Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht hörten nicht auf und gaben dem Leben des Lohhofes seine Ordnung und seine Arbeit wie immer. Und doch, wie hatte es sich von Grund aus geändert!

Die Eltern sprachen von ihrem Ältesten, der im Zorn von ihnen gegangen, nicht mehr. Auch hierin hatte die Frau sich endlich unter den Herrenwillen ihres Mannes gebeugt, nach heißen Kämpfen gegen ihn und gegen das eigene Herz, daß sie seinen Namen nicht mehr erwähnte.

Um so mehr gedachte sie seiner, wenn der Vater die Worte des Abendsegens sprach: »Ich befehle mich dir, meinen Leib und Seele und alles was ich habe, in deine Hände«, dann flog ihr Gebet niemals von der Hausgemeinde, die mit ihr um den Tisch saß, auf direktem Wege zum Herrgott, sondern immer mit dem Umwege über Hannover. Denn der Junge da in der großen Stadt, zwischen all den schlechten Menschen, dachte sie, hatte es am nötigsten, nötiger als die Kinder, die mit ihr um den Tisch saßen, daß sie ihn dem großen Menschenhüter über den goldenen Steinen so recht warm in die Hände befahl. Und zuweilen, und mit der Zeit immer öfter, geschah es, daß ihre betenden Gedanken von Hannover noch weiter südwärts flogen, in das Göttingensche, und von dort noch ein einsames junges Menschenkind mit hinaufnahmen, um es dem Herrgott in seine weitgeöffneten Arme, an sein großes Vaterherz zu legen. Da waren die beiden denn vereinigt, die der harte Wille seines »Stellvertreters auf Erden« auseinandergerissen hatte.

Es war ein Glück, daß Mutter Lohmann in dieser schrecklichen Zeit den einen hatte, mit dem sie über ihren Lieblingsjungen, des Vaters verlorenen und aufgegebenen Sohn, reden konnte, sonst hätte sie es wohl nicht ausgehalten.

Der Winter kam, und mit ihm auch wieder, von Sniederkorl und Schosterchristoffer, die diesmal merkwürdig einsilbig waren, vorbereitet, das liebe Weihnachtsfest. Oh, dieses Fest! Ein solches hatte Mutter Lohmann noch nicht erlebt. Zwar der Tannenbaum glänzte wie alljährlich im Schmuck der Papierrosen, Äpfel, Zuckerkringel und Lichter, und die Kinder sangen wieder: »Freue, freue dich, o Christenheit!« Aber was da in Mutter Lohmanns Augen so feucht glänzte, das hatte mit Freude nichts zu tun. Sie war mit ihrem Manne in Wiechel zur Christvesper gewesen. Aus dem Evangelium, aus singendem Kindermund und aus der Predigt des alten Pastors hatte es geklungen, vom Transparent der Krippe, von der Girlande des Christbaumes und aus glückseligen Menschenaugen hatte es geleuchtet: »Friede und Freude auf Erden.« Aber sie gehörte nicht zu denen, die sich freuen konnten. Sie gehörte zu der großen, ungezählten Schar derer, für die der alte ehrwürdige Mann, dessen Silberhaar im Weihnachtslicht glänzte wie das Engelhaar am Christbaum, vor dem Altar betete: »Laß heute in den Herzen aller Angefochtenen, Kranken, Verfolgten, Witwen und Waisen und aller anderen, so in Not und Trübsal stecken, eine tröstliche Christfreude aufgehen.« Und sie wußte, auch zwei Menschen in der Ferne, die ihrem Herzen so nahe standen, gehörten zu dieser großen Schar. Und die »tröstliche Christfreude« hatte gar nicht zu ihr kommen wollen, so innig sie für sich und ihre Lieben in der Ferne mitgebetet hatte. Und jetzt saß sie mit ihrem wehen Herzen daheim unter dem Christbaum. Als die Kinder und die Leute nun sangen: »Freue, freue dich, o Christenheit,« und als ihr Blick auf ihren Mann fiel, der seine kurze Pfeife im Munde hatte und finster vor sich hin paffte, da hielt sie es nicht mehr aus. Sie verließ die Stube und ging über die Diele in Hinrichs Kammer, die sie dann hinter sich abriegelte. Dort stellte sie sich ans Fenster, drückte die Stirn gegen die kalten Scheiben, sah hinaus in das Schneeflockengewirbel draußen und weinte sich satt. Endlich, endlich fiel doch ein tröstlicher Gedanke in ihr Herz. Heute morgen war bei dem Jungen sicher ihr Paket angekommen. Was hatte der wohl für Augen gemacht, als er alle die Schätze auspackte, den halben Klöben und das Viertel eines Butterkuchens und die würzigen Prinzäpfel und die fette Gänsebrust und den tüchtigen Schinken! Und die Strümpfe, die sie noch eben mit genauer Not hatte fertigstricken können, zog er gewiß morgen früh gleich an. In dem eintretenden Schneewetter kamen sie ja gerade recht. – Eine kleine »tröstliche Christfreude« ging da also doch noch in Mutter Lohmanns Herzen auf.

Und Vater Lohmann, der währenddessen drüben unter dem Tannenbaum sich in dicke Tabakswolken eingehüllt hatte, vermißte er heute abend seinen Hinrich gar nicht? Ist's ihm recht, wie alles gekommen ist, seit jener Szene im Walde? Wie er eigentlich über die Sache denkt, weiß keiner. Einen Freund, mit dem er über Familienangelegenheiten sprechen würde, hat er nicht. Und seine Frau ist in dieser Angelegenheit seine Vertraute durchaus nicht. Sie ist eben in ihren Jungen geradezu vernarrt. Einige Wochen vor Weihnachten hat sie auf einmal angefangen, ein Loblied auf die Fremde zu singen, die sie ihm als Mündel aufgeschnackt hatte, und von der ja dieses ganze Unglück herkam. Da hat er nur schnell abgebrochen, sonst hätte er wohl noch hören müssen, daß dieses Wunderkind am Ende doch eine ganz gute Frau für den abstinatschen Bengel, den Hinrich, wäre. Vater Lohmann hat da wieder einmal bestätigt gefunden, daß auf das Weibervolk mit den langen Haaren und dem kurzen Verstand doch gar kein Verlaß ist. Erst war Mutter in dieser Sache ganz mit ihm auf einem Stück gewesen. Nun konnte ihretwegen schon die Fremde als junge Frau auf Lohe einziehen. –

Um die Zeit, wenn der Winter auf dem Abmarsch ist, haben die Wiechler ihren Frühjahrsmarkt. Bei dieser Gelegenheit traf Lohmann mit einem alten Bekannten aus dem benachbarten Kirchspiel zusammen. Der Mann machte große Augen und sah ihm befremdet ins Gesicht. »Minsch,« sagte er und schlug die Hände zusammen, »wat warst du old! Din Haar is ja ganz gries worrn.« »Ach wat, dumm Tüg!« antwortete dieser wegwerfend, »ick bin noch 'n jungen Keerl!« Aber er fühlte dabei, daß er rot wurde. Denn er hatte gelogen. Er wußte recht gut, daß er in diesem Winter sehr gealtert hatte. Das erklärte er sich freilich mit seinen Jahren und mit der Natur, aber es war eine leise Stimme in ihm, die sagte, daß es davon allein jedenfalls nicht käme.

Ja, der Bauer war ein anderer geworden. Das fühlten die Kinder, die ihrem Vater fremder wurden. Und noch mehr hatten die Dienstboten darunter zu leiden. Mit dem Herrn war nicht mehr so gut auszukommen wie früher, vor allem der Knecht, der in Hinrichs Stelle bei den Pferden eingetreten war, hatte einen schweren Stand. Ein verdrossener, unfroher Geist griff in Lohe um sich.

»Ja, er hat einen gar zu harten, eigenen Kopf,« das fanden jetzt alle, auch die Gemeindegenossen im Bauermal. Nur Mutter Lohmann glaubte noch an sein gutes, weiches Herz – mit der Liebe, die alles glaubt. Und mit der Liebe, die alles hofft, hoffte sie noch immer, daß endlich das Herz über den harten, steifen Kopf den Sieg davontragen würde.

Wenn's doch einen Menschen gäbe, der diesen harten, steifen Kopf einmal zwischen seine Hände nähme und so lange bearbeitete, bis er weich würde! Wenn's doch einen gäbe, der einmal dem guten Herzen, an das Mutter Lohmann so felsenfest glaubt, zu Hilfe käme, daß es nicht sofort immer wieder von dem harten Kopf zum Schweigen gebracht wird, daß es sich endlich einmal von der Tyrannei eines starken Willens freimachen konnte! Aber wer wollte einem großen Bauern, der zweitausend Morgen besitzt und sein ganzes Leben immer gewußt hat, was er zu tun und zu lassen hatte, an den Wagen fahren? Wer will sich an anderer Leute Feuer die Finger verbrennen? Überdies standen ja Lohmanns sämtliche Bekannte ganz auf seiner Seite. Dem revolutionären Geist, den Hinrich in der wichtigsten Sache des Lebens, der Freierei, gezeigt hatte, wollte keiner das Wort reden.

