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*

Der Tag vor der Abreise war dem Abschiednehmen gewidmet.

Am vormittag benutzte Else Riewitz eine Fahrgelegenheit nach Wiechel, um am Grabe ihres Vaters einen Kranz niederzulegen. Lange Zeit stand sie an dem frischen Hügel, in schmerzliche Erinnerungen versunken, und ihr Geist wanderte von dem frischen Grabe zu ihren älteren Gräbern. Das der Mutter lag in einem pommerschen Dorfe, das des einzigen Bruders, den sie gar nicht gekannt hatte, irgendwo in Westpreußen.

Wie die beiden Höfe an der Werle, so waren hier auf dem Friedhof auch ihre Ruhestätten benachbart. Auf dem Loher Erbbegräbnis stand ein verwitterter Grabstein. Sie entzifferte den Namen Lohmann und eine alte Jahreszahl. Ja, diese Menschen waren zu beneiden. Sie saßen Geschlecht auf Geschlecht sicher auf dem Erbe ihrer Väter, bis sie hier im Schatten der Wacholder- und Fliederbüsche in Frieden zu ihren Vätern versammelt wurden. Die Unbeständigkeit und Ruhelosigkeit ihres eigenen Daseins kam ihr schmerzlich zum Bewußtsein. Sie hatte nirgends eine bleibende Stätte, nirgends eine Heimat. –

In den späteren Nachmittagsstunden ging sie nach Delmsloh hinüber. Noch einmal schritt sie durch alle Räume des Hauses, suchte einige Lieblingsplätze des schnell verwildernden Gartens auf, nahm von den Leuten Abschied und ließ den Hof, mit dem nur wenig freundliche Erinnerungen, aber viele schmerzliche sie verbanden, fast leichten Herzens hinter sich.

Den Rückweg nach Lohe nahm sie nicht auf dem Fußweg am Waldsaum, sondern in weiterem Logen durch den Wald. Wie sanft die Wipfel rauschten, und wie das Sonnenlicht auf dem braunen Waldboden zitternde Netze ausspannte! Sie dachte daran, wie sie zum erstenmal in diesen Wald zu Entdeckungen ausgezogen war und wie sie damals den lieblichen Thymianhügel am Bach entdeckt hatte. Dieses Plätzchen mußte sie doch noch einmal besuchen. Und mit schnellen Schritten schlug sie die wohlbekannte Richtung ein.

Als sie mit vorgehaltenem Arm sich durch das Gebüsch hindurchgearbeitet und ihren alten Sitz wieder eingenommen hatte, blickte sie um sich. Da blieb ihr Auge an einem Fuhrenbäumchen auf der Mitte des Hügels haften. Sie erinnerte sich seiner, vor zwei Jahren ein zartes Pflänzchen, hatte es sich tüchtig herausgemacht, obgleich es in der Mitte eine Bruchstelle zeigte, um die das Harz eine glänzende Kruste bildete. Trotzdem strebte das Bäumchen tüchtig aufwärts und machte den Eindruck größerer Gesundheit und Lebenskraft als ein anderes, das, gerade gewachsen, in dem Schatten eines größeren Baumes nur kümmerlich fortkam. »Du tapferes Bäumchen!« dachte sie, »ja, wir beide wollen trotz allem den Kopf hoch behalten.«

Und wieder wanderten ihre Gedanken zurück.

»Sie war doch sonst ein wildes Blut;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut,
Und weiß nicht was beginnen.«

Ja, so eine war sie damals gewesen. Das hatte Hinrichs plumpes Fragen, das sie erröten machte, ihr zum Bewußtsein gebracht. Aber heute war sie so eine nicht mehr. Nun wußte sie, daß der Mensch nicht in der Welt ist, um mit dem Hutband zu spielen und allerhand Süßes zu sinnen und zu träumen. Das Leben hatte sie mit starker Hand angepackt und aufgeweckt. Nun hieß es, die Zähne aufeinanderbeißen und es bezwingen!

