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Anderthalb Jahre waren mit ihrem Wechsel von Samen und Ernte, Sommer und Winter, Frost und Hitze, Tag und Nacht über den Lohhof dahingezogen, und wieder sang die Nachtigall in Lohmanns Büschen. wenn Hinrich sie jubeln und schluchzen hörte, blieb er wohl mal stehen und dachte an eine alte Geschichte, die im Nachtigallenmonat vor zwei Jahren geschehen war, – wie da ein junges Menschenkind mit angehaltenem Atem vor ihm gestanden, ihn mit Augen wie Sterne leuchtend, wie Blümlein schön angeschaut und mit der feinen Stimme, die wie Musik klang, gelesen hatte: »Da sind von ihrem süßen Schall, da sind im Hall und Widerhall die Rosen aufgesprungen.« Ach ja, damals war auch in seinem Herzen etwas aufgesprungen, dachte er wehmütig lächelnd, wie oft war er klopfenden Herzens nach ihrem Waldwinkel geschlichen und hatte keinen anderen Wunsch gehabt, als noch einmal ihre Augen leuchten zu sehen! Und als er sie niemals fand, hatte er sich eines Abends auf den weg nach Delmsloh gemacht. Da stand er dann lange an der Hofmauer aus Findlingsblöcken und blickte nach dem Lichtschein, der aus einem kleinen Fenster schräg auf den Hof fiel. Der zog ihn seltsam an, und plötzlich hatte er die Klinke der Pforte in der Hand. Aber da rasselte auch schon eine Kette, und ein Ungetüm von Hofhund machte einen Höllenspektakel, und das geheimnisvolle Fenster öffnete sich, und Flüche und Schimpfworte brachten das erregte Tier zur Ruhe. Ach, er hatte hinter dem traulichen Lichtschein ganz etwas anderes vermutet als den schnodderigen Berliner. Da war er mit hängendem Kopf seiner Wege gegangen. Und niemals hatte er sie aus der Nähe wiedergesehen.

Jetzt wußte er, daß es so das beste war. Jetzt lächelte er über seine damalige Jugendtorheit. Seine Frau konnte sie ja doch nicht werden. Sie war für ihn und seine Eltern viel zu fein, und zwischen den beiden feindlichen Höfen konnte ja kein Brautkistenwagen fahren. Daß er damals an diese Unmöglichkeit gar nicht gedacht hatte! Aber da war er noch so ein junger Springinsfeld gewesen, eben vom Kommiß zurück. Mit den Jahren wird der Mensch vernünftiger und kriegt mehr Überlegung. Aber wenn die Nachtigall sang im Frühlingsorchester und die Heckenrosen ihm entgegenleuchteten, dachte er doch ganz gern mal an jene selige Jugendtorheit zurück. –

Die Pläne seiner Eltern mit Hinkens Gretschen kannte er. Gegen das Mädchen hatte er auch gar nichts. Aber er konnte sich nicht helfen, er mußte sie, sooft er sie sah, mit dem kleinen, feinen Ding von drüben vergleichen. Dabei zog dann die Deern mit den starken Knochen und den blühenden Backen immer den kürzeren. Die war wie eine vollerblühte Zentifolie in Mutters Garten, die andere aber wie ein eben aufgesprungenes Heckenröschen. wenn er mal freien sollte, mußte es eine sein, die mit der kleinen Nachbarin etwas mehr Ähnlichkeit hatte, vor allem die Augen durften nicht so rund und stumpf in die Welt gucken, wie bei dem guten Gretschen. Sie mußten etwas von dem wunderbaren Leuchten haben, womit die andere ihm damals beinahe den Kopf verdreht hätte. Daraufhin sah er jetzt jedes Mädchen an, aber bislang hatte er das, was er suchte, noch nicht wiedergefunden.

Von Delmsloh hörte man in Lohe nur selten und auf Umwegen. Einheimische Dienstboten hatte Herr Riewitz nicht wieder mieten können. Seine Grobheit und der Ruf, den sein Haus nun einmal weg hatte: »Se spiest nich god,« schreckte die Leute zurück. Seit er einmal aushilfsweise Arbeitskräfte aus dem Osten beschäftigt hatte, brauchte er sich um Kinder der Heide überhaupt nicht mehr zu bemühen. Die fühlten sich gegenüber dem Volk aus dem Osten als überlegene, edlere Rasse und wollten in die von den »Polacken« benutzten Betten nicht hinein. August hatte bei seinem Herrn und Trina treulich bei ihrer jungen Herrin ausgehalten. Für das Milchvieh war von der Landstraße ein heruntergekommener Oberschweizer in Dienst genommen. Es hieß, der Mann sei für gewöhnlich fleißig und zuverlässig, aber wenn von Zeit zu Zeit der Alkoholteufel ihn packte, gebärde er sich wie ein wildes Tier. – Die Viehhändler erzählten gelegentlich, daß der schwere ostfriesische Schlag, des fetten Marschengrases gewöhnt, in der Heide nicht recht fortkomme und zuletzt mit Schaden verkauft werde. – Viele Tausende der Kiefernsämlinge, die auf dem Heideumbruch gepflanzt waren, waren an Kinderkrankheiten eingegangen.

Vater Lohmann hörte solche Gerüchte ohne eine Spur von Schadenfreude, aber auch ohne Mitleid. Er sah darin nur ein ehernes Gesetz sich vollziehen. Der Herrgott wollte es eben nicht, daß diese neumodischen Landwirte, die ohne ihn auskommen wollten und den seit Jahrhunderten erprobten und vom Vater auf den Sohn vererbten Arbeitsbetrieb verachteten und den sogenannten intensiven Betrieb an die Stelle setzten, in der Heide Wurzel fassen sollten. Daß auch Riewitz, der hohe Hypothekenschulden übernommen hatte, eines Tages werde davon müssen, war ihm sicher, wie lange er sich hinhielt, hing von den Hilfsmitteln ab, die er in Reserve hatte.