Vater Lohmann fühlte sich nach dieser Seite hin ganz sicher. Nur einen einzigen Menschen kannte er, dem er es allenfalls zutrauen konnte, daß er eine Einmischung in seine Familienangelegenheiten versuchen möchte. Das war sein alter Pastor in Wiechel. Lohmann schätzte den Einundsiebzigjährigen sehr. Wenn er von der Kanzel die Sünden strafte, konnte es ihm gar nicht scharf und deutlich genug kommen. Und er wandte das Gehörte auch nicht nur auf die lieben Mitmenschen an, sondern bezog es auch ganz willig auf die eigene Person, soweit es paßte. Das war auch seit dem letzten Herbst nicht anders geworden. Wenn sein Sonntag war, saß Lohmann würdevoll und demütig zugleich in seinem Kirchenstand, würdevoll vor den Menschen, weil er ein großer Dollhöfner war, und demütig vor seinem Gott, weil er wußte, daß er vor dem nicht mehr war als die andern alle, und daß der ihm durch die Worte seines greisen Seelsorgers ebensoviel zu sagen hatte als den kleinen Leuten.

Dagegen legte er jetzt weniger Wert auf den persönlichen Verkehr, der sonst zwischen seiner Familie und dem Pfarrhause bestanden hatte. Er war sich doch nicht sicher, ob der alte Herr unter vier Augen der Versuchung widerstehen würde, sich in seine Familienangelegenheiten zu mischen. Und das wünschte er trotz allem Vertrauen, das er zu ihm hatte, nicht. Gottes Wort hatte so ein Pastor studiert, dafür war er angestellt, darin mußte man ihm folgen. Aber die bäuerlichen Verhältnisse kannte er nicht, weil er eben kein Bauer war. Da legte er denn leicht Maßstäbe an, die überall sonst passen mochten, bloß nicht für den Bauernstand. Und es war doch unangenehm, dem alten Manne, der es ja herzlich gut meinte, in irgendeiner Form zurufen zu müssen: »Schuster, bleib bei deinem Leisten; Sie sind 'n studierter Mann, aber hiervon verstehen Sie nichts.« Das widersprach denn ja auch der Achtung, die man dem Amte schuldig war.

So etwa philosophierte Jürgen Lohmann und rechtfertigte sich damit, daß er seinem Pastor aus dem Wege ging. Er wollte dem Alten fruchtlose Worte und Unannehmlichkeiten ersparen. Als er im Spätsommer eines Tages vom Felde aus sah, daß der alte Herr auf seinen Hof zustrebte, zog er sich in den Wald zurück, und Diedrich, der ausgeschickt wurde, ihn zu holen, konnte sich heiser schreien. Vater Lohmann in seinem Versteck kam sich dabei freilich ein wenig vor wie ein Schuljunge, der sich vor der Rute des gestrengen Herrn Lehrers versteckt, aber nachher war er kaum weniger froh wie so 'n Schlingel, daß ihm das so gut gelungen war.

Aber der Herr Lehrer faßt den ungezogenen Schlingel schließlich doch einmal, und Vater Lohmann lief einige Tage später, als er in Wiechel eine Besorgung zu machen hatte, seinem alten Pastor auf der Dorfstraße just in die Arme.

»Guten Tag, lieber Lohmann, wie mir das lieb ist, daß ich sie treffe! Wir haben uns so lange nicht gesehen,« sagte der würdige Herr hocherfreut, indem er den Bauern bei der Hand ergriff.

»Oh, Herr Pestohr, ich kriege Sie jeden andern Sonntag zu sehen,« meinte dieser.

»Natürlich, in der Kirche! Aber ich meine so unter uns, so gemütlich. Leider habe ich Sie neulich nicht zu Hause getroffen.«

Lohmann war in der konventionellen Lüge nicht bewandert genug und auch zu ehrlich, um mit der Versicherung seines Bedauerns zu antworten. Er sagte nichts.

»Ich gehe gerade zum Kaffeetrinken,« fuhr der andere fort, »Sie kommen natürlich und trinken ein Köppken mit.«

»Is dankenswert, Herr Pestohr, aber ich wollte woll nach Hause,« erklärte Lohmann, zur Turmuhr aufsehend. »Es ist schon drei Uhr.«

»Also noch früh am Tage und just Kaffeezeit,« berichtigte der Pfarrherr und schob seinen widerwilligen Kaffeegast sanft vor sich her in das nahe Pfarrhaus.

Hier wollte er ihn eben in das Familienzimmer führen, als er sich plötzlich besann und die Tür der Studierstube öffnete: »Bitte, treten Sie hier ein! Meine Frau ist erkältet und kann das Rauchen nicht vertragen.«

Lohmann hätte gern die Tasse Kaffee im Kreise der Familie eingenommen und auf die Zigarre verzichtet. Aber da war ja nichts zu machen.

»Na, die Ernte gut 'reingekriegt?« fragte der Pastor, als sie Platz genommen hatten.

Lohmann gab einen sehr ausführlichen Bericht.

»Nun geht's wohl bald wieder ins Heu?«

Und Lohmann berichtete wieder sehr eingehend über das Nachgras. Und dann über die Kartoffelaussichten.

Die Wanduhr zeigte ihm an, daß fast zehn Minuten mit diesen Gesprächen ausgefüllt waren, er trank schon die zweite Tasse und konnte sich also bald mit Schick empfehlen. Und just hatte er sich einen guten Abgang ausgedacht, – er wollte der Frau Pastorin bestellen lassen, sie möchte für nächsten Sonntag kein Fleisch kaufen, die Hühnerjagd werde übermorgen eröffnet, und da wollte er ihr gleich am ersten Tage eine kleine Mahlzeit schicken – da sagte der alte Herr auf einmal: »Lieber Lohmann, ich wollte schon immer mal gern mit Ihnen sprechen von wegen Ihrem Jungen.«

Also doch! Wenn er's nicht schon immer geahnt hätte!

Aber noch versuchte Lohmann dem Gespräch eine Wendung zu geben: »Ja, Herr Pestohr, der muß nun auch nächstens zur Musterung. Mich soll verlangen, ob der Preuße den nicht mal laufen läßt. Er meint, er hat Krampfadern. Sollte er darauf wohl freikommen?«

»Ach soo, von Ihrem Zweiten sprechen Sie ... Ich meine den Ältesten, Ihren Hinrich.«

»Bitte, lieber Herr Pestohr, von dem wollen wir lieber nicht sprechen ...«

»Warum nicht? Ich habe den Jungen immer gern gehabt, als Konfirmanden schon. Auch in den Flegeljahren war er erträglich. Und die Soldatenjahre hatten ihm gar nicht geschadet, sondern ihn erst recht zu einem prächtigen Jungen entwickelt.«

Lohmann rückte auf seinem Stuhl hin und her. »Jeao, Herr Pestohr,« sagte er, als dieser schwieg und ihn fragend ansah, »Sie haben ganz recht, ein guter Junge ist er gewesen, ... bis wir durch unsere christliche Gutmütigkeit an das Delmsloher Fräulein zu sitzen gekommen sind. Wie er die zu sehen gekriegt hat, hat er alles vergessen, was seine leiblichen Eltern ihm Gutes getan haben, und hat ihnen einfach den Gehorsam aufgesagt. Und nicht wahr, Gehorsam muß doch sein im Hause, Herr Pestohr? Das predigen Sie ja auch immer.«

»So ... Wenn Sie nicht mehr zubeißen mögen, nehmen Sie sich eine Zigarre, und ich stecke mir eine Pfeife an,« sagte der Pastor.

»Is dankenswert, und denn will ich damit man nach Hause dampfen,« sagte Lohmann, indem er sich erhob und gezwungen lächelte.

»Ach nein,« rief der andere, der eben die Zigarrenkiste vom Bücherbort nahm, »dies sind keine Feld-, Wald- und Wiesenflüchter. Diese Sorte muß mit Verstand im Armstuhl geraucht werden.« Dabei drückte er seinen Gast wieder in den Stuhl.

»Und nun sagen Sie mal,« – er reichte ihm dabei ein brennendes Streichholz – »was hatten sie eigentlich gegen das Mädchen, die Else Riewitz?«

– So, Jürgen Christoffer Lohmann, jetzt gib deine Ausflüchte nur auf und steh deinen Mann! –

Bislang hatte Lohmann in seinem Stuhl gesessen wie ein Vogel, der jeden Augenblick auffliegen will. Jetzt setzte er sich recht fest und breit hinein, blies eine dicke Wolke Zigarrenrauch von sich und sagte:

»Was ich gegen das Fräulein habe? Das will ich Ihnen ganz genau sagen, Herr Pestohr. An und für sich gar nichts. Sie mag für ihre Art ein ganz vernünftiges Frauensmensch sein. Bloß ist sie keine Frau für meinen Hinrich.«

»Warum nicht?«

Der Bauer faßte sich mit der rechten Hand den Daumen der linken und sagte: »Erstens sie hat zu viel Bildung, sie ist von zu hohen Herkünften, und so was paßt nicht auf 'n Bauernhof. Sie wissen ja, Herr Pestohr, wie mein alter Freund und Nachbar Schorse mit so einer zu Schick gekommen ist. Herr Pestohr, warum muß der heute Droschkenkutscher in Neuyork spielen?«

»Ach ja, da hatte die Frau wohl Schuld. Aber so braucht's doch nicht immer zu gehen. Ich finde eigentlich nicht, daß solche früheren Inspektoren und Verwalter so turmhoch über unseren alten Großbauerngeschlechtern stehen, wenn sie auch hochdeutsch sprechen und sich anders kleiden.«

»Aber Herr Pestohr, Sie müssen bedenken: die ganz andere Auferziehung ... das Französische und denn das hebräische ...«

»Ach wat, min Fründ, mit de Sprak van de olen Juden brukt blot wi pastorens us to quälen,« lachte der alte Herr.

