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Mudder Griep, die Hebamme, hatte gleich nach der Geburt des Jungen mit der ihr eigentümlichen Bestimmtheit erklärt, er sei ganz der Großvater. Die Frauen aus der Freundschaft, die nach und nach zum Wochenbesuch kamen, bestätigten das. Aber Vater Lohmann lehnte das als »ölen Wiewersnack« verächtlich ab.

Das dumme Vierteljahr war längst vorüber, das Gewicht des kleinen Lohmännchens hatte sich verdoppelt, seine Patschhändchen griffen nach der Klöterbüchse, und mit Schmerzen brach der erste Zahn sich ein Loch. Da sprach eines guten Tages der alte Pastor auf Lohhof vor. Er traf den jüngsten Bewohner just auf den Armen des Großvaters, und sofort fing auch er mit vergleichenden Gesichtsstudien an. Er begann mit den alten und jungen Augen, ging darauf zu den Nasen über, die in ihrer Eigentümlichkeit des näheren charakterisiert wurden, und schloß endlich mit Mund und Kinn. Das Ergebnis war die Feststellung, daß der kleine Jürgen einmal akkurat so aussehen würde wie der große Jürgen.

Seinem Pastor widersprach Vater Lohmann nicht wieder. Nachdem er damit einmal so angelaufen war, hielt er es für das beste, ihm nicht nur in geistlichen, sondern auch in weltlichen Dingen zu glauben. So glaubte er ihm denn auch die eigene Ähnlichkeit mit dem Großkinde.

Als das kleine Kerlchen anfing, vernünftig zu babeln, brachte es als erstes die Laute O-pa heraus. Das hatten nicht etwa die andern dem Großvater vorgeschnackt – ihnen allen hätte er in dieser Sache nicht getraut, nicht einmal Muttern –, nein, er hatte es mit seinen leiblichen Ohren gehört.

Bald darauf antwortete Klein-Jürgen auf die Frage: »Wen sin Jung bist du?« mit »Opa Jung«. Dazu ampelte er nach ihm mit Händen und Füßen und lallte: »Opa Arm.«

Bisweilen mußte aber auch die Mutter ihre Rechte an dem Kinde geltend machen, obgleich dieses nichts als Opa-Jung sein wollte. Sonst hätte der Großvater am Ende selbst verdorben, was, wie es schien, das fremde Blut nicht verdorben hatte.

Um diese Zeit fing der »Tweets-Mann«, Diedrich, an, mit einer großen Bauerntochter zu freien. Diese war so recht eine nach dem Herzen des Vaters, wenn die einmal Frau in Lohe werden könnte, ja, das wäre noch was. Eine Fremde blieb Hinrichs Frau ihm doch immer, trotzdem sie sich in manches geschickt hatte, ein leidliches Plattdeutsch sprach, und es im Grunde auch wohl ganz gut meinte. Und nach der Abmachung in Hannover konnte er den Hof ja ebensogut Diedrich geben als Hinrich. Aber leider, dann zog auch der kleine Jürgen mit seinen Eltern fort, und ohne ihn konnte der Alte sich den Lohhof denn doch nicht mehr recht vorstellen.

Als der Junge zwei Jahre alt war, hatte Vater Lohmann noch immer keinen endgültigen Entschluß gefaßt. –

Um diese Zeit geschah es, daß der Würgengel der Kinder, die Diphtheritis, durch die Heide zog. Fast jeden Tag läutete in Wiechel die Kinderglocke, und ohne Gesang – der Landrat hatte wegen der Ansteckungsgefahr die Begleitung durch die Singjungens verboten – wurde eine kleine Leiche nach der anderen in den Gottesacker gebettet. Ein Bauer in der Nachbarschaft von Lohe verlor in fünf Tagen seine drei blühenden Kinder. Auch über dem Häuslingsjungen in dem abgetragenen Kattunröckchen, der zusammen mit Jürgen aus der Taufe gehoben war, wölbte sich schon ein kleiner Hügel.

Vater Lohmann hatte all seiner Lebtage nicht an Ansteckung geglaubt. Dennoch freute er sich in diesen Tagen, daß sein Hof einsam in der Heide lag. Und wenn ein Fremder in dem Hause zu tun hatte, hielt er ihn von dem Kleinen ängstlich fern.