Vater Lohmann hatte sein Gelübde, unter dem gegenwärtigen Besitzer den Delmsloher Hof nicht zu betreten, treu gehalten. Einen Annäherungsversuch seines Nachbarn hatte er schroff zurückgewiesen. Als eines Tages August ihm die Einladung zu einer Treibjagd überbrachte, ließ er antworten, Hasen sprängen bei ihm selbst genug herum, und er wäre froh, wenn er diese so weit abschießen könnte, daß seine Frau etwas Kohl für die Pinkelwurst übrigbehielte.

Und doch ist ein Tag gekommen, an dem er sein Gelübde hat brechen müssen. Da ist er mit sehr schnellen Schritten nach Delmsloh geeilt, schneller noch als in den flinken Jugendtagen, wenn's ihn zum Spiel mit Freund Schorse zog. Und als er bei dem Hause mit dem Kirchturm angekommen ist, da hat er sich die blanken Schweißtropfen von der Stirn gewischt und hat kaum wieder hinter den Atem kommen können. –

Am Tage nach Pfingsten war's. Frau Lohmann saß auf dem Flett und schälte Kartoffeln. Drüben die Missentür stand offen, und in dem breiten Strahl der Frühlingssonne glitzerten die Flügel der zwitschernd ein und ausfahrenden Schwalben, die an den Dielenbalken ihre Nester hatten. Da plötzlich erscheint in dem offenen Tor eine menschliche Gestalt, und ein Mädchen kommt über die Diele gerannt. Die Haare fliegen, das Gesicht glüht, der Busen jagt keuchend auf und nieder. Die Trina von Delmsloh ist's, die nun erschöpft neben Frau Lohmann auf einen Stuhl sinkt.

»Deern, wat is denn?« fragt die entsetzte Frau.

Aber das Mädchen hat noch keine Worte. Das Blut hämmert in ihren glühenden Schläfen, sie wankt auf den Wassereimer zu. Aber die Frau ist aufgesprungen, hält sie fest und schreit: »Drink nich, Deern, dat is din Dod! Wat is denn, so segg doch!«

Nun endlich öffnen sich ihre Lippen für ein dreimaliges grauenvolles Oh.

Frau Lehmann faßt das Mädchen an beiden Armen und schüttelt sie: »Nu fat di doch und segg, wat passeert is!«

»Unser Herr ... de besapene Kerl ... hett em dal slan ... Melkstohl... grot Lock ... dat Fräulein ... oh, kamt glieks mit ... se bittet van Harten ...«

Die Frau sah das Mädchen starr an, nach dem Zusammenhang der abgerissen herausgestoßenen Worte suchend. Dann ließ sie es los und lief hinaus. Das Mädchen stürzte sich an den Wassereimer, tat lange, hastige Züge und sank wieder auf dem Stuhle zusammen, dumpf vor sich hinbrütend ...

Nach einigen Minuten gingen Lohmanns eilig an ihr vorüber in das Zimmer, er in Hemdsmauen, von der Arbeit gerufen, wieder einige Minuten, und sie waren bereit, ihr zu folgen.

Nun machten die drei sich schleunigst auf den Weg. Unterwegs brachte Lohmann durch Fragen heraus, wie alles gekommen war. Der Schweizer hatte die Festtage mit einer Zweiliterkanne voll Schnaps im Kuhstall gefeiert, die nötigen Arbeiten aber dabei noch einigermaßen getan. Nun kommt aber vorhin der Herr in den Stall und sieht, daß die Kühe noch nicht gemolken und gefüttert sind. Da muß er dem Betrunkenen wohl Vorhaltungen gemacht haben, vielleicht hat er auch den Stock gebraucht, den man bei ihm gefunden hat – es war ja niemand dabei gewesen –, genug, den Betrunkenen hat eine sinnlose Wut gepackt, und er hat mit dem scharfkantigen Melkstuhl den Herrn zu Boden geschlagen. Ob er noch lebte, wußte das Mädchen nicht. Das Fräulein hatte sie gleich, nachdem das schreckliche geschehen, nach Lohe geschickt.

»Dat arme Kind!« jammerte Mutter Lohmann, und die drei beschleunigten ihre Schritte noch mehr. Außer Atem und stark erhitzt kamen sie in Delmsloh an.

Riemitz lag noch an der Stätte der Untat. Man hatte ihm Kissen unter den Körper geschoben, und die Tochter kauerte neben ihm an der Erde und legte kühlende Tücher auf sein Haupt. Als sie Schritte hörte, blickte sie auf und sah den voranschreitenden Bauern leer und wie abwesend an. Dann suchten ihre Augen die von Frau Lohmann, und da war es, als ob das Starre, Tote langsam aus ihnen wiche. Sie erhob sich mühsam, gab der Frau die Hand – und plötzlich warf sie sich an ihre Brust und brach in krampfartiges Weinen aus. Endlich faßte sie sich gewaltsam und drückte dem Bauern stumm die Hand.

»Ist nach dem Doktor geschickt?« fragte Lohmann.

Ja, August hatte sich sofort auf ein Pferd geworfen, um ihn zu holen. Er mußte jeden Augenblick zurück sein.

Ob der Übeltäter festgemacht wäre, fragte der Bauer wieder.

Ja, man hätte ihn gleich in eine feste Kammer mit kleinen, hohen Fenstern eingeschlossen, antwortete jemand.