»Na, wenn das auch nicht! Aber doch ist die Auferziehung so ganz anders als bei unsereins.«

»Na ja, das gebe ich zu. Aber bei einem Menschenkinde, das überhaupt Erziehung annimmt, erzieht die Liebe in der Ehe noch immer tüchtig nach. Und wenn die beiden sich wirklich liebhaben, würde die Liebe dem Mädchen am Ende auch helfen, daß es sich in die fremden Verhältnisse einlebt.«

»Ach, Herr Pestohr, was die sogenannte Liebe ist, da zähle ich nicht ganz viel auf.«

»Aber, bester Lohmann, haben Sie denn Ihre Frau nicht lieb?«

»Herr Pestahr, so müssen Sie das nicht verstehen. Meine Frau und ich, wir wissen wohl, was wir aneinander haben. Ich meine man, bei den jungen Leuten. Erst brennt's lichterloh, zuletzt ist da nichts als eine handvoll graue Asche. Erst tun sie, als ob sie direktemang miteinander in den Himmel fliegen wollten, und nachher machen sie sich das Leben zur Hölle. Glauben Sie mir, mein lieber Herr Pestohr, ich habe das alles miterlebt bei meinem Freund Schorse und seiner Carnelia, wie sich das Mensch nannte.«

»Ja, das kommt leider so vor,« sagte der Pastor nachdenklich.

»Sehen Sie! Das wollte ich ja man sagen!« triumphierte der Bauer.

»Aber Sie zählten vorhin: Erstens. Was ist denn der zweite Grund?« fragte der andere.

Lohmann faßte seinen Zeigefinger.

»Zweitens,« sagte er zuversichtlich, denn er hatte bei Numero Eins ja so gut abgeschnitten, und sein zweiter Grund mußte bei einem Pastoren noch besser durchschlagen: »Die Leute waren aus Ostpreußen. Da herrscht ja die Union, und Religion hatten sie überhaupt wohl nicht viel. Meinen Nachbar kriegte man ja höchstens so um Kaisersgeburtstag herum mal in der Kirche zu sehen, und dann hat er auch wohl mehr den Kaiser angebetet als den lieben Gott ... Und mit der Politik stimmte das natürlich erst recht nicht.«

»Na, die Politik wollen wir bei den Frauensleuten man ganz aus dem Spiel lassen. Und dann, was das andere betrifft ... nun ja, Else Riewitz war nicht jeden zweiten Sonntag in der Kirche. Aber ich habe sie doch ziemlich oft gesehen, und, was die Hauptsache ist, wenn ich sie sah, hatte ich immer den Eindruck, daß sie etwas suchte und mitnahm. Aber ich will Ihnen gern zugeben, daß das junge Ding noch keine Musterchristin ist.«

»Und, Herr Pestohr, das wollte ich doch so gern, daß mein Erbe eine recht christliche Frau kriegte. Darauf kommt ja so viel an, besonders auch für die Auferziehung des jungen Geschlechts.«

»Gewiß, lieber Freund, ich verstehe Sie vollkommen und stimme Ihnen von Herzen zu. Nicht wahr, Sie hatten Ihrem Jungen die älteste Tochter von unserem Freunde Hinken zugedacht?«

»Jawoll, das ist ein tüchtiges, forsches Mädchen ...«

»Und Sie meinen, daß die eine so besonders geförderte Christin ist?«

»Sie stammt von guten, christlichen Eltern.«

»Ja, wenn's das machte!«

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und der Geist Gottes wehet, wo er will.«

»Ja, das hat ja freilich der Herr Christus zu Nikodemus gesagt, der in der Nacht zu ihm kam,« sagte der Bauer nachdenklich. Er mochte es seinem alten Pastor ganz gerne mal zeigen, daß er in der Bibel Bescheid wußte.

»Jedenfalls,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »hat Gretschen mehr vom Christentum weg als die Riewitzsche. Die steckte woll ganz voll von all den alten Gedichtern, aber mit dem kleinen Katechismus war das man hellschen knapp, hat mir meine Tochter Marie man gesagt.«

Der Pastor machte eine abwehrende Bewegung. »Gut, ich habe Ihnen ja schon zugegeben, daß die junge Else Riewitz wohl noch keine Musterchristin ist. Nun erlauben Sie mir mal eine Frage! Wir beide sind ein paar alte Knaben und haben jedenfalls viel mehr von Gottes Freundlichkeit und Güte erfahren, als solch ein Kuck-in-die-Welt. Sagen Sie mal, sind wir denn eigentlich wohl Musterchristen?«

»Das wohl just nicht.«

»Ich bin keiner, und ich glaube, Sie wollen auch nicht behaupten, daß Sie einer sind.«

»Gott bewahre, Herr Pestohr, wir haben alle unsere Fehler, wir sind allzumal Sünder.«

»Wenn Sie sich zum Beispiel diese Sache mit Ihrem Hinrich überlegen,« fragte der Pastor, »haben Sie sich da gar nichts vorzuwerfen?«

»Was ich just nicht wüßte ...,« sagte der Bauer zögernd.

»Auf den Leuteschnack gebe ich nicht ganz viel, aber man munkelt da wunderbare Dinge. Sie hätten sich so weit vergessen, Ihren erwachsenen Sohn im Zorn an den Kopf zu schlagen. Sie hätten ihn einen ›verlorenen Sohn‹ genannt. Sie hätten ihn auf gräßliche Weise verflucht.«

» Das ist schändlich gelogen,« brauste der Bauer auf und wollte auf den Tisch schlagen, besann sich aber noch rechtzeitig, wo er war. »Ich fluche überhaupt nicht, Herr Pestohr, und wer das Gegenteil sagt, der ist ein elender Lügner.«

»Bitte, bleiben Sie ruhig, lieber Freund,« sagte der Pastor sanft, »ich will ja auch nicht glauben, daß an dem ganzen Gerede was Wahres dran ist.«

Dabei sah er den Bauern mit seinen großen, klaren Augen ruhig an. Der hielt diesen Blick nicht aus und sah zu Boden.

»Ich wollte Ihnen ja nur als einem Ehrenmann und Christenmenschen,« fuhr der Pastor fort, »die Frage vorlegen: Möchten Sie vor Ihrem Gott alles verantworten, was Sie in dieser Sache gesagt und getan haben? Können Sie das?«

Steif, den Blick noch immer gesenkt, saß der Bauer vor seinem alten Seelsorger.

»Ja?« fragte dieser noch einmal.

»Nein,« antwortete er kurz und dumpf.

»Es freut mich von Herzen, daß Sie das eingestehen,« sagte der Pastor, sich in seinem Sessel zurücklehnend.

Lohmann fühlte, daß des Alten Augen jetzt nicht mehr so scharf und durchdringend auf seinen Zügen lagen, und atmete auf. Nach einer halben Minute, während welcher beide schwiegen, hob er sich etwas vornüber und sagte: »Herr Pestohr, entschuldigen Sie, daß ich noch einmal das Wort nehme. Aber wir müssen die Sache doch auch nach mal von einer anderen Seite ansehen. In der Bibel will Gott der Herr es ganz und gar nicht leiden, daß die jungen israelitischen Mannsleute sich fremde, ausländische Weiber nehmen. Und wenn sie das doch tun, werden sie von bösen Plagen und Strafen getroffen. Ist das nicht so?«

»Ja, gewiß ... Aber was soll das hier?«

»Na, ich meine doch, was geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben,« sagte der Bauer mit siegesgewissem Blick auf seinen Gegner. Wenn man einen Pastor mit seiner Bibel schlagen konnte, hatte man ja gewonnen' Spiel.

*

Der alte Herr machte sehr große runde Augen, als ob er seinen Ohren nicht traute. Dann lachte er laut auf und schlug mit der Hand auf sein Knie, daß es schallte: »Endlich verstehe ich ... Also unsere Lüneburger Bauern, die treuen Welfen und guten Lutheraner, die sind das auserwählte Volk. Und die andern alle, vor allem aber die Altpreußen, sind die Unreinen, die Heiden! ... Vater Lohmann, wissen Sie, was das ist?«

Vater Lohmann schien es nicht zu wissen. Er schwieg.