Endlich schien die Seuche ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Der bleierne Druck, der seit Wochen auf allen Eltern- und Großelternherzen gelastet hatte, begann zu weichen. Da nahm Großvater Lohmann eines Abends seinen Jungen auf die Knie und spielte mit ihm. Er nahm seine rechte Hand, faßte die kleinen Finger, vom Daumen beginnend, der Reihe nach an und sagte dazu: »Lusknicker, Puttenlicker, Langmeier, Goldfinger, Lüttfinger.«

Er wollte diesen Scherz wiederholen, aber der Junge zog die Hand zurück und sagte: »Nee.«

Da nahm der Großvater sein rechtes Beinchen, klopfte mit der flachen Hand unter die Sohle und sang dazu:

»Putt putt putt putt Perd beslahn,
Morgen schall't na Hamborg gahn.«

Aber Jürgen strampelte mit den Beinen und wehrte mit den Händen ab.

Da legte der Alte ihn der Länge nach über seine Knie, fuhr ihm mit der Hand kitzelnd an den Hals und sang:

»Farken sieken, Wüstken maken,
Dat schall seggen quiek, quiek, quiek.«

Sonst quietschte der Junge dabei vor Vergnügen und bettelte, mit den Händen nach Opas Backe langend: »Opa mal, Opa mal!« heute machte er ein weinerliches Gesicht, fühlte sich an den Hals und sagte: »Wehweh.«

Dem Großvater fuhr der Schreck so in die Glieder, daß seine Knie zitterten und er nachgreifen mußte, um das Kind auf dem Schoß zu halten. Dann griff er ihm nach dem Puls. Aber er fand diesen nicht. Sein eigener Pulsschlag war zu ungestüm, und den abgearbeiteten, harten Bauernhänden fehlte der feinere Tastsinn.

Den Jungen an sich drückend, wankte er nach dem Anrichteschrank und kramte ein Löffelchen heraus. Mit vielen Schmeichelreden und Bitten brachte er das todmüde Kind dahin, das Mündchen zu öffnen, und die Zunge mit dem Löffel niederhaltend, blickte er hinein. Du barmherziger Gott! Gelblichweißer Belag im Schlunde von der Größe eines Halbgroschenstücks.

»Hinrich!« schrie er, sich von dem Kinde weg zur Tür streckend.

Statt seiner kamen die beiden Frauen angestürzt, wenn Vater, der gemessene, ruhige Mann, so rief, hatte man Ursache, zu laufen.

Er gab das Kind der Mutter und sagte: »Bring em forns to Bed, he is krank.« Zu seiner Frau sagte er: »Mudder, hal mi gau 'n Köppken voll rein Water!« Er selbst lief an den Wandschrank und riß die homöopathische Hausapotheke heraus. Schon vor Wochen hatte er sich aus einem Doktorbuch über diese Krankheit unterrichtet und gelesen, daß Mercurius cyanatus bei ihr Wunderdinge täte. Für alle Fälle hatte er sich damals gleich dieses Wundermittel unter all den gleichartigen Fläschchen durch ein Zeichen angemerkt. Nun riß er es heraus und ließ die vorgeschriebene Zahl von Tropfen in die Tasse fallen. Halt! Es ist beim Zittern seiner Hände einer zuviel geworden. Mutter Lohmann muß die Tasse ausgießen und sie von neuem mit Wasser füllen. Endlich kann er die nach Vorschrift bereitete und mit der Untertasse verdeckte Arznei in das Schlafzimmer der jungen Leute tragen.

»Feine War', makt Opa-Jung wedder bäter,« sagte er schmeichelnd, indem er an den Kinderwagen trat.

»Vater, wir müssen sofort den Doktor holen,« sagte die junge Frau. In der Aufregung gebrauchte sie wieder ihre hochdeutsche Muttersprache.

»Den Allopathen starwt de Kinner so ünner de Hannen weg,« versicherte der Alte. »Düt helpt jümmer. Alle halwe Stunn 'n Läpel vull, god ümröhren und god todecken!« Damit reichte er dem kleinen Patienten die Medizin, einen stillen Seufzer zum Herrgott schickend, daß sie gut anschlagen möchte.

Hinrich, den man vom Felde geholt hatte, trat nun auch in das Zimmer. Und wieder sagte die junge Mutter: »Wir müssen den Doktor holen.« Aber Hinrich sowohl wie seine Mutter glaubten felsenfest an Vaters Arzneikunst. Seit mehr als zehn Jahren hätte er mit der kleinen Apotheke durch Gottes Hilfe alle Krankheiten auf dem Gehöft geheilt. Der Doktor wüßte gar nicht, wie's in Lohe aussähe, wenn überall zur rechten Zeit dieses rechte Mittel angewandt wäre, hätte die Seuche sicher nicht so viele Opfer gefordert. Da faßte endlich auch die junge Frau Glauben und fügte sich.