Es folgten bange Minuten. Einmal über das andere sah Lohmann nach der Uhr. Wenn der Knecht den Arzt nur zu Hause traf!

Da klapperten Pferdehufe über das Hofpflaster, von dem schweißbedeckten Tiere sprang August. Ja, der Doktor wollte sofort kommen.

Wieder lange, bange Minuten. – Die Kühe brüllten und stießen gegen die Stallbäume. Lohmann dachte daran, daß sie noch nicht gefüttert und gemolken waren. Da ging er hin und warf ihnen vor. Dem Mädchen, das ihn geholt hatte und jetzt händeringend ihrer Herrin ins Gesicht starrte, gab er den Befehl, die Kühe sofort zu melken.

Endlich, endlich – Wagenräder rasselten über das Hofpflaster, und gleich darauf trat der Arzt schnellen Schrittes und die Anwesenden mit einem schnellen Blick streifend, an den Bewußtlosen heran. Alle Augen hingen gespannt an seinen Zügen, als er nun die Wunde untersuchte. Es herrschte Totenstille. Die Tochter bewegte die Lippen, als ob sie fragen wollte. Aber sie wagte es nicht, aus Furcht vor der Antwort.

Der Arzt erhob sich und ordnete die Überführung des bewußtlosen in seine Kammer an. Die Männer ließen sich anweisen, wie sie anfassen sollten. Er selbst hob das Haupt in den Kissen hoch, und so trugen sie ihn behutsam über den Hof in das Haus. Mutter Lohmann führte das fassungslose Kind.

Als sie ihn in das Bett gelegt hatten, wandte der Arzt sich an Else, drückte ihre Hand und sagte: »Liebes Kind, Ihr Papa hat eine schwere Gehirnerschütterung erlitten, aber wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben. Wissen Sie nicht jemand, der Ihnen in der Pflege beistehen kann?«

»Ach nein, Herr Doktor, wir sind hier ganz fremd,« sagte sie und sah ihn ratlos an.

»Können Sie denn nicht irgendeine Verwandte telegraphisch bestellen?« fragte der Arzt wieder.

Sie sah noch ratloser drein, »wir haben wenig Verwandte, und von denen kann niemand abkommen. Ich weiß keinen auf der ganzen Welt.«

Da fiel ihr Blick auf Mutter Lohmann, die unruhig mit ihrem Manne Blicke wechselte. Und nun trat diese einen Schritt vor, schien etwas sagen zu wollen, seufzte und sagte dann: »Ick will Se bistahn.«

Da nahm das Mädchen ihre Hand und warf ihr einen dankbaren Blick zu. Und der Doktor ergriff ihre Linke und sagte: »Das ist brav nachbarlich von Ihnen.« Dann gab er Anweisung, alle zehn Minuten frische Kompressen aufzulegen, richtete die erste selbst ein und bedauerte, vorderhand nicht mehr tun zu können. Am Nachmittag werde er wieder vorsprechen.

Er verließ das Zimmer, und auf einen Wink folgte Lohmann ihm auf den Vorplatz. »Der Halunke hat leider nur zu gut getroffen,« sagte der Arzt. »Unser Freund hat einen bösen Schädelbruch erlitten. Ich fürchte, das arme Kind geht schweren Tagen entgegen. Ich hoffe, Sie beweisen sich als gute Nachbarn.«

Lohmann dachte daran, wie damals bei der Reichstagswahl dieser Doktor mit dem da drinnen ihn verhöhnt und ihm den »dummen Bauernklotz« nachgeworfen hatte, und finster blickte er auf den kleinen Mann herab. Er dachte einen Augenblick daran, ihn an jene Stunde zu erinnern. Er sagte dann aber nur: »Was wir als Nachbarn schuldig sind, das werden wir wohl von alleine wissen.«

Als der Arzt seinen Wagen bestieg, führte eben auch der Wiecheler Gendarm den Übeltäter ab.

Bald nach Mittag sprach der Arzt wieder vor. Er fand den Zustand des Verwundeten unverändert.

Endlich sank die Nacht auf diesen schrecklichen Tag herab. Frau Lohmann hatte zu Hause nur eben nach dem Rechten gesehen und sich dann wieder in Delmsloh eingefunden, um Krankenwache zu halten. Mit der Tochter saß sie an dem Bett des Bewußtlosen. »Min Kind,« sagte sie nach einer Weile, »leggen Se sick för'n paar Stunden dal, nieder dat Se för morrn frische Kraft kriegt!«

»Nein, Frau Lohmann, das kann ich nicht,« antwortete das Mädchen und fuhr fort, die Züge des Vaters ängstlich zu beobachten und auf die Minute pünktlich die Umschläge zu erneuern. Endlich machte aber die Natur ihre Rechte geltend. Der furchtbaren Spannung folgte die Abspannung und Erschöpfung. Eine Zeitlang kämpfe sie, die Augen gewaltsam aufreißend, dann sank sie machtlos in den Lehnstuhl, in dem sie saß, zurück und fiel in festen Schlaf. Und zwischen Vater und Kind saß die fremde Frau, wartend und sorgend, Nachbarpflichten erfüllend, die so lange zwischen den beiden Höfen geruht hatten.