»Ich will's Ihnen sagen,« fuhr der Pastor fort, »das ist der allerschlimmste Hochmut, den man sich nur denken kann. Meinen Sie, unser Herr Christus hätte zu dem Zweck allerhand trennende Mauern, Zäune und Schlagbäume niedergerissen, damit wir beigehen, sie wieder aufzurichten? Und nun gar zwischen uns und unsern deutschen Brüdern? Alle Achtung vor einem echten, gesunden Stammesstolz, der sich ererbter Eigenart freut! Aber glauben Sie's Ihrem alten Pastor: solch ein Hochmut ist lächerlich vor Menschen, und vor Gott ein Greuel. Ich weiß ja wohl, ihr Bauern denkt in vielen Stücken noch ganz ähnlich, wie man einst im alten Testament dachte, aber – nehmen Sie mir's nicht übel, lieber Freund – so kraß ist mir das doch noch nie entgegengetreten, wir sehen da mal wieder, wie viel auch die Ehrenwertesten von uns in der Schule unseres einzigen Meisters Christus noch zu lernen und auch zu verlernen haben.«

Der Bauer machte ein verdutztes Gesicht und schwieg. Mit einem studierten Herrn war doch schlecht streiten. Und dieser hatte dazu noch eine so schlimme Art, alles gleich so unangenehm persönlich anzuwenden.

Und schon wieder fing er an. Wie furchtbar gründlich so einer die Sachen nimmt! »Sind das nun alle Gründe, die zwei oder drei, die Sie genannt haben?« lautete des Pastors Frage.

»Die Hauptgründe sind es jedenfalls,« antwortete der andere zögernd.

»So, hm hm,« machte der Pastor. »Sollte denn ein Ding, um das sich sonst im Leben beinahe alles dreht, hier gar keine Rolle spielen? Sie wissen wohl, was ich meine.« Er machte auf dem Tisch die Handbewegung des Geldzählens.

»Wenn Sie so bautz auf den Kopf mich danach fragen,« sagte Lohmann, »ja, der Geldbeutel spricht hier auch mit. Der Bauersmann hat nicht wie Sie, lieber Herr Pestohr, sein schönes, festes Gehalt, das sich immer gleich bleibt, ob fette oder magere Jahre sind. Wenn unsereiner in diesen schlechten Zeiten auskommen will, dann muß er rechnen können. Ich habe vier Kinder, den Hof kann ich nur einem vermachen, aber als Bettler will ich die andern drei auch nicht auf die Straße schicken, und dem Anerben darf ich's auch nicht zu schwer machen. Deshalb muß ich zusehen, daß diesem seine Frau so viel zubringt, als mit den jüngeren Geschwistern vom Hof abgeht. Bloß nach Liebe zu freien, geht bei den Bauern nicht. Davon kann 'n nicht leben. Geld regiert nun einmal die Welt.«

»Und stiftet also auch die Ehen,« ergänzte der Pastor. »Das wird so gemacht: Da kommen die lieben Eltern zusammen und halten die beiderseitigen Geldbeutel gegeneinander. Wenn die wert erscheinen, ineinandergeschüttet zu werden, dann heißt es: Kinder, die Sache stimmt, nun heiratet euch! ... Und dann nehmen sie sich, nicht aus Gottes, sondern aus des Götzen Mammon Hand, und Geld bleibt bei Geld, und Geld kommt zu Geld, und die paar Geldfamilien heiraten in der nächsten Verwandtschaft immer bunt durcheinander, nur damit das Geld schön zusammenbleibt. – Ich bin ein alter Mann, der ziemlich weit herumgekommen ist. Da habe ich alte reiche Bauerngeschlechter aussterben sehen, und ich kenne Bauerndörfer, wo man in den ersten Familien solche Jungkerls, wie Ihren Hinrich, überhaupt nicht mehr findet. Und woher kommt das? von den ver..., hier möchte ich, obgleich ich christlicher Pastor bin, beinahe fluchen – Geld- und Verwandtenheiraten! Wenn wir mal im Kirchenbuch nachsehen wollten, so würden wir sicher finden, daß Ihre Familie mit den anderen großen Bauernfamilien unserer Gemeinde einstweilen genügend verschwägert ist. Da schadet es gar nichts, ist im Gegenteil sehr gut, wenn mal ein Tropfen frisches Blut hineinkommt. Das verdirbt die Rasse sicher nicht. Und wenn da einmal nicht ganz so viel Geld in Ihren Hof kommt, was schadet das? Dann müssen die jungen Leute sich etwas einschränken. Ist ihnen am Ende ganz gesund. Zum Brotbacken wird's ja immer noch langen. –

Und nun endlich noch eins! Wir beide stammen aus einer anderen Zeit. Ich bin einundsiebzig, und Sie? Neu sind Sie auch nicht mehr.«

»Fünfundfufzig,« war die Antwort.

»Sehen Sie, so weit sind Sie auch schon. Na, wir Alten können uns an manches in der neuen Zeit nicht mehr recht gewöhnen. Als mein Junge studierte, und wenn er dann in den Ferien zu Hause war, ach, da war mir manche Ansicht, die er mitbrachte, so fremd und ungewohnt, daß ich oft ganz unglücklich darüber war. Da hab' ich ihm oft zugesetzt, um ihn zu meiner Meinung zu bekehren, und manche böse Stunde hab' ich ihm und mir selbst damit gemacht. Aber später hat der Herrgott mir die Augen darüber geöffnet, daß wir Alten nicht immer mit Gewalt versuchen sollen, die Herzen der Kinder zu uns zu bekehren. Nein, in der heiligen Schrift heißt's einmal, daß die Herzen der Väter sollen bekehrt werden zu den Kindern! Und nun geht's wunderschön, ich habe meine herzliche Freude an meinem Jungen, der in der Hauptsache mit mir übereinstimmt, wenn er auch in manchen Punkten, als Kind seiner Zeit, mit mir altem Knaben nicht übereinstimmt. Lieber Freund, so ähnlich liegt die Sache bei Ihnen und Ihrem Jungen auch. Als Sie jung waren, in der sogenannten ›alten guten Zeit‹, war das wohl so Mode, daß die lieben Eltern durch den Freiwerber die Sache fix und fertig machen ließen, und die Kinder, die Nächstbeteiligten, hatten einfach ja zu sagen. Das wollen heutzutage die jungen Leute nicht mehr, oder höchstens noch die Dröpse, die nicht bis fünf zählen können. Aber was ganze Kerls sind, wie Ihr Hinrich, die lassen sich das nicht mehr gefallen. Die wollen selbst die Augen aufmachen, warum sollen sie auch nicht? Die wollen ihr eigenes Herz fragen. Und ist's nicht besser, wenn die Herzen, als wenn nur die Geldbeutel sich finden? – Also, lieber Lohmann, schicken Sie sich – ich hab's auch tun müssen – in die neue Zeit! Das Rad der Zeit können Sie nicht aufhalten, wenn sie auch ein großer Hofbesitzer sind, und nicht mal der Selbstherrscher aller Reußen kann es. Jeden, der es versucht, zermalmt dieses Rad, das schließlich ja nicht von Menschen, sondern – das ist mein fester Glaube – von unserem Herrgott herumgedreht wird. Ich habe es nicht bereut, diese unnützen Versuche aufgegeben zu haben, und Sie werden es auch nicht bereuen.«

»Jeao,« sagte der Bauer nachdenklich, »Herr Pestohr, Sie sind 'n studierter Mann und kennen die Welt besser als 'n platter Bauer, der auf seinem einstelligen Hofe in der Heide sitzt. Was Sie da gesagt haben, mag ja sonst wohl seine Richtigkeit haben. Aber wenn's man für uns Bauern paßt! Wir können nicht jede neue Mode mitmachen. Wir müssen am guten Alten in Treue halten. Wir sind nun einmal konservativ bis in das binnenste Mark von unseren Knochen. Aber überlegen will ich mir das, was Sie gesagt haben.«

Er hatte sich erhoben und der Pastor ebenfalls. Da nahm der letztere noch einmal das Wort: »Lieber Freund, ich bin ein alter Mann. Viele hundert Paare habe ich in meinem Leben zusammengegeben. Manche mit Ärger und Verdruß, andere, über deren Freierei die Familien jubelten, mit Zittern und Zagen, andere aber auch mit herzlicher Freude und Dankbarkeit gegen Gott, der die rechten Menschen sich hatte finden lassen. Und wenn ich mir denn so nachher die Ehen und die Kinder ansah, dann hatte ich mich nur selten getäuscht, wenn man über vierzig Jahre Seelsorger ist, dann kriegt man so etwas Menschen- und Seelenkenntnis. – Nun lassen meine Kräfte nach, und wenn der Herrgott mich nicht wie ein gutes Pferd will in den Sielen sterben lassen, was mir das Allerliebste wäre, so muß ich demnächst daran denken, in den Ruhestand zu treten. Da würde ich mich nun freuen wie kaum je und würde Gott danken, wenn ich vorher noch Ihren braven Hinrich und Ihr gutes Mündel vor mir sähe drüben vorm Altar und könnte ihnen sagen: ›Da, nehmt euch hin aus Gottes Hand und habt euch lieb aus treuem Herzen und macht euren Eltern Freude!‹ So, nun kommen Sie gut nach Hause, mein Lieber, und grüßen Sie mir Ihre liebe Frau, und wenn sie mal nach Hannover schreiben, – oder vielleicht reisen, auch Ihren Jungen! Adieu, adieu!«

»Ich bedanke mich auch noch für den schönen Kaffee,« sagte Lohmann an der Tür.

»Nichts zu danken!« wehrte lächelnd der Pastor ab. indem er dem Bauern freundschaftlich auf die Schulter klopfte.