Die ganze Nacht saß sie an dem Bett des Kindes, und alle halbe Stunde flößte sie ihm einen Teelöffel der Arznei ein. Im Zimmer nebenan saß der Alte. Kein Wink kam in seine Augen. Vor ihm auf dem Tisch lag die aufgeschlagene Bibel und die Taschenuhr, sooft der große Zeiger einen halben Umlauf vollendet hatte, schlich er leise auf Socken in die Kammer, flüsterte: »Du mußt wedder ingeben!«, fragte: »Wat makt de Lüttje?«, um jedesmal die Antwort zu empfangen: »He slöppt.« Dann schlich er wieder an seine Bibel. Vom Lesen wurde zwar nicht viel. Aber es war ihm eine Beruhigung, dieses Buch, in dem seines Herrgotts herrliche Verheißungen alle drin standen, in seiner Nähe zu haben.

Am andern Morgen mußte auch ein Blinder sehen, daß die Krankheit sich verschlimmert hatte. Das Kind war kaum mehr zu bewegen, ein Wort zu sprechen. Für die Spielsachen, die Großvater heranschleppte, hatte es kein Auge. Die Wangen glühten im Fieber. Der Atem ging schwer und zeitweise röchelnd. »De Krankheit,« tröstete Vater Lohmann, »will sick erst utarbei'en. Mercurius helpt gewiß.« Aber so zuversichtlich klangen seine Worte nicht mehr als gestern abend.

Das Kind hatte wieder mit Atemnot zu kämpfen. Da fuhr seine Mutter herum, sah die Eltern und ihren Mann mit wirren Augen an und sagte in wilder Angst:

»Seht ihr's denn nicht, Jürgen erstickt ja ... Ihr mordet mir mein Kind mit eurer Quacksalberei!« Die anderen standen ratlos und sahen angstvoll auf den schwer kämpfenden kleinen Liebling. Der Alte blickte nach der Uhr, ob noch nicht wieder Zeit wäre, einzugeben, plötzlich trat die Mutter unmittelbar vor ihn hin, hochaufgerichtet und blitzenden Auges, und schleuderte ihm ins Gesicht: »Du hast die Verantwortung, wenn der Junge stirbt!«

Einen Augenblick hielt er ihren Blick aus, dann wandte er sich, verließ mit langen, leisen Schritten das Zimmer, rannte über die Diele, riß die Pferde aus dem Stall und jagte in wahnsinniger Fahrt in zwanzig Minuten nach Wiechel. Dem Arzt ließ er keine Zeit, den Wagen anzuspannen. Nach einer Viertelstunde donnerte er mit ihm über das Steinpflaster auf den Hof.

Im Sprung ist er vom Wagen herunter, der Doktor ist ihm gar nicht eilig genug: »Bitte, bitte, Herr Doktor, schnell!« Die beiden gehen über die Diele, vier, fünf Schritte ist Lohmann immer vorauf, dann bleibt er wieder stehen und treibt den Arzt zur Eile.

Nun treten sie in das Zimmer des kleinen Patienten.

»Wo geiht 't?« fragte der Bauer angstvoll.

»Slecht,« flüsterte Mutter Lohmann.

»Ja, sehr schlecht.« bestätigte der Arzt nach einem Blick auf das Kind. »Es droht Erstickungsgefahr. Wir müssen einen Versuch mit der Tracheotomie machen.«

»Wat is dat?« fragte Lohmann und wischte sich dicke Tropfen Angstschweiß von der Stirn.

»Luftröhrenschnitt,« erklärte der Arzt kurz.

»Nee, nee,« schrie der Bauer, sich windend, »dat kann ick nich lieden, dat Se mi dat Kind vor mine Ogen dodstäkt.« Er hatte gehört, daß in Wiechel ein Kind bald nach dieser Operation gestorben war.

Der Arzt zuckte die Achseln und sah nach dem Gesicht des jungen Bauern.

Der stand fassungs- und ratlos da. Seine Mutter hing zusammengebrochen auf einem Stuhle.

Da hob die junge Frau, die tief über ihr Kind gebeugt an seinem Bettchen saß, den Blick, sah den Arzt ruhig an und sagte: »Herr Doktor, tun sie, was Ihre Pflicht ist.«

Der Arzt fing an, seine Vorbereitungen zu treffen.