In der Einsamkeit und Stille der Nacht kamen ihr allerhand Gedanken. Wie lange war's her, daß sie zum letztenmal an einem Krankenbett gewacht hatte? Sehr, sehr lange. In den sechsundzwanzig Jahren ihrer Ehe war es kaum je nötig gewesen; wohl einmal bei den Häuslingen, aber in der eigenen Familie niemals. Ihre drei Jungen und die Tochter waren herangeblüht wie die Lilien. Die Kinderkrankheiten hatten sie spielend überstanden. Ja, ja, sie hatte alle Ursache, Gott dankbar zu sein. –

Aber halt, es ist wieder Zeit, das kühlende Tuch zu erneuern. Sie zieht die Pantoffeln aus und schleicht auf Strümpfen, um das schlummernde Kind nicht zu wecken.

»Ach jajija,« seufzte sie, sich wieder an den Tisch setzend, wie schwer mußten andere dagegen hindurch! Das arme Kind da – die Mutter hat's früh verloren, und nun muß vielleicht der Vater von ihr gehen, auf so schreckliche weise, im Zorn hinweggerafft ... wie ruhig sie schlief. Sanft hob und senkte sich der Busen in regelmäßigen Atemzügen. Beinahe wie ein stilles Lächeln lag es auf dem lieben Gesicht. Es schien, als hätte der freundliche Engel des Schlafes all das schreckliche von ihrer Seele genommen ... Aber das schreckliche Erwachen, das dann folgen mußte ... wenn solch ein Menschenkind erquickt vom Schlafe auffährt und dann die schreckliche Gegenwart sich auf einmal mit doppelter Wucht auf das arme, ahnungslose Herz stürzt ... sie dachte mit Schaudern an ihre Jugend, als die Mutter gestorben war, wie sie da in den ersten Wochen sich abends fast gefürchtet hatte, zu Bett zu gehen, im Gedanken an das Erwachen am anderen Morgen ...

Eins wurde Mutter Lohmann in diesen Stunden des Nachdenkens und des Erinnerns ganz klar, sie mußte dem Herrgott, der mit ihrer Familie so gut gewesen war, dadurch danken, daß sie sich dieser Verlassenen in der schweren Zeit treu annahmen, wenn dabei auch manches im eigenen Hause nicht zu seinem Rechte kommen konnte.

Es graute der Morgen, in den Linden vor dem Fenster lärmten die Sperlinge. Da regte sich die Schlafende. Frau Lohmann sprang auf und stellte sich schnell zwischen sie und das Bett des Kranken, um dieses dadurch zu verdecken, so kam es, daß der erste Blick der sich öffnenden Augen nicht auf die bleichen Züge des Vaters fiel, sondern auf das gute Gesicht der Nachbarin mit den treuen, mütterlichen Augen. –

Riewitz' Zustand blieb eine Reihe von Tagen unverändert. Frau Lohmann kam täglich nur auf Stunden nach Hause. Die Nächte brachte sie regelmäßig in Delmsloh zu, so, daß sie sich mit der Tochter, die jetzt viel mehr Stärke und Umsicht zeigte, als sie ihr zugetraut hatte, in die Nachtwachen teilte.

Lohmann kam auch täglich herüber und sah nach der Wirtschaft. Als die wichtigsten Arbeiten der Jahreszeit in Lohe beendet waren, brachte er einige seiner Leute mit, um dieselben in Delmsloh anzugreifen. Bei einer solchen Gelegenheit sah Hinrich die Nachbarstochter einmal wieder. Wie hatte sie sich verändert! Die Augen, die einst von Lebenslust sprühten, waren tiefumrändert. Das wilde, lose Haar war gebändigt, und statt der Rosafarbe trug sie schwarz. Als sie sich zufällig auf der Diele trafen, waren sie allein, aber kein Wort, keine Miene knüpfte an die frühere Bekanntschaft an. Zögernd und verlegen gingen sie aneinander vorüber. Nachher dachte er, er hätte ihr wohl einige Worte der Teilnahme sagen müssen, und sie bedauerte, ihm nicht ein Wort des Dankes für seine und seiner Eltern treue Hilfe gesagt zu haben, Aber als ihnen das einfiel, war es schon zu spät.

Vater Lohmann wunderte sich, den Hof nicht so verlottert zu finden, als er erwartet hatte. In manchen Dingen schien der Nachbar doch ganz tüchtig zu sein, und in einigen, das gestand sich der Lauer ehrlich, war er ihm sogar überlegen.

Sieben Tage nach dem Unglück schrak Frau Lohmann, die, einen Strumpf flickend, am Fenster des Krankenzimmers saß, plötzlich zusammen. Aus dem Bette hatte auf einmal eine schwache Stimme gefragt: »Wer sind Sie?« und als sie erschreckt aufsprang, waren zwei matte Augen auf sie gerichtet.

Vor Aufregung zitternd und die Antwort vergessend, lief sie in die Küche und rief die Tochter. Mit zitternden Knien eilte diese in die Krankenstube, fiel vor dem Bett auf die Knie und bedeckte die Hand des Vaters mit Küssen.

»Was war das für eine Frau?« fragte er mühsam.

»Frau Lohmann ist das, unsere liebe Nachbarin.«

»Was will denn die hier?«

»Ach, Papa, bester Papa, du bist ja schwer krank gewesen und hast sieben Tage wie tot gelegen. Da hat die gute Frau mir so treu geholfen und jede halbe Nacht bei dir gewacht.«

»Ach so. Ist das wahr?...« Die müden Augen schlossen sich wieder, der Kranke schien in seinen vorigen Zustand zurückzusinken. Angstvoll hing die Tochter an seinen Zügen.