»Sie müssen sich das bei mir mal wieder abholen.«

»Jaja, wollen wir schon kriegen. Wenn Sie nächstens Hochzeit geben!«

»Holt stopp, Herr Pestohr, so weit sind wir noch nicht!«

»Na, was nicht ist, das kann werden. Es freut mich, daß wir uns mal gründlich ausgesprochen haben.« –

Ja, gründlich wäre sie geworden, die Aussprache, dachte Lohmann, der vom Pfarrhause sich gleich auf den Heimweg machte.

Als er das Dorf und seine Äcker hinter sich hatte und eine mäßige Heidehöhe hinanstieg, blieb er stehen, pustete und wischte sich mit dem buntgeblümten Taschentuch die dicken Schweißtropfen von der Stirn. Dann schüttelte er den Kopf und ging weiter.

Nach einigen hundert Schritten blieb er wieder stehen, bohrte seinen Eichenstock in den Sand des Fußpfades, kratzte sich mit der Linken unter der Mütze und murmelte: »Verdullten Kram! wat hett de ole Keerl sine Näs in anner' Lüe ehren Pott rintostäken!« Er ging weiter und versuchte zu lachen. Es war ein gezwungenes, gequältes Lachen, und gleich war sein Gesicht wieder ganz ernst.

Ein schöner, stiller Spätsommerabend lag auf der Heide. Im Wacholderbusch sang eine Goldammer ihr eintönig schläfriges Lied. Hier und da zirpte eine Grille. In der Ferne stiebte eine Schafherde heimwärts. Eine Krähenschar flog mit faulen Flügelschlägen und müdem Gekrächze dem fernen Horste zu. Die Täler deckten sich mit weißen Nebelbetten. Der Abendfriede kam mit leisen Schritten über die Heide gegangen. Aber der einsame Wanderer fühlte ihn nicht. In seinem Innern tobte der Kampf, und auch in seinem Gesicht arbeitete es mächtig.

Es waren Vater Lohmanns Kopf und Herz, die hier miteinander kämpften. Ein ganzes Jahr hatte sein harter Kopf und dessen eiserner Wille unbestritten die Herrschaft gehabt. Sein gutes Herz, an das Mutter Lohmann so felsenfest glaubte, hatte gegen ihre Tyrannei nicht aufkommen können. Heute war diesem nun ein starker Bundesgenosse erstanden in dem alten Geistlichen, und immer wieder führte es ihn gegen die Feinde ins Feld. Er ist ein alter, weiser Mann, der die Menschen und das Leben kennt. Er meint es herzlich gut. Aber immer schlug der harte Kopf ihn wieder zurück. Was versteht denn so ein Pastor von bäuerlichen Verhältnissen! Er gehört zu den Gebildeten, und die leben in einer ganz anderen Welt. Je gelehrter, desto verkehrter. So einer sieht die Welt nur aus dem Fenster der Studierstube, und vor seinen Augen ist immer eine dicke Wolke von Bücherstaub. Du hättest dir das gar nicht alles von ihm bieten lassen müssen. In alles brauchen die Pastoren ihre Nase auch nicht hineinzustecken. –

Der Wanderer hatte die Höhe des Hillberges erreicht, von der Hof Lohe im Wiesental sichtbar wird. Da kam ihm plötzlich die Erinnerung an einen Septemberabend vor vier Jahren. Die weite Heide leuchtete im Abendlicht, und der Junge saß an seiner Seite und rief mit großen, leuchtenden Augen: »Vader, up de wiede Welt giwt't man enen Lohhoff.« Und er selbst war so glücklich gewesen und so stolz, weil er einen solchen Erben dem Hof seiner Väter zuführen konnte. Er blieb stehen. In der Erinnerung wurde ihm ganz weh ums Herz. Wie war doch alles so ganz anders gekommen, als er sich's damals ausgemalt hatte!

Und warum?

Weil Hinrich die heilige Pflicht der kindlichen Liebe und des Gehorsams vergessen hat, sagte der Kopf.

Weil du im Jähzorn mit roher Gewalt diese Gefühle vernichtet hast, meldete sich leise das Gewissen.

Und er hörte wieder die dringende Frage seines alten Seelsorgers: »Können sie alles vor Gott verantworten?« Und er sah wieder die großen, klaren Augen auf sich gerichtet, vor denen er den Blick hatte senken müssen. –

Vor ihm im Tale lag der schöne, große Hof, ein Bild der Behaglichkeit und des Friedens. Der Rauch aus dem Schornstein stand als eine weiße Säule senkrecht und regungslos gegen den blaßblauen Abendhimmel. Zur Rechten kehrte eben das Gespann klappernd vom Felde heim, links wanderte die Schnuckenherde, von einer grauen Staubwolke umhüllt, dem Hofe zu. Diedrichs Harmonika spielte mit langgezogenen Akkorden: »Goldne Abendsonne, wie bist du so schön.«

Wenn der Junge wiederkäme – es wäre doch schön.

Aber allein kam er nicht, der Trotzkopf.

Wenn nun die andere mitkäme, wäre das denn wirklich ein so schreckliches Unglück? – Der alte Pastor hatte es im Gegenteil für ein Glück gehalten. Ja, der! Was wußte denn der von bäuerlichen Verhältnissen!

Aber ausrechnen konnte man die Sache ja immerhin einmal. Zweitausenddreihundert Taler hatte er für sein ehemaliges Mündel, das vor einigen Wochen mündig geworden war, zinslich belegt. Wieviel konnten bei solcher Mitgift die jüngeren Kinder mitbekommen? Der Hof hatte gute Jahre gehabt, trotz der »schlechten Zeiten«. Es entfielen auf jedes Kind etwa viertausend Taler. Bei Gretschen Hinkens Mitgift würden es je anderthalbtausend mehr gewesen sein. Aber immerhin stellten viertausend Taler ein Sümmchen dar, mit dem die Jungens wie auch die Töchter sich anständig verheiraten konnten. –

Als er von seinem Rechenexempel aufsah, fiel ihm der frech herausfordernde Turmbau von Delmsloh in die Augen. Dieser Anblick jagte ihm das Blut in den Kopf und machte den weich werdenden Willen wieder fest. Er durfte, konnte und wollte nicht leiden, daß es mit Lohe diesen Weg ginge.

Mit diesem Entschluß langte er auf seinem Hofe an. Er wollte durch die Missentür in das Haus treten. Sie war verriegelt. So mußte er am Hause entlanggehen, um die Seitentür zu erreichen. Da sieht er, daß in der wenig gebrauchten besten Stube Licht ist. Was hat denn das zu bedeuten? Er geht sacht einige Schritte weiter, um den Blick in das geöffnete Fenster zu gewinnen. Da sitzt seine Frau am Tische, allein. Sie schreibt, vor ihr liegt, sauber eingewickelt, ein Pfund Butter. Eine dicke Mettwurst und ein Stück Schinken daneben. Dazu ein paar Strümpfe und eine leere Schachtel. Und sie fährt von Zeit zu Zeit mit der Schürze in die Augenwinkel. Die Lampe beleuchtet scharf ihr Gesicht. Wie tief ist es gefurcht! Es ist ein altes Gesicht. Es sind Linien darin, die hatte es vor einem Jahr noch nicht. Nun seufzt sie, tief aus dem Herzen herauf. Nun versucht sie wieder zu schreiben. Aber ihre Hand zittert. Sie legt die Feder hin und faltet die Hände. Leise bewegen sich ihre Lippen. Unwillkürlich hat auch der Mann vor dem Fenster die Hände gefaltet. Ergriffen schaut er in das verborgene Leben seines Weibes. Er fühlt, hier liegt die Seele enthüllt vor ihm. Eine ganz seltsame Empfindung kommt über ihn. Er, der große, starke Mann, schämt sich vor dem schwachen Weibe. –

Über ein Vierteljahrhundert sind Jürgen und Marie Lohmann Mann und Frau gewesen. Und sie hat nicht gemurrt und nicht gemuckst gegen das Wort: Dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein. Aber jetzt sind die Rollen getauscht. In diesem Augenblick zwingt sie ihm ihren Willen auf, überwindet sie mit ihrem weichen, warmen Frauenherzen den harten, kalten Kopf des Mannes.

Die Liebe glaubet alles, hoffet alles, duldet alles. Und die Liebe besiegt auch alles. –

Der Mann vor dem Fenster stieß mit dem Fuß leise an einen Stein, um die Nichtsahnende aufmerksam zu machen, sie sah auf. Da rief er ganz weich: »Mudder!«

Sie flog erschreckt zusammen, und den Brief packen und verbergen, über die Lebensmittel die aufgeraffte Tischdecke werfen, war das Werk einer Sekunde. Dann versuchte sie ein unbefangenes Gesicht nach dem Fenster hin zu machen und fragte gleichgültig: »Na, Vader, biste'r wedder?«

»Jea, lewe Mudder. Was makst du denn dar? Schriwst an dinen Heini?«

»O min Gott! Nee ... ick woll ... och nee, legen will ick dar nich um ... Jawoll, ick schick em wat to lewen. Ick bin und bliew sin Mudder ...« Dabei hatte sie die Tischdecke von den Sachen genommen und zog den zerknitterten Brief aus der Rocktasche.