Als er sein Operierbesteck öffnete und die blanken Messer zum Vorschein kamen, wankte der alte Lohmann auf ihn zu, hielt seine Hände fest und rief verzweifelt: »Nee, nee, nee, Herr Doktor!«

Der Arzt fragte, ungeduldig werdend: »Meine Herrschaften, wer hat hier denn nun eigentlich das Regiment?!«

Da trat die junge Frau vor ihren Schwiegervater hin, richtete sich auf, daß sie fast so groß war als er, und sagte, ihn fest anblickend: »Vater, das Kind ist mein Kind. Ich habe es mit Schmerzen geboren.«

»Aber ick kann't nich mit ansehn,« jammerte der große, starke Mann.

»Dann gehe hinaus, Vater,« gebot sie und wies mit der Hand nach der Tür.

Er sah ihr wie abwesend in die gebieterischen Augen und machte ein paar Schritte nach der Tür zu. Dann blieb er stehen und sah auf das schwer röchelnde Kind und konnte sich nicht trennen. Da nahm die Schwiegertochter sanft seinen Arm und führte ihn hinaus.

Mit namenloser Angst lief er unten auf der Diele auf und ab, die Augen auf die Stubentür geheftet, aus der sie ihn herausgebracht hatte. Er sah im Geiste, wie der Arzt das Messer scharf machte, es ansetzte, er hörte, wie sein Liebling aufschrie und verröchelte. Und immer wilder wurde sein Hinundherlaufen.

Drüben die Tür wurde geöffnet, es lief jemand schnell über das Flett in die Küche, der Arzt kam eiligst hinterdrein und rief ihm etwas nach. Da hielt Vater Lohmann es im Hause nicht mehr aus. Er stürzte hinaus.

*

Draußen in der frischen, regenerfüllten Herbstluft wurde er ein klein wenig ruhiger. Unter den Hofeichen, in denen der Sturm brauste, wanderte er mit schweren Schritten auf und ab. Zuweilen blieb er stehen, ließ sich den Regen ins Gesicht treiben und legte den zum Zerspringen vollen Kopf an einen der rauhen, naßkalten Eichenstämme. Und unaufhörlich betete er. Bald murmelte er vor sich hin, bald bewegte er stumm die Lippen, und dann wieder schrie er in das Brausen des Eichwaldes hinein: »Herr Gott, leewe himmlische Vader, lat mi düssen Jungen, allmächtige barmherzige Heiland, du hörst de Gebette van dinne Kinner, giww mi düt leewe Kind wedder!« – sonst redete er ja hochdeutsch mit dem Herrgott, aber in dieser halben Stunde unter den Eichen, die ihm eine Ewigkeit dünkte, in den Lauten seiner Muttersprache. Was er betete, das kam unmittelbar aus seinem gequälten Herzen, und es war keine Zeit, es im Kopfe erst ins Hochdeutsche zu übersetzen.

Der Wagen des Arztes war inzwischen eingetroffen, dieser aber noch immer im Hause. Endlich, endlich tritt er aus der Missentür, von Hinrich begleitet. Im Nu ist der Alte bei ihnen.

»Lewt he noch?« fragte er mit bebenden Lippen.

»Natürlich lebt er,« sagte der Arzt, den großen Mann etwas geringschätzig von der Seite ansehend.

»Bliwt he an't Leben?« forschte dieser weiter.

»Müssen wir abwarten,« war die ruhige Antwort. »Viel wird darauf ankommen, daß meine Anordnungen genau befolgt werden. Aber die Sache liegt bei Ihrer Schwiegertochter in den besten Händen. Zu der gratuliere ich Ihnen. Da hat Ihr Junge einen guten Griff getan. Wo euch beiden baumstarken Kerls das Herz in die Hosentasche fällt, da hat sie sich als eine Heldin gezeigt. Adieu, ich hoffe, daß Sie Ihren Jungen behalten. Jehann, nu man to!«

Vater Lohmann trat leise und verlegen in das Krankenzimmer. Das erste, worauf sein Blick fiel, war ein blutbeflecktes Handtuch, das auf der Fensterbank lag. Er wandte jäh den Kopf zur Seite, kalt überlief es ihn. Die Schwiegertochter bemerkte das und nahm das Tuch still hinweg. Der Alte scheute ihren Blick, aber sie schien ihn gar nicht zu sehen. Um so mehr mußte er auf ihr Tun achten. Sie zündete ein Spiritusflämmchen an und ließ das Kind aus einer Kochsalzlösung durch die Kanüle inhalieren. Wenn sich in dieser pfeifende, röchelnde Töne vernehmen ließen, rang er die Hände. Aber sie nahm die Glasröhre heraus, reinigte sie und schob sie mit sicherer Hand wieder in die Wunde. Vater Lohmann konnte das nicht mit ansehen und mußte wegblicken. Wie sie das nur so fertigbrachte! Seine eigene Frau hätte das nicht so gekonnt. Und aus seiner ganzen Freundschaft keine einzige.