Nach einer halben Stunde schlug er die Augen wieder auf und sagte: »Draußen ist natürlich alles liegengeblieben ... wie soll ich das noch wieder einholen? ... Ach, mein Kopf! ...«

»Bestes Väterchen, rege dich nicht auf,« flehte die Tochter. »Alles ist in Ordnung. Unser Nachbar und sein Sohn und seine Leute haben uns tüchtig geholfen, wenn du erst wieder auf bist, wirst du deine Freude daran haben.«

»Was? – Unsere starrköpfigen Nachbarn in Lohe haben das getan?«

»Pst! Die Frau ist in der Wohnstube. Daß sie es nicht hört!«

»Rufe sie mal herein!«

Frau Lohmann kam, befangen und zaghaft. Der Kranke schlug mühsam die Augen auf, streckte mit sichtbarer Anstrengung die magere Hand mit den geschwollenen blauen Adern ihr entgegen und sagte leise: »Ich danke Ihnen ... Sagen Sie das auch Ihrem Manne ... bin so müde ...«

Dabei fielen ihm die Augen wieder zu.

Das Kind ergriff Mutter Lohmanns beide Hände, sah sie glückselig an, atmete tief auf, und plötzlich warf sie sich der Frau an die Brust und küßte die leicht sich Sträubende ein Mal über das andere. »Oh, liebste, beste Mutter Lohmann, nun muß sich alles wenden,« schluchzte sie unter Freudentränen an ihrer Wange.

Mit den tränenumflorten Augen blickte sie durch das offene Fenster in den Garten. Da blinkte die Junisonne, und die Luft war voller Blütenduft, und ein Zitronenfalterpärchen machte ein Hochzeitstänzchen, und die Schwalben mit den schimmernden Flügeln schossen durch die Luft, und in den Büschen sangen die Vögel. Und alle diese Frühlingsherrlichkeit leuchtete nach sieben langen, bangen, dunklen Tagen zum erstenmal in den jungen Augen wieder. –

Wer ist denn das, der da jenseits des Gartenzaunes über den Hof geht? Ach, das ist ja Lohmanns Hinrich. Was ist der für ein starker, stattlicher Mensch geworden! Was für eine gelenkige, sehnige Kraft zeigt sich in seinen Bewegungen! Der muß die freudige Nachricht doch auch haben. Ihm verdankt sie ja dieses treue Pflegemütterlein, das ihr die schreckliche Zeit hat ertragen helfen.

»Mutter Lohmann, ich muß eben mal mit meiner Freude in die Sonne,« sagte sie, die Frau warm anblickend, und hinaus ist sie. Hinrich hatte den Hof hinter sich und schritt am Waldessaum auf Lohe zu. Da hörte er hinter sich rufen: »Herr Lohmann, Herr – Loh – mann!« Er blieb stehen und sah sich um. Leichtfüßig wie ein Reh kam die kleine Nachbarin hinter ihm drein. Über ihre zierliche Gestalt huschten abwechselnd die Baumschatten und die Sonnenstrahlen. Er machte einige Schritte ihr entgegen, und nun stand sie vor ihm, hochatmend, die Wangen vom schnellen Lauf gerötet und von einem goldenen Lichtstrahl warm überhaucht: »Lieber Herr Lohmann, eben hat mein Papa die Augen aufgeschlagen und mit mir gesprochen ... Und mit Ihrer Mutter auch!«

Er blickte sie groß an und fragte verwirrt: »So?«

Sie ergriff seine breite Hand. »Das freut Sie doch auch? Nicht?«

»Oh, ganz mächtig freut mich das,« sagte er und drückte und schüttelte ihre kleine Hand.

Als er sie dann losließ, standen sie sich schweigend gegenüber, und die Verlegenheit war wieder zwischen ihnen.

Da plötzlich erhob sich im nahen Busch ein jubelndes Singen, und die beiden wandten den Kopf zur Seite und lauschten: »Da ist die Nachtigall ... wieder,« sagte Hinrich wie im Traum, und dann hörte er, wie eine feine, leise Stimme neben ihm sagte:

»Die Nachtigall, sie war entfernt,
Der Frühling lockt sie wieder,
Was Neues hat sie nicht gelernt,
Singt alte, liebe Lieder.«

Da sah er verstohlen nach ihr hinüber und erschrak. In ihren Augen war wieder das wunderbare Leuchten, das er vor Jahren einmal gesehen und dann überall in der Welt gesucht hatte. Dann hatten die Lider sich über den schönen Sternen gesenkt, und auf den zarten Wangen lag eine dunkle Glut. »Ich muß wieder zu Vater,« sagte sie verwirrt und wandte sich zum Gehen.

Auch Hinrich setzte seinen Weg fort. Als er nach einer Weile zurückblickte, sah er, wie sie langsam dahinschritt, den Kopf nach der Waldseite geneigt, wo das Vöglein noch immer sang, jetzt eben die tiefen, schmerzensvollen Schluchzetöne.

Auch über diesen Tag voll Sonnenschein und Nachtigallensang, voll froher Hoffnung und süßer Erinnerung zog die Nacht ihre dunklen Schleier. Und das Kind saß wieder im matten Schein der Nachtlampe an dem Bett des Vaters. Aber in ihren wachen Augen war noch ein wenig Sonnenschein und in ihrer Seele noch ein leises, liebliches Klingen und Singen vom Tage.

Da schreckte sie plötzlich in ihrem Sinnen und Träumen ein ungewöhnlicher Ton vom Lager des Kranken. Und als sie ihm ins Gesicht leuchtete, gewahrte sie mit Entsetzen die Veränderung, die darin vorgegangen war. Die Lampe entfiel fast ihrer zitternden Hand, und sie sank auf einen Stuhl. Aber die röchelnden Atemzüge, die immer lauter wurden, peitschten sie in die Höhe, sie wankte durch das Zimmer, über die Diele, und nun stand sie mit dem Licht in der bebenden Hand vor Mutter Lohmanns Bett. Die war schon durch das Geräusch der Tür wach geworden, hatte sich halb aufgerichtet, und als sie die in Todesangst herausgestoßenen Worte: »Es ist so schlimm mit Vater, o kommen Sie schnell« hörte, sprang sie aus dem Bett, warf ihr Kleid über und folgte dem Kinde, das schon wieder hinausgestürzt war.