»Denn grüß em man van mi und schriew hen, ick lat em bidden, he schöll man wedder nah Hus kamen.«

Bei diesen Worten war er nahe an das Fenster und in das Licht der Lampe getreten. Da starrte die Frau in seine Züge und fragte mit bebenden Lippen: »Vader ... is dat din Irnst?«

Er nickte.

»Vader ... segg't noch mal, ... ick kann't nich glöwen ... is dat würklich din Irnst?« fragte sie noch einmal mit angehaltenem Atem.

»Ja,« sagte er kurz. »Aber lat uns nu nich füdder weiter davan snacken!«

Da fuhr sie in die Höhe und streckte die Hände empor. Es ging nicht anders, dem mußte sie's doch sagen, mit dem sie so oft darüber geredet hatte. »Herr Gott in dinen höchsten Himmel, unse Jung' kummt wedder! Heww dusend, dusend Dank!« Dann lief sie einige Male wie von Sinnen durch die Stube. Dann sank sie plötzlich auf einem Stuhl zusammen, verhüllte das Gesicht mit der Schürze und weinte sich gründlich satt. Vater Lohmann stand noch immer vorm Fenster und sagte kein Wort. Einmal fuhr er sich verstohlen mit der Hand über die Augen.

Endlich raffte sie sich auf, trocknete mit der Schürze ihre Tränen und machte sich wieder an ihren Brief. Den angefangenen Satz, bei dem sie gestört war, brachte sie nicht erst zu Ende, als sie des Zitterns ihrer Hände so weit Herr geworden war, daß sie schreiben konnte, schrieb sie mit krausen, großen Buchstaben nur die Worte: »Vater läßt grüßen. Er sagt, Du solltest wiederkommen.

Deine Mutter.«

Das unterstrich sie zweimal und alles, was sie vorhin geschrieben hatte, von ihrem Herzweh und von ihren Tränen, das strich sie dreimal dick durch, daß nichts stehenblieb als der mit zitterigen Buchstaben geschriebene glückliche Schluß.

Und das Paket packte sie gar nicht ein. Der Junge konnte ja nun all die schönen Sachen zu Hause essen. Da schmeckten sie ihm gewiß zehnmal so gut.

Eine Stunde, nachdem Vater und Mutter Lohmann zur Ruhe gegangen waren, kam aus dem Kissen an der Wand die leise Frage: »Vader, slöppst du?«

»Nee,« brummte es aus dem anderen Kissen.

»Vader, Vader« – und Vater fühlte, wie eine zitternde Hand sich auf sein Herz legte – »wenn wi unsern Jungen erst wedder hewwt, du schast man sehn, denn fangt wi beiden Olen up't Frische wedder an to lewen, denn weerd wi wedder jung.«

»Kann wän, kann ok nich wän,« brummte er zurück. »Nu slap man in!«

»Ick kann nich, beste Vader, ick heww so'n bannig Hartpuckern.« –

Zwei Tage später wurde die Hühnerjagd eröffnet. Lohmann nahm die Flinte und knallte einige Male in ein zahlreiches Volk hinein, das unweit seines Hofes stand. Mit sieben Hühnern kam er zurück. Die gab er seinem Sohne Diedrich und knotete ihm ein: »Düt hier is 'n old Hohn; dat bringst du nah 'n Upköper, und düsse söß, de bringst du unsen Herrn Pestohr hen und seggst: Vater ließe vielmals grüßen und schickte Herrn Pestohr dieses halbe Dutzend Rebhühner, und sie wären alle jung und zart, und Herr Pestohr und seine Frau sollten sich man gut schmecken lassen.«

Als Diedrich im Pfarrhaus zu Wiechel seinen Auftrag ausgerichtet hatte und mit einer guten Zigarre abgedampft war, sprang der alte Herr vergnügt zu seiner Frau in die Küche, schwang das halbe Dutzend Rebhühner durch die Luft und fragte lustig: »Kind, weißt du das Allerneueste?«

»Das muß ja ganz was Schönes sein. Du bist ja rein aus dem Häuschen,« sagte die alte Dame verwundert.

»Lohmanns Hinrich kriegt seine Else nun doch.«

»Woher weißt du das?«

»Das sagen mir diese Rebhühner!«

»Die Rebhühner? Wieso?«

»Nun, die sind mein Freiwerberlohn. Dem Sniederkorl ist er diesmal entgangen. Brate sie recht schön in Weinblättern! Auch ein paar Wacholderbeeren tue dran! Sie sollen mir schmecken, wie mir noch kein Rebhuhn geschmeckt hat.«

Und sie haben ihm gemundet, dem würdigen Pfarrherrn von Wiechel. Und er hat ein Gläschen Wein dazu getrunken und mit seiner Pastorin auf das junge Brautpaar angestoßen. –

Vater Lohmann hatte in diesen Tagen ein starkes Verlangen nach dem Briefträger. Aber wenn der Alte dann die Zeitung und ab und an eine landwirtschaftliche Drucksache aus seiner Federtasche zog, machte er jedesmal ein sehr enttäuschtes Gesicht. Ungelesen packte er die Zeitungen aufeinander.

Wenn er auf dem Hofe zu tun hatte, blickte er unwillkürlich öfter auf die Landstraße hinaus. Da sah er eines Tages eine hohe, straffe Gestalt daherkommen. Er verbarg sich hinter einem Eichbaum und spähte klopfenden Herzens nach dem sich Nähernden aus.

Richtig, der Wanderer bog auf den Hof zu. Aber in seinen Bewegungen ist etwas Fremdes. Ist er's oder ist er's nicht? ... Ach nein, es ist der Kommis von Kaufmann Bokelmann in Wiechel, der mit Proben von Winterstoffen von Hof zu Hof geht.– – Der hat diesmal in Lohe kein Geschäftchen gemacht. Er ist schon auf dem Hofe sehr kühl abgefertigt worden.

Als Lohmann acht Tage vergeblich auf einen Brief gewartet und auf die Straße ausgeschaut hatte, sagte er abends nach dem Essen zu seiner Frau: »Mudder, krieg mi min beste Tüg torecht! Ick reis' morrn fröh nah Hannower.«

»Vader, schall ick mit?« fragte sie.

»Nee, bliew man leewer to hus! Ick will di abers daför sorgen, dat du dinen Jungen bald wedderkrigst.«

Oh, wie klopfte und bürstete Mutter Lohmann diesen Abend Vaters guten Rock und beste Hose! Und wie stopfte sie ihm den Ranzen mit gekochten Eiern, belegten Butterbrötchen und Schinkenstücken! Wirklich, als wenn er ihren Jungen von jenseits des großen Wassers holen müßte.

Um die Mittagsstunde des nächsten Tages warf die Menschenwelle, die aus dem Hauptportal des Bahnhofs in Hannover flutete, den Heidebauern in das Gewimmel der großen Stadt. Die Hotelknechte lachten über den Provinzler, der ängstlich um sich sah, einer Dame auf die Schirmspitze trat und sich endlich aus dem lebhaften Verkehr der Mittagsstunde in den Schutz des Ernst-August-Denkmals rettete.

Hier stand der Lüneburger Bauersmann, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete ehrfurchtsvoll die straffe Reitergestalt auf dem prächtigen Schlachtroß. »Dem Landesvater sein treues Volk,« las er mit Bewegung. Dann aber schüttelte er den Kopf und lachte bitter auf. »Sein treues Volk.« Ha, wo war denn diese Treue? Ja, der feste Stein redete von ihr, aber aus den wankelmütigen Herzen seines Volkes war sie längst gewichen und schwand immer mehr, sogar in der Heide, in den Stammlanden des alten Herrscherhauses. – Ach, als der da oben noch auf seinem Thron saß, da war's eine andere Zeit. Da wußten die Leute noch, was es heißt: Ordre parieren. Der wußte mit den gelehrten Göttinger Professoren, die nicht so wollten, wie er wollte, umzuspringen. Da reisten die Väter noch nicht hinter ihren ungehorsamen Söhnen her, um vor ihnen einen Fußfall zu tun. – Es ging doch wirklich nicht. Sollte er nicht lieber umkehren und den Jungen lassen, wo er war, diesen Schlingel, der auf die Bitte seiner Eltern, wieder nach Hause zu kommen, mit keiner Silbe geantwortet hatte?

Aber nein, vom Umquackeln war Lohmann noch nie ein Freund gewesen. Ein Mann, ein Wort! Er hatte seiner Frau das Versprechen gegeben, ihr den Jungen wiederzuschaffen, und das mußte er halten, so peinlich die Sache war. Er blickte noch einmal zu dem alten Eisenfresser auf, schöpfte aus diesem Blick Kurasche, klemmte seinen Schirm unter den rechten Arm und wagte sich mutig in das Gewirr der Straßenbahnen, Droschken, Radfahrer und Fußgänger hinein.

Ein freundlicher Reisegefährte im Bahnzuge hatte ihm den Weg beschrieben: erst die blaue Elektrische und dann in die grüne umsteigen. Aber diese hätten ihn zu schnell an Ort und Stelle gebracht, und es war gut, daß er sich noch einmal überlegte, was er zu Heinrich sagen wollte, obgleich er während der langen Fahrt auch an nichts anderes gedacht hatte. Er als Vater durfte sich doch auch nicht zuviel vergeben. Da mußte sehr vorsichtig zu Werke gegangen werden.

