Herr, das wird doch, wenn mir recht ist, im Monat August gefeiert? Ihr aber habt vom November gesprochen.«

»Was weiß ich, ehrenfester Herr?« rief der Abt ärgerlich. »Es ist der heilige Antonius – daran kann niemand mehr zweifeln, und seine Ankunft geschah, wie gesagt, lange vor meinem Eintritt ins Kloster.«

»Gewiß,« vollendete der Pfleger ganz ernsthaft, »gewiß, und also seid Ihr nicht für ein geringfügiges Datum verantwortlich zu machen.«

»Ei, er hatte doch wohl schon damals den Lilienzweig im Arme –?« rief ein junger Mönch aus der Runde.

»Den Lilienzweig – ganz richtig, den Lilienzweig!« rief der Abt erleichtert. Dann aber wandte 97 er sich mit einem Ruck zu dem Reichgekleideten hinüber: »Wie ist mir denn, Ehrenfester, seid Ihr nicht auch eine Zeitlang in der Stadt des seraphischen Heiligen, im hochgelobten Padua, Euern Studien obgelegen?«

»Gewiß, Andächtiger, zwei Jahre lang,« kam die Antwort zurück.

»Glückseliger!« rief der Abt und hob die Hände. »Ihr Brüder, schaffet Lichter in den Garten – der Herr Pfleger muß uns erzählen!«

»Bemühet Euch nicht, Andächtiger,« sagte der Pfleger. »Meine Geschichten kann ich auswendig und auch im Dunkeln von mir geben. Ohnehin wird sogleich der Mond aufgehen, und dann muß ich reiten. Was also wünschet Ihr zu erfahren?«

»Ihr habt zwei Jahre lang geatmet nahe der Stätte, wo der seraphische Leib schlummert, und Ihr fragt, was die Mönche von Seemünster zu erfahren begehren?« rief der Abt salbungsvoll.

Auf der andern Seite des Steintisches räusperte sich einer: »Habt Ihr, ehrenfester Herr Pfleger, also auch den Schatz Sankti Antonii in der Basilika zu Padua mit Euern leiblichen Augen gesehen?«

»Gewiß, ehrbarer Heiligenprobst, das habe ich.«

»Ein großer, ein unermeßlicher Schatz – nicht wahr?«

»Ein Goldhort von fabelhafter Größe, 98 Heiligenprobst. Nur selten wird er den Gläubigen gezeigt, und zu seinem Schutze sperrt man alle Abende zwei Bluthunde in die Kirche des Heiligen.«

»Hunde im Heiligtum?« rief ein junger Mönch entsetzt.

»Hunde im Heiligtum,« wiederholte der Pfleger mit leisem Lachen.

»Und die Stadt ist erfüllt vom Lobpreise des Heiligen und seiner Wunder?« rief der Abt. »Oder nicht?«

»Die guten Bürger von Padua sind nun des Lobpreisens und der Wunder des Antonius seit dritthalb Jahrhunderten gewöhnt, Andächtiger, gewöhnt wie unsereiner des Hausbrotes. Je nun, man gewöhnt sich zuletzt an alles, auch ans Wunderbare. Ihr müßt's ja selber wissen, ihr Mönche von Seemünster!«

»Wir?« Der Abt tat, als verstände er nicht. Dann lenkte er hastig ab: »Vergebet, habt Ihr, edler Herr, habt Ihr nicht auch ein Wunder erlebt in der Stadt des Heiligen?«

»Ein Wunder? Je nun –!« Der Vornehme besann sich. »Gewiß, ich habe ein Wunder, ich habe ein unvergeßliches Wunder erlebt.«

»Erzählet!« rief der Abt, und murmelnd verbanden sich die Mönche seiner Bitte.

Da begann der Pfleger, auf den Korb seines Degens gestützt:

99 »Ein alter reicher Hagestolz in der Stadt Padua hatte sich vornehmlich der Verehrung des heiligen Antonius ergeben und ihm nachgerade den größten Teil seines Vermögens zum Opfer dargebracht. Dabei besaß er arme Verwandte, die sich kümmerlich durchs Leben schlugen und mit bitteren Schmerzen ihre Hoffnung auf ein dereinstiges Erbe schmelzen sahen von Tag zu Tag. Zuletzt aber kam es so weit, daß der Alte selbst, der dem Heiligen alles dargebracht hatte, nicht mehr wußte, wo er seinen Lebensunterhalt hernehmen sollte, und Aufnahme suchen mußte im Bürgerspitale. Da geriet seine Seele in Verwirrung, die Leute aber sagten: ›Er hat seinen Verstand verloren.‹ Als diese Rede eines Tages auch dem Alten zu Ohren kam, lächelte er beifällig, zündete eine Laterne an und begann im hellen Sonnenlichte seinen Verstand zu suchen auf den Straßen und Gassen von Padua. So trieb er's eine geraume Zeit; jedermann kannte ihn, die Kinder liefen ihm nach und übten ihren Witz an seiner Narrheit. Eines Tages nun begegnete ihm ein Student – ein Deutscher war's –. Der hob an und sprach: ›Du armer Schelm, was suchst du denn mit deiner Laterne?‹ – ›Meinen Verstand,‹ lächelte der Greis und wollte vorübergehen. Der Student aber griff nach seinem Arme, schüttelte ihn und sagte: ›Du armer Narr, – hast du dich denn 100 noch nie mit deinem Anliegen an den heiligen Antonius, den wundertätigen Wiederfinder verlorener Sachen, gewendet?‹ – Er wußte aber sehr wohl, was es für eine Bewandtnis mit dem Alten hatte. – Da lächelte der Narr wiederum gar blöde und murmelte: ›Zum heiligen Antonius? O ja, zu dem bin ich schon oft gegangen; den kenn' ich recht gut.‹ – ›Na also,‹ ermunterte ihn der Student, ›geh hin und klag ihm deinen Kummer!‹ – Seelenvergnügt trollte der Alte mit seiner Laterne neben dem Studenten der wohlbekannten Basilika zu. In den geheiligten Hallen stellte er seine Laterne ab und kroch in die Höhlung, unter den marmornen Sarkophag, der die Gebeine des Heiligen umschließt. Ganz nahe stand der Student, und nun ereignete sich ein großes Wunder.«

Die Mönche und ihre Gäste reckten erwartungsvoll die Hälse. Jenseits des Sees aber hob sich der Mond aus dem Dunste des Horizonts, und von dem zarten Lichte beschienen vollendete der Vornehme mit feierlicher Stimme seine Erzählung:

»Wimmernd kauerte der Greis in der Höhlung und berichtete dem heiligen Antonius den Verlust seines Verstandes. Lange Zeit war alles ganz stille. Dann aber ertönte auf einmal ein heftiges Räuspern, und ganz vernehmlich waren diese Worte zu hören: ›Du Rindvieh, wie konntest du verlieren, was du 101 niemals besessen hattest?‹ – Betrübt kroch der Alte aus der Höhlung. Mitleidsvoll löschte der Student das Licht der Laterne aus und gab ihm das Geleite durch die Straßen von Padua, zurück zur Pfründe. Mit blödem Lächeln tappte der Greis in die Haustüre. Die Nachricht von dem neuen Wunder des Heiligen aber verbreitete sich mit Geschwindigkeit auf den Bursen der Studenten über die ganze Stadt, und die Gläubigen priesen den Heiligen, der auch in diesem schwierigen Falle wieder das Richtige gefunden hatte mit unvergleichlichem Scharfsinn. –

»Dies ist eines der Wunder, deren ich mich entsinne,« schloß der bischöfliche Pfleger des Seegaues. »Und nun –« er wandte sich zum Abte – »habt Dank für Eure Gastfreundschaft. Der Abend ist kühl, ich reite nach Hause.« Höflich streckte er dem Dicken die behandschuhte Rechte entgegen. Dieser stand auf, ergriff mit beiden Händen den Handschuh samt seinem Inhalte, tätschelte ihn gar väterlich und gab wortreichen Abschied.

Noch eine Verbeugung unter allgemeinem Gemurmel, Nicken und Händereiben der andern – dann ging der Gast.

Eine Zeitlang waren die Zurückgebliebenen ganz stille. Eine Falte lag zwischen den Augenbrauen des Abtes, eine Falte des Mißtrauens. Dann aber wandte er sich halblaut an den Weltpriester 102 zu seiner Rechten: »Ein gelehrter Herr, wie mir scheint, ein sehr gelehrter Herr, der neue Herr Pfleger?«

Der uralte Weltpriester nickte: »Einer von den neuen, wie sie jetzo aus Welschland kommen, beladen mit Wissenschaft. Er hat mit dem Herrn Bischof zu Padua studiert und ist ein Vetter von ihm, und man sagt – –« Er fuhr flüsternd fort in seiner Rede.

Nahe herüber neigte der Abt den kugelrunden, geschorenen Kopf, die Mönche begannen untereinander zu murmeln, und in dem Gemurmel war nicht mehr zu vernehmen, was der Weltpriester flüsternd erzählte über den Pfleger des Seegaus.


Ein dienender Bruder betrat den Garten und blieb in demütiger Haltung neben dem Abte stehen.