Als sie auf den Flur kam, hörte sie von drüben das schwere Röcheln. Da griff sie sich nach dem Herzen.

Im Krankenzimmer bestätigte ihr der erste Blick, daß hier ein Mensch seinen letzten Kampf kämpfte. Auf der Stirn lag schon das matte Glänzen des letzten kalten Schweißes.

»So war's bei Mutter auch,« sagte das Kind mit starrem Blick in Mutter Lohmanns Augen.

Die nickte stumm und faltete die Hände. –

Mutter Lohmann, wie kam es doch, daß du in den schrecklichen Stunden, die nun folgten, so wunderbar mitfühlen, sorgen, trösten, raten und schaffen konntest? – Nun, du bist eine deutsche Frau und Mutter, mit der ganzen Herzenseinfalt und Gemütstiefe, die der Herrgott den rechten deutschen Frauen und Müttern nun einmal mitgegeben hat. Aber das tat's nicht allein, wie kam es denn? Du hast ja nicht viel gelernt. Dein alter braver Schulmeister wußte selbst nicht viel, und sogar der hat über dein Rechnen und deine Aufsätze manchmal seinen weißen Kopf geschüttelt. Ja, aber du hast alle deine Lebtage treu aus einem alten, alten Buche gelernt, das trotz aller Tagesweisheit die größte, erhabenste, tiefste Weisheit enthält, die uns kleinen Menschen erreichbar ist. Und du bist alle deine Lebtage die treue Schülerin dessen gewesen, der die Menschen gelehrt hat, ihre Seelen und andere Seelen zu finden. Das machte es. Darum konntest du ein armes, unerfahrenes, verzweifelndes Menschenkind so durch diese Stunden geleiten, du liebe, treue, gute Seele du.–

Vier Tage später hielt vor dem Kirchhofstor in Wiechel ein Leichenwagen. Und dann setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Die Singjungen, Pastor und Küster voran, darauf der Sarg, dann die Tochter des Verstorbenen an der Seite der mütterlichen Freundin, endlich ein stattliches Gefolge, so bewegte er sich die Lindenallee entlang. Die Bauern alle hatten den Fremden und Fremdartigen nicht leiden mögen, aber die hehre Majestät des Todes ließ das vergessen, und mit ernsten, teilnehmenden Gesichtern erwiesen sie dem Preußen die letzte Ehre.

Lohmanns nahmen das verwaiste Kind mit auf ihren Wagen und fuhren heim. Als sie an Delmsloh vorüberkamen, fiel dem Bauern plötzlich seine wilde Nachtfahrt von der Reichstagswahl ein, und er dachte daran, wie er damals den Abzug des Nachbarn zu feiern sich vorgenommen hatte. Es war anders gekommen, ganz anders. –

In Lohe angelangt, bat Lohmann das Mädchen, mit ihm in die beste Stube zu kommen. Als sie in dem altersschwachen Sofa Platz genommen hatte, sagte er: »Fräulein, meine Frau hat mir gesagt, was Sie in der Nacht, als Ihr Vater gestorben ist, miteinander besprochen haben. Es tut mir leid, daß Sie gar keine Verwandte haben, die Ihnen näher stehen, und die wohnen ja auch alle zu weit weg. Deshalb will ich Ihre Sachen wohl in Ordnung bringen. Nach dem Gesetz müssen Sie für ein Jahr, bis Sie majorenn sind, einen Vormund haben, und das muß ich ja denn wohl werden. Wenn's Ihnen recht ist, machen wir die Sache gleich in den nächsten Tagen auf dem Amtsgericht in Ordnung. Bleiben Sie ruhig hier bei uns, bis wir weiter sehen. Das ist für Sie besser, als wenn Sie allein in Delmsloh hausen und immer wieder an die schreckliche Geschichte erinnert werden. Ihren Hof verwalte ich mit von hier aus.«

Sie ergriff stumm seine Hand und sah ihn dankbar an.

Mutter Lohmann war es nicht leicht geworden, ihren Mann zu diesem Entschluß zu bewegen. Er meinte, er hätte nun seine Christenpflicht an dem fremden Volk getan, und daß er die schwere Pflicht eines Vormundes unter wahrscheinlich sehr schwierigen Verhältnissen auf sich nehmen sollte, könnte kein Mensch von ihm verlangen, Aber seine Frau verlangte es doch und ließ nicht locker. Der Herrgott hätte ihnen in den langen Jahren ihrer Ehe so viel Gutes getan; ob er denn meine, den Dank dafür könnte er mit ein paar Talern jährlich für die armen Heiden gutmachen? wer denn ihr Nächster sei? Jetzt doch wohl ganz gewiß das arme verlassene Waisenkind, das in der Welt keinen habe, der sich seiner annehmen könnte? Endlich hatte Lohmann gebrummt: »Na, denn man to,« und damit war die Sache erledigt.

Frau Lohmann räumte ihrer neuen Hausgenossin das leerstehende Altenteilerstübchen ein. Aus Delmsloh wurde eine Zimmereinrichtung herübergeschafft, und die kleine Stube, in der seit Generationen die Großväter und Großmütter des Lohhofes ihre Enkelkinder auf den Knien gewiegt hatten, wurde ein trauliches Heim für Vater Lohmanns Mündel. Durch die kleinen Fensterscheiben fiel der Blick in den verwilderten Garten. Frau Lohmann hatte nichts dagegen, daß Else bald mit ordnender Hand hier eingriff und ein Blumenbeet anlegte, das sie mit Delmsloher Pflanzen besetzte.