So folgte er denn zu Fuß den Geleisen der Blauen und dann der Grünen, bog darauf in eine Nebenstraße ab und stand endlich vor einem Hause, das sich durch das Schild über der Tür als das Fuhrgeschäft von Karl Jäger auswies. Nachdem er das Schild und die Schilder der Nachbarhäuser aufmerksam studiert hatte, faßte er sich ein Herz und trat ein.

Auf das Klingeln der Türglocke erschien ein Mädchen, das den Bauersmann geringschätzig musterte und nach seinem Begehr fragte.

Ob Hinrich Lohmann hier wohnte?

Ja, der wäre im Pferdestall. Mit einer lässigen Handbewegung wurde der Besucher zurechtgewiesen.

Er durchschritt einen schmalen Gang, einen engen Hofraum – wie hier doch alles so beschränkt war! – und trat in einen Stall, in dem einige Dutzend Pferde standen. Er ging die Reihe entlang, schielte zwischen den Tieren durch, – plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, stand Hinrich vor ihm. Vater und Sohn prallten voreinander zurück und sahen sich mit großen Augen an.

»Gon Dag, Hinrich.«

»Gon Dag, ... Vader.«

...

»Wat hewwt ji hier for feine Peer!«

»O ja, de könnt sick sehn laten.«

»Düsse hier, de könn famost to unsen Torhand passen.«

»Dat mag woll wän.«

...

»Ick heww bannigen Hunger. Kannst du mi hier up de Negte Nähe woll' n Spieshus wiesen, wo ick wat Warms in't Liew krieg'?«

»Ja, dat kann ick woll. Kumm man her!«

»Wullt du nich 'n Teller Zuppen mitäten?«

»Oh, dat kann ick woll. Denn will 'ck mi gau schnell 'n annern Rock öwertrecken.«

Als Hinrich fortgegangen war, atmete Vater Lohmann auf. Es war ja so weit alles ganz gut gegangen. Aber das Schlimmste stand noch bevor ...

Nach einigen Minuten kam Hinrich zurück, und die beiden gingen quer über die Straße in ein Gasthaus. Als sie Platz genommen und das Essen bestellt hatten, sagte der AIte nach einigem Verlegenheitsräuspern: »Ick schöll di ok grüßen, van Muddern.«

»Danke, is se god toweg?«

»O ja, dat geiht all god.«

»Und de annern?«

»Sünd alle munter ... Lieschen hett nudags neulich wedder 'n Duppellenner hat. Dat Kalw nimmt sick bannig up.«

»Soo. Vor twe Jahren harr se ja ok all'n Duppelten.«

»Jea. Mi schall verlangen, wenn wi't düt Johr ok wedder nah veerhunnert Pund henkriegt.«

»Dat wör schön, dat Kalwerfleesch gelt upstunns fiefundsöbentig Mark.«

»Und in Hamburg hewwt die Slachters all achzig betalt, heww ick man in de Zeitung lesen.«

Der Kellner brachte die Suppe. Lohmann faltete unter dem Tisch die Hände zum Gebet. Hinrich folgte seinem Beispiel, nachdem er sich scheu umgesehen hatte. Dann griffen sie nach den Löffeln.

Dem Alten machte das Schlucken Beschwerden. Als er einige Löffelvoll hinuntergewürgt hatte, hielt er plötzlich inne, beugte sich über den Tisch und sagte leise, starr in Hinrichs Teller sehend: »Dat deit mi leed, dat ick damals in den Busch ... mi 'n bäten vergäten heww.«

Hinrich rührte, ohne aufzublicken, mit dem Löffel in der Suppe, und eine jähe Röte flog über sein Gesicht. Als der Vater seinen Löffel wieder in Bewegung setzte, aß er auch weiter. Aber der Alte leerte seinen Teller viel schneller. Das Schlucken ging jetzt prächtig.

»Dat wör 'n feine Zuppen,« sagte er, den Teller fortschiebend und sich zurücklehnend.

Der Kellner trug die Suppe ab und brachte den Braten.

Indem Lohmann sich ein Stück abschnitt, sagte er so beiläufig: »Wullt du nu wedder nah Hus kamen?«

Hinrich schwieg einige Sekunden, vor sich niedersehend. Dann fragte er, ohne den Blick zu erheben: »Un min Brut?«

»Dat helpt denn woll nich, de mutt din Fro weern,« sagte der Vater, wobei er einen beobachtenden Blick nach dem Jungen sandte.

In dessen Zügen veränderte sich nichts, und er sagte bedenklich »Wenn se't man deit ...«

»So? Well se't nich mehr?« fragte der Alte schnell und sah seinen Sohn gespannt an. Eine frohe Hoffnung ließ sein Herz höher schlagen. Aber diese wurde sofort von Hinrich zerstört.

»So meen ick dat nich,« sagte er kopfschüttelnd. »Ick weet nich, ob se wedder nah Lohhoff henmag ...«

»Worüm nich?« fragte der Vater nach einer Weile.

»Weil du ehr so grow schrewen hest ...«

»Denn ... denn, hm, mutt ick ehr woll 'n annern Breef achteran schriewen,« meinte Lohmann nach einer langen Pause.

»Jawoll, dat well woll nich anners gahn.«

»... God, denn will ick ehr morrn glieks schriewen.«

Jetzt zum ersten Male sahen Vater und Sohn sich wieder voll und frei in die Augen. Der Alte wollte noch etwas sagen, aber er schluckte es nieder und rief nur dem Kellner zu:

»Jung', fix 'n Buddel roden Wien!«

*

Nun aßen sie eine Weile, tranken zwischendurch und schwiegen.

Als der Kellner, nachdem sie auf den Pudding verzichtet hatten, den Tisch abgeräumt hatte, räusperte sich der Vater, rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und sagte endlich: »Min Jung, ich heww noch wat up'n Harten.«

»Segg free herut,« bat Hinrich.

»Dat ick di in düsse Friegeree towedder wän bin, dat heww ick dan ut Leew to di und to unsen olen Hoff, de all so lange Tieden bi unse Fomilje wän is. Glöwst du mi dat to?«

»Ja, dat weet ick.«

»Du weest ja, wo dat gahn is mit minen olen Scholkameraden Schorse, und wer doran schuld is, dat he sinen groten Hoff hett verlopen möten ...«

»Ach, Vader, kumm mi doch nich jümmer mit den olen Dämelklas und sin verdreihte Wief an!«

»Wat in Delmsloh passiert is, dat kann ok in Lohe passieren ...«

»Ach wat, dumm Tüg, ick bin keen so'n Slapmotz as Schorse, und min Brut, darup kannst du di verlaten, hett Kopp und Hart an de rechte Stäe.«

»Du bist 'n jungen hitzigen Keerl und verleewt bet öwer beide Ohren. Wat du noch allens belewen kannst in düsse slimme Tieden ...«

»Ach wat, Vader, wat hest du jümmer mit den slimme Tieden! Wo örndtliche Minschenkinner sick von Harten lew hewwt und ehre Arms rögt und up den Herrgott vertrut, da is ok hüdigen Dags gar keen slimme Tied. Dor is de Tied noch just so god as in dine jungen Johren. Dat duntomalen allens bäter wän is as hüdigen Dags, dat glöw ick gar nich. Du wörst damals man 'n jungen Keerl und bist nu wat öller und kiekst dat Lewen mit annere Ogen an.«

»Doröwer will 'ck mit di nich strieden,« wehrte der Vater ab. »Ji jungen Lüe sind anners as wi Olen. Ji hewwt van all den olen neemodschen Kram to väl in 'n Kopp. Aber wat ick man seggen woll, ick mutt unsen Hoff und Muddern und mi för alle Fälle sichern. Is di dat recht, wenn wi de Sak so makt: Ick gew düsse ersten Johren den Hoff noch nich aff, abers ji beiden kriegt för jo und jon Kinner free Eten und Drinken und jedes Johr dreehunnert Daler bores Geld? Wenn sick dat nu rutstellen schöll, dat 't mit din Fro gar nich gahn will, dann lest du di mit dreedusend Daler affinnen und sochst di süssen wat. Und din Broder Diedrich kriegt den Hoff ... Is di dat recht?«

»Dat is 'n tweedüdlichen Kram,« sagte Hinrich, sich mit der Hand die Nase reibend, »Dor mutt ick mi erst up besinnen ...«

»Du kannst't driest riskieren,« redete Vater Lohmann zu, »ick heww verleden vergangenes Jahr ok wat toleert. Wat all passeert is, dat passeert nich wedder.«

Nach längerem Besinnen fragte Hinrich: »Wenn't nu doch mal nich gahn schöll, kannst du uns denn nich veerdusend Daler mitgewen?«

»Nee, dat is to väl. Denn weerd de annern Kinner benahdeeligt ... Abers god, weil du de Ollste bist, den de Hoff tokummt, wöt wi dreedusend und fiefhunnert setten.«

»God, Vader ... must mi abers noch toseggen, dat de Sak ganz ünner uns bliwt. Min Brut und ok Mudder dröwt nix darvan wies weern. Nu nich, und ok nahher nich.«

»God.«

»Wöt wi de Sak schriftlich maken?«

»Nee, Wort und Handslag is nog. Also dreehunnert Daler för't Johr und dreedusendfiefhunnert Daler bi'n Afftog!«

Darauf reichten sie sich die Hände.