Er kam gar nicht aus dem Verwundern heraus. Rasse hatte die Fremde doch.

Zuweilen bat sie ihn, irgendeinen kleinen Dienst zu verrichten. Dann war Vater Lohmann die Sorgfalt und Geschäftigkeit selbst. Und wenn sie dann freundlich »Danke« sagte, dann freute er sich sehr und sagte einige Male sogar »Bitte«.

Zufällig entdeckte er die Arzneifläschchen aus seiner Hausapotheke in einem Versteck, in dem man sie vor den Augen des Arztes verborgen hatte. Er pirschte sich vorsichtig heran und schob die Gläser verstohlen in die Tasche, um sie an die Seite zu schaffen. Das Unglück wollte, daß in diesem Augenblick just seine Schwiegertochter hersah, und der Ertappte wurde rot. Aber sie hatte blitzschnell den Kopf gewandt und tat, als ob sie nichts gesehen hätte. Darüber freute Vater Lohmann sich. Sie hatte doch auch Lebensart.

Am Abend kam der Doktor wieder. »Ich habe jetzt gute Hoffnung,« sagte er, »Sie haben Ihre Sache ausgezeichnet gemacht, Frau Lohmann.« »Ja, das hat sie ganz gewiß,« bestätigte Lohmann. Das klang zwar etwas verlegen, aber in dem Blick, mit dem er seine Schwiegertochter ansah, lag Respekt und sogar ein klein wenig Stolz.

Am Mittag des folgenden Tages sah der Arzt wieder nach dem kleinen Patienten. Und nun reichte er der Mutter die Hand und sagte: »Ich gratuliere Ihnen, Ihr Junge ist gerettet. Einige Tage lassen wir ihn noch durch die Kanüle atmen, dann nehmen wir sie heraus, und die Wunde ist in gut acht Tagen verheilt. Ich muß Ihnen noch mal mein Kompliment machen. Die beste gelernte Krankenpflegerin hätte ihre Sache nicht besser machen können.«

Hinrich geleitete den Arzt hinaus. Die junge Frau schaute mit stummer Freude auf den geretteten Liebling, dessen große Augen schon wieder lächeln konnten. Plötzlich fühlte sie sich von starken Armen umschlungen und von ein paar groben Lippen, die dazu gar nicht eingerichtet schienen, geküßt, und eine gebrochene Stimme schluchzte: »Min leewe beste Kind!« Da öffnete sie die Arme, drückte den schluchzenden Mann an sich und rief: »Vader!« So hatte sie ihn schon immer genannt, und doch noch nie so. Das war eine glückliche Stunde. Das Leben des Kindes hatte sie wieder und das Herz des Vaters dazu.

So fand der zurückkehrende Hinrich sie. Der Vater weinend und küssend? ... Sollte die Welt untergehen? Eine Sekunde stand er starr vor Verwunderung. Dann breitete er seine mächtigen Arme aus und umschlang die Gruppe. Und Mutter Lohmann stand dabei, und ihre kleinen grauen Augen wurden immer größer und fingen an zu leuchten. Auf einmal füllten sie sich mit Tränen. Und in den Tränen leuchtete ihre Freude noch schöner.

Die Gefühle, die auf dem Lohhof durch Sitte und Mode sehr gehegt und gehalten wurden, hier brachen sie einmal mit stürmischer Gewalt durch die Hecken und Zäune hindurch.

Mutter Lohmann hatte doch recht gehabt, wenn sie immer sagte, Vater hätte einen eisernen Kopf, aber ein weiches Herz. Endlich, endlich hatte das Herz über den Kopf gesiegt.

Und nun sahen vier glückliche Augenpaare auf das kleine Kerlchen, das dieses alles fertiggebracht hatte. So verständig und glücklich sah es aus, als wäre es sich seines Sieges, der seelenverbindenden Macht seiner kleinen Persönlichkeit, völlig bewußt.

Zuerst löste sich der Alte aus dieser Gruppe. Es wurde ihm nachgerade etwas viel. »Hinrich,« sagte er, indem er sich die Augen mit dem Rockärmel trocknete, »kumm mal mit rut!«

»Hinrich, wat ick man seggen wull,« sagte er, draußen angekommen, »annern Middewäken föhrst du mit mi up't Amt. Dor lat ick di den Hoff toschriewen ... Hinrich, du hest'n Fro kregen, dor kannst du unsen Herrgott gor nich genog för danken.« –


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