Sie ging der Hausfrau fleißig zur Hand. In unverdrossener Arbeit suchte sie über den Schmerz, der mit jedem Morgen neu erwachte, hinwegzukommen. Manchmal geschah es, daß die Hausfrau Arbeiten, die sie eben angreifen wollte, getan fand, zuweilen auch solche, die sie nicht erwartete oder kaum kannte. Als der Pastor einmal vorsprach, fand er das ganze Haus in peinlicher Ordnung und Sauberkeit, obgleich sein Kommen nicht avisiert worden war. Das herzliche Verhältnis, das in schweren Stunden geschlossen war, blieb zwischen ihnen ungetrübt bestehen.

Ganz anders gestaltete sich das Verhältnis zwischen Vormund und Mündel. Es war und blieb überaus kühl. Lohmann war meist sehr zugeknöpft und einsilbig. An manchen Tagen waren die Tageszeiten das einzige, was zwischen ihm und Else gewechselt wurde. Sie hatte Respekt vor seinem sicheren, männlichen Wesen, aber sie fühlte, daß es unmöglich war, ihm menschlich näherzukommen. Manchmal bei Tisch, wenn sie in bester Absicht etwas gesagt hatte, bemerkte sie in seinem Gesicht auch nicht die geringste Spur von Zustimmung oder Interesse. Ja, nicht selten bildeten sich dann auf seiner Stirn Falten des Unwillens, ohne daß sie auch nur den geringsten Grund dafür hätte finden können. Und dann gingen Mutter Lohmanns Augen immer so ängstlich zwischen ihr und ihrem Manne hin und her.

Hinrich war bis auf die Augen, die er von der Mutter hatte, ganz des Vaters Ebenbild. Das sah man recht, wenn sie nebeneinander am Tisch saßen. Der scharfgeschnittene Mund, der widerwillige Haarwirbel am Scheitel, die Art, zu essen, zu sprechen und zu lachen – das letztere war jedoch sehr selten – in allem war Hinrich der Sohn seines Vaters, nur daß er neben ihm einen sehr unselbständigen, fast verlegenen Eindruck machte. Auch im Schweigen eiferte er ihm sehr erfolgreich nach. Das junge Mädchen konnte sich kaum vorstellen, daß dieser Hinrich derselbe sein sollte, den sie vor zwei Jahren gekannt hatte. In Gegenwart der anderen sprach er kein Sterbenswörtchen mit ihr, und wenn er sie einmal allein traf, sagte er entweder auch gar nichts, oder er brachte ein paar fade Allgemeinheiten über das Wetter oder über die Arbeit, die draußen gerade an der Reihe war, zustande.

Mehr und mehr wurde ihr der Aufenthalt auf dem Lohhof drückend, und sie hatte den Eindruck, daß die Familie nicht anders empfand. Als sie einmal zufällig hörte, daß der Bauer zu seiner Frau sagte, er wollte aber nun bei der Hitze zum Essen keine Jacke mehr anziehen, und als er dann in Hemdsärmeln am Tisch erschien, kam es ihr zum Bewußtsein, daß Lohmanns sich ihretwegen manchen Zwang auferlegten, unter dem sie seufzten, schon das Hochdeutschsprechen war ja ein solcher. Das Sprachengewirr, das nun im Hause herrschte – sie sprach immer hochdeutsch, Mutter Lohmann immer plattdeutsch, die Männer mit ihr hoch, untereinander und mit der Mutter platt – hatte etwas Ungemütliches. Nein, sie paßte in diesen Kreis gar nicht hinein und fing an, sich fortzusehnen.

Freilich, sie mußte ja warten, bis ihre Vermögensverhältnisse einigermaßen geordnet waren. Sie begriff nicht, wie das so lange Zeit in Anspruch nehmen konnte, wiederholt war der Vormund auf dem Amtsgericht gewesen, und halbe Tage arbeitete er in Delmsloh an dem Schreibtisch ihres Vaters. Einmal erkundigte sie sich vorsichtig bei Frau Lohmann über den Stand ihrer Angelegenheiten. Aber die wußte nicht mehr als sie selbst. Solche Dinge machte ihr Mann für sich ab und sprach nicht darüber, bevor alles klipp und klar war.

Endlich, etwa sechs Wochen nach des Vaters Tode, forderte Lohmann nach dem Abendsegen das Mädchen auf, mit ihm in die gute Stube zu gehen. Das Herz klopfte ihr, als sie ihm folgte und er einen blauen Umschlag mit Akten öffnete. Ihr Vater hatte nie mit ihr über seine Vermögensverhältnisse gesprochen. Sie hatte aber daraus, daß er ein Gut wie Delmsloh hatte kaufen können, den Schluß gezogen, daß sie recht gut sein müßten.