»Kummst du nu glieks mit to Muddern?« fragte der Alte, glücklich darüber, daß er die Angelegenheit so glatt geordnet hatte.

»Düssen Mand Monat mutt ick hier noch utholen. Wenn du morrn schriewen wullt, reis' ick öwermorrn nah min Brut.«

»Und wenn schall ick Hochtied gewen?«

»Och, Vader, meenst du, düssen Harwst all?« fragte Hinrich, freudig überrascht.

»Ja, dat meen ick. De Wäk nah Michelje, paßt di dat? Et sünd noch söben Wäken.«

»Min lewe, beste Vader,« flüsterte Hinrich mit geröteten Wangen. »Ick will't ehr seggen ... wenn't ehr nich gor to gau kummt? ...«

Die zwei Stunden, die Vater Lohmann noch bis zum Abgang seines Zuges blieben, verwandten die beiden auf Hinrichs Rat zu einer Rundfahrt durch die Stadt. Der Sohn spannte die besten Pferde an, und der Alte nahm an seiner Seite auf dem Kutschersitz Platz. Wie hatte Hannover sich vergrößert und verschönert – trotz 66! Nur der Waterlooplatz mit der Waterloosäule war noch so ziemlich wie in der alten guten Zeit. Aber als nun die preußischen Pickelhauben aufmarschierten und preußische Unteroffiziere über den Platz hinschnarrten, gefiel's Vater Lohmann auch hier nicht mehr. Er war froh, als Hinrich ihn auf dem Bahnhof abgeliefert hatte und die Eisenbahn ihn der Steinwüste entführte, und noch wohler wurde ihm, als sie ihn erst wieder durch die unabsehbaren Weiten blühender Heide trug. Ein Reisegefährte wollte ein Gespräch mit ihm anfangen. Aber er wich aus. Er schrieb in Gedanken den Brief an seine Schwiegertochter. Ach, dieser machte viel mehr Arbeit als der damals mit kochendem Blut hingeworfene. Als Schwiegervater durfte man sich doch nicht zu viel vergeben, wenn man Herr im Hause bleiben wollte.

»Lohmanns Hinrich is wedder to Hus,« hieß es in Wiechel. Der Stationsvorsteher von Elldingen hatte es Cord Stallbom erzählt. Und Katenlene, die mit dem Stutenkorb ging, war ihm begegnet und trug die Neuigkeit von Haus zu Haus.

»He hett nu doch nahgewen und van de Deern laten,« meinten einige. »Nee, de Ol' hett nahgewen und giwt nahstens Hochtid,« wollten andere wisen. »Ach wat,« hieß es dann wieder, »de Bur is'n ganzen Hartköppten. Wat de eenmal nich well, dor kriegt em sülwst de Dübel nich to.« »Wi wöt't aftöwen; abwarten de Sak mutt sick jo bald utwiesen,« beruhigten die besonnenen Leute.

Dieser Ungewißheit machte eines Sonntags der Pastor ein Ende, als er nach der Predigt aus seinem Abkündigungsbuche vorlas:

»Es sind auch Personen vorhanden, welche gewillt sind, in den Stand der heiligen Ehe zu treten, und werden aufgeboten heute zum erstenmal:

Als Bräutigam der ehr- und achtbare Junggesell
Hinrich Ernst August Lohmann, Haussohn in Lohe,
des Vollhöfners Jürgen Christoffer Lohmann daselbst ehelicher Sohn,

und als Braut die ehr- und tugendsame Jungfrau
Else Wilhelmine Louise Riewitz,
des weiland Anton Riewitz, Ökonomen in Delmsloh, eheliche Tochter.«

Hier und da stießen Nachbarinnen sich an und tauschten bedeutungsvolle Blicke. Die Köpfe wandten sich nach Lohmanns Kirchenständen, aber da saßen im Mannsstuhl nur der Knecht und in dem Frauenstuhl zwei Mägde. Einige von denen, die doch recht gehabt hatten, lächelten triumphierend.

Endlich spielte der Küster den Ausfeger, und das wichtige Ereignis konnte draußen genügend besprochen werden. Fast überall, wo das geschah, bildeten sich zwei Parteien. Die Schwarzseher, die in der Mehrzahl waren, orakelten: »Gliek und gliek gesellt sick geern, abers ungliek giwt Unglück. Dat hewwt wi an Delmsloh sehn.« Die andern meinten: »Ach wat, Hinrich is 'n fixen Keerl, de well woll uppaßt hewwen, dat he ene krigt, de to bruken is.« »'n klok Hohn leggt ok mal in de Netteln,« meinten die ersteren, die natürlich das letzte Wort behalten mußten.

Eine Frage, die viele beschäftigte, war die: »Wenn wi ok woll wat affkriegt van de Hochtid?«

In dieser Erwartung täuschten sich sehr viele. Hinrichs Bruder Diedrich, der als Hochzeitsbitter einen mächtigen, von der neuen Schwägerin übersandten Strauß aus künstlichen Blumen an der Mütze trug, hatte nur den allernächsten Verwandten und Freunden der Familie Einladungen zu überbringen. Das gab wieder viel Murren und Hecheln. Wenn der Anerbe eines so großen Hofes freite, mußte nach Brauch und Herkommen fast die ganze Gemeinde mitfeiern.

Am Freitag nach Michaelis fuhren drei Wagen in Wiechel ein, ohne Pistolenknallen, ohne Juchzer. Und nur ein Dutzend Hochzeitsgäste stellten sich um das Brautpaar vor den Altar. Die vielen neugierigen Weiblein samt einigen wesensverwandten Männlein, die sich auf den Emporen eingefunden hatten, um Toilettenstudien zu machen, waren sehr enttäuscht. Die Braut trug unter dem weißen Schleier ein schlichtes, schwarzes Kleid. Die Schneidermamsell von Wiechel, die sonst alle Brautkleider der Gemeinde nähte, stellte mit Genugtuung fest, daß es nicht einmal besonders saß. Sniederkorl, der auch in der Kirche war, hatte wenigstens für den entgangenen Freiwerberlohn den Trost, daß er an dem Bräutigamsanzug, der wie angegossen saß, gut verdient hatte.

Und nun tritt der alte Pastor vor den Altar. Die Neugierigen spitzen die Ohren. Was er wohl sagen wird? Es ist doch ein besonderer Fall. Aber der Alte wird doch schon recht alt und schwach, er spricht so leise, daß die auf den Emporen fast kein Wort verstehen. Nur Katenlene, die sich ganz vornean gesetzt hat, behauptete nachher, der Pastor habe dem Pärchen einige nette Stiche gegeben. Das hätte er dem Lohbauern zuliebe getan, von dem ja jeder wisse, wie er zu der Sache stehe. Und so leise hatte er das gemacht, um es nicht für alle Zeit mit den jungen Leuten zu verderben. Mit den Großen wolle so ein Pastor es ja nicht gern verschütten.

Nur als der greise Pastor an die beiden die Frage stellte, ob sie einander als eheliches Gemahl haben wollten, »sich zu lieben in Heiligung und Ehren und in Treuen zu meinen,« klang seine Stimme voll und stark, und die Antwort war ein lautes, festes, fröhliches Ja. »Örndtlich frech« hätte es sich angehört, meinte nachher Stutenlene, der niemand jemals ein solches Ja abverlangt hatte, die aber als ständige Zeugin aller Jas in der Gemeinde genau wußte, mit welcher Stärke und mit was für einem Tonfall ein anständiges Trauungs-Ja herauskommen mußte.

Die Hochzeitsgäste bestiegen ihre Wagen, auch der Pastor und seine Frau kletterten mit auf. Dann ging's in scharfem Trabe zum Dorf hinaus.

Eine Gruppe Frauen gab ihnen mit Augen und Zungen das Geleit. Stutenlene war in ihrem Element. Nachdem sie ihre Beobachtungen bei der Trauung mitgeteilt hatte, fuhr sie fort: »Igitte, so'n groten Buern und so'n Hüsselhochtid. Häuslingshochzeit Dat geiht gewiß nich god. Tüschen em und ehr nich, und mang de Olen und de Jungen nu all gar nich. Hewwt ji woll sehn, wat de Bur für 'n Gesicht makte? Gor nich, as bi 'ne Hochtied, just as up'n Dodenbeer.« Totenbier

»Katenlen',« sagte eine ältere Frau, »wat du jümmer ta heckeln heft! Min Trina hett lange deent in Delmsloh und is ok to Hochtid nödigt. De seggt, de junge Fro harr man 'ne lüttje Hochtied wollt, van wegen ehren Vader. Und Trina meent ok, se wör 'n ganz rejalig Minschenkind; de schöll sick da woll rin finnen up Lohhoff.«

»Soo? Dat seggt Trina?« zischte die alte unbegebene Deern. »Na, wi wöt sehn, wer recht beholt, din Trina, dat junge unbedarwte Ding, oder Katenlen', de dat Leben und de Lüe kennt.« –


 << zurück weiter >>