»Was gibt's, mein Sohn?«

»Ein Wunder!« hauchte der Mönch mit niedergeschlagenen Augen.

»Ein Wunder?« wiederholte der Abt mit dröhnender Stimme. »So sprich!«

Die andern am Steintisch verstummten.

»Wir alle haben den Verkrüppelten gesehen, der seit drei Tagen vor dem heiligen Wundertäter seine Andacht verrichtet,« sagte der Mönch.

»Der Verkrüppelte, den sie auf einem 103 Handwägelein in die Kirche ziehen mit meiner Permission?« fragte der Abt.

»Derselbe. Schon gestern ging die Rede unter dem Volk, daß er sich aufgerichtet habe in seinem Wägelein. Nun aber ist er vorhin plötzlich aus dem Wägelein gehüpfet, springt hin und wider im Lager der Wallfahrer und singt Hymnen zu Ehren des Heiligen, und mit Geschrei ist das Volk hinter ihm her. Man hört's bis in den Garten herein! Hört Ihr nichts?«

»Ein Wunder!« sagte der Abt und faltete andächtig bewegt die fetten Hände. »Woher ist denn der begnadigte Mensch?«

»Er ist nicht aus diesem Gau, und niemand kennt seinen Namen. Ein Stummer hat ihn herzugefahren,« flüsterte der Mönch. »Aber mir will dünken, er tut nun des Guten zuviel: sie zahlen ihm Bier, sie trinken ihm zu, und als ich ihn vorhin von der Mauer aus beobachtete, kam es mir vor, als ob er schwankte.«

»Dieser Ochse!« murmelte der Abt zwischen den Zähnen. Dann aber befahl er laut und aufgeregt: »Geschwinde, das Tor aufgerissen und etliche Brüder hinaus! Und dann herein mit dem Begnadigten des Heiligen! Wir müssen ihn herbergen in unsrer Gaststube.«

*

104 Ueber die regungslose Fläche des Sees fuhren im Mondlichte der lauen Sommernacht der Weltpriester und sein Heiligenprobst den Gestaden von Seefels entgegen. Sie saßen einträchtig auf der Holzbank, sprachen aber kein Wort miteinander. Keuchend lagen die Fährleute in den Wieden, gleichmäßig klatschten die Ruder.

Hinter dem Boote verschwammen im Dämmerlichte der Mondnacht die Gebäude des Klosters, das Dorf und die riesigen Linden. Aber das Rufen und Singen des aufgeregten Volkes klang laut über die Fläche herüber, und zuweilen zuckte der alte Priester zusammen, wenn der Knall eines Büchsenschusses hart und scharf ertönte und das Echo vielfach zurückkam von den Häusern des Städtleins. –

Sie stiegen die Steinstufen der Ufermauer hinan, sie tappten durch die mondhellen Gäßlein. Der Heiligenprobst hatte den alten Mann vorsorglich untergefaßt; denn dieser schwankte ein wenig. Und nun sprach der Heiligenprobst mit seiner gewaltsam gedämpften Baßstimme eindringlich auf den ehrwürdigen Priester herab:

»Ei, da schau einer die verfressenen Bäuche an! Warum denn, so frage ich, hat der große Segen sich gerade auf sie ergossen? Sind sie vielleicht frommer als wir, diese Mönche?«

Der Greis nickte und trippelte vorsichtig fürbaß.

105 »Möcht' wahrlich wissen, womit sie's verdient haben! Oder wißt Ihr's, Herr?«

Der Greis schüttelte das Haupt und trippelte vorsichtig fürbaß.

»Ihr wißt's so wenig wie ich, Herr. Oder hat's etwa der Andächtige verdient, daß sie zu Tausenden zusammenlaufen in Seemünster – der Freßsack, das Weinfaß –?«

Vorsichtig trippelte der Greis fürbaß und schüttelte das Haupt.

Sie standen an der zierlichen Spitzbogentüre der Dechantei, und der Heiligenprobst rührte den metallenen Klopfer.

»Ein ganzer Sack voll Geld ist's gewesen, zwei von ihnen haben daran zu schleppen gehabt; es ist mir gar nichts entgangen,« raunte er, und wortlos nickte der Greis.

Rasselnd drehte sich der Schlüssel im Schlosse, und im Rahmen der Türe stand lang und hager eine dürftig bekleidete Alte.

»Ja, ja, gute Nacht, Heiligenprobst,« sagte nun der Greis und stolperte über die Schwelle. Krachend fiel die Türe ins Schloß.

Gedankenvoll schritt der Heiligenprobst nach seiner Behausung. 106



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