Vater Lohmann blätterte hin und her, räusperte, und endlich begann er: »Ich bin nun so weit, daß ich einigermaßen sehen kann, wie Ihre Vermögenssachen liegen. Was Ihr Vater war, der hat Delmsloh mit schweren Hypothekenlasten übernommen, und es ist ihm in diesen ersten Jahren – aller Anfang ist schwer, und vor allem für den Landwirt, wenn erst so viel angeschafft werden muß – nicht ganz leicht geworden, die Zinsen rechtzeitig zu bezahlen. Nun fragt sich, was wir mit Delmsloh anfangen, selbst bewirtschaften können Sie's nicht. Daran ist natürlich gar nicht zu denken, wenn Sie den Hof verpachten, wird die Pacht kaum langen, daß Sie die Hypothekenzinsen damit bezahlen, wenn Sie aber verkaufen, behalten Sie – na, wollen mal sagen so'ner zweitausend Taler übrig; wenn's gut geht, wohl noch ein paar hundert Taler mehr. Ich habe mir das alles genau überlegt, und öfter als einmal, und da muß ich sagen, ich rate zum Verkauf...«

Else war sehr erschrocken. Mit einer Null mehr hatte sie bestimmt gerechnet. Aber sie ließ sich nichts merken. Nun verstand sie auf einmal, warum der Vater oft so sorgenvoll ausgesehen und so tief in die Nacht hinein gerechnet hatte. Als der Bauer geendet hatte und sie fragend ansah, antwortete sie scheinbar ganz leicht und ruhig: »Ja, ich muß Delmsloh verkaufen, das sehe ich ein. Und wenn's auch kein Zwang wäre, ich wollte es doch nicht behalten. Ich hänge gar nicht daran, ich habe da nur wenig frohe Stunden verlebt. Bitte, verkaufen Sie es für mich! Und dann wollte ich noch eins sagen,« – sie zog ein ›Hannoversches Sonntagsblatt‹ aus der Tasche – »ich muß mir ja nun mein Brot bei anderen Leuten verdienen, und hier wird ein junges Mädchen als Stütze der Hausfrau gesucht. Ich glaube, dieses wäre etwas für mich. Ich mag Ihnen, die Sie so viel für mich getan haben, nun auch nicht länger im Wege sein.«

»Was wollen die Leute denn ausgeben?« fragte der Bauer, der immer gleich auf die Hauptsache ging.

»Für den Anfang zweihundert Mark,« antwortete sie.

»Hm, hm,« machte Lohmann, »das ist genug für so'n junges Ding. Und wo sind sie zu Hause?«

»Nicht weit von Göttingen,« lautete die Antwort, »auf einem kleinen Gute.«

Der Bauer nahm das Blatt zur Hand und las die Annonce bedächtig durch. Dann nickte er und sagte: »Familienanschluß und freundliche Behandlung wird zugesichert – ja, das möchte wohl was sein.«

Mutter Lohmann wurde hereingerufen und der neue Plan ihr mitgeteilt. Als sie davon hörte, erschrak sie und rief: »Wat, du wullt uns verlaten? Gefallt di dat denn hier nich mehr?« Aber ihr Mann plinkerte ihr heimlich mit den Augen zu. Da lenkte sie ein und sagte nachdenklich: »Jajija, wat schall ener darto seggen, de Sake is doch woll nich van de Hand to stöten. Wi möt se erst mal beslapen... Ick will nich seggen... abers morgen is ok noch 'n Dag.«

Das junge Mädchen hielt es nicht mehr für nötig, noch eine Nacht über der Sache zu schlafen, sie zog sich auf ihr Zimmer zurück und schrieb an die Frau, welche die Stütze suchte, einen langen Brief, in welchem sie ihre Verhältnisse darlegte und zum Schluß dringend um Berücksichtigung bat.

Sie hatte bei dem Schreiben das Gefühl, als ob sie von ihrem in den Wellen kämpfenden Lebensschifflein den Rettungsanker auswürfe. Dann ging sie zu Bett und schlief beruhigt ein.

Mutter Lohmann beschlief die Sache, das heißt: sie durchgrübelte sie die halbe Nacht. Auch sie kam zu der Überzeugung, daß es das beste wäre, wenn Else die Stelle annähme. In der Fremde, unter neuen Verhältnissen und bei neuen Pflichten würde sie am ersten den schweren Schlag überwinden. Da war für so eine auch mehr Abwechselung als auf dem einsamen Bauernhof in der Heide. Sie war nun einmal nicht bei den Bauern groß geworden, und es war besser, wenn sie wieder zu ihresgleichen kam. Auf die Dauer war es auch für den Lohhof ungemütlich, wenn so eine Fremde, die nicht recht hineinpaßte, zur Familie gehörte. Endlich schlief auch sie beruhigt ein.

Mit wendender Post erhielt Else die Antwort, daß sie die Stelle in vierzehn Tagen antreten könne.

Als sie ihrem Vormund diese Nachricht überbrachte, sagte er gelassen: »Joo... das ist ja denn man gut.« Es entging ihr nicht, daß dabei in der Tiefe seiner grauen Augen die Freude vergeblich sich zu verbergen suchte. Und von Stund' an war er stets sehr liebenswürdig gegen sie, soweit seine Natur das zuließ.

Mutter Lohmann erschrak bei der Kunde. Aber sie beruhigte sich schnell und meinte: »Wenn't Gott's Will is, well't woll dat Beste wän. Achjajija, so is dat in't minschliche Lewen: dat kummt und dat geiht...« Und in den nächsten Tagen erschienen immer Elses Lieblingsspeisen auf dem Tisch.

Mit Hinrich sprach Else nicht über ihre nahe Abreise. Er hatte ja, seit sie in Lohe war, für ihre persönlichen Angelegenheiten nie auch nur das geringste Interesse gezeigt. Einmal, als sie allein in der Stube waren, fragte er: »Nun wollen Sie weg von uns?« Sie ärgerte sich über den steifen, langweiligen Ton dieser Frage und sagte kurz »Ja,« ohne von ihrer Handarbeit aufzusehen. Er sagte denn auch nichts weiter und ging bald hinaus. Da blickte sie auf und murmelte hinter ihm her: »Bauer!«


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