Da kam eine kleine Biene angesummt, setzte sich auf die Blütendolde eines Heidestrauches, brummte enttäuscht, kroch mit den hurtigen Beinchen auf ein benachbartes Zweiglein, und hier setzte sie sich fest und steckte das Rüsselchen in einen der winzigen Rosakelche nach dem anderen. Dann erhob sie sich und flog in der Richtung, wo der Loher Bienenzaun lag, davon. Da dachte die Beobachterin an jenen Nachmittag vor zwei Jahren, als Hinrich Lohmann ihr hier die lange Rede über die Immen und Drohnen hielt. Man sollte es gar nicht für möglich halten, daß der junge Mann, der damals hier wie ein Buch reden konnte, dieselbe Person war mit dem, der jetzt immer so duckmäusig und dröpsig mit ihr am Tische saß und sich in sieben Sprachen ausschwieg.

Eine problematische Natur, ein rätselhafter Mensch, dieser Hinrich. Mutter Lohmann hatte sie bis auf den Grund ihres guten Herzens geschaut, auch ihren Vormund in seiner steifen, tüchtigen Bauernart glaubte sie zu kennen, Aber Hinrich? Den kannte sie durchaus nicht. Sie kannte eben einfach zwei Menschen dieses Namens, einen flotten, aufgeweckten, warmherzigen hier im Walde vor zwei Jahren, und jetzt einen schwerfälligen, langweiligen drüben in Lohe. Einige Male hatte sie gedacht, der alte Hinrich Lohmann wollte ihm wieder aus den Augen blicken und aus seinen Worten sprechen. Aber dann hatte er gleich wieder so hilflos verlegen ausgesehen und war ins Stottern geraten, was mochte den frischen Ulanen von damals nur so verändert haben? Das einförmige Leben in Lohe mit seinem Mangel an geistiger Anregung? Oder die herrische Art des Alten, die alle Regungen zur Selbständigkeit unterdrückte? – Oder erklärte sich sein Benehmen aus einer Art Rücksichtnahme auf ihre Trauer? – Oder hatte sie ihn ohne Wissen beleidigt? Empfindlich sind dieser Art Leute ja, das hatte sie an Vater Lohmanns Stirnrunzeln gemerkt.

Wenn er jetzt zufällig mit seinem Karo des Weges käme! Vielleicht taute er hier an der Stätte ihrer ersten Bekanntschaft auf, und sie würde hinter das Rätselhafte seines Wesens kommen. Unwillkürlich lauschte sie. Aber sie hörte nichts als das tiefe Atmen des Waldes, das leise Gluckern des Baches und hin und wieder eine müde Vogelstimme. Und noch ein anderer Ton, aus nächster Nähe, war dabei. Es war das Klopfen ihres eigenen Herzens.–

Und nun riß sie sich los von diesem Erdenwinkel, dessen grüngoldene Dämmerung mit ihren süßesten Jugendträumen verwoben war. Hier hatten ihre wachen Sinne sich dem wunderbaren Weben und Leben der Natur erschlossen, hier war ihre kleine durstige Seele zum Quell der Dichtung hinabgestiegen, hier hatte sich zuerst ein Großes, Fremdes ihr genaht und hatte der Natur neuen Glanz und Klang und Duft, den Gedichten neuen Sinn und ihrem trotzig-spröden Herzen schnelleren Schlag verliehen ... Sie weihte dem Ort eine stille Abschiedsträne, brach sich ein winziges Heidezweiglein, zog ein zierliches Thymianpflänzchen aus und legte die beiden zum Andenken in ein goldenes Medaillon, das sie auf der Brust trug. Dann ging sie mit festen Schritten von dannen, dem feindlichen Leben entgegen, es mit festen Händen anzufassen und zu bezwingen.

Als sie sich dem Hofe näherte, hörte sie die Klänge einer Handharmonika. Es waren getragene, schwermütige Volksliederweisen.

Diedrich, Lohmanns Zweiter, befand sich in dem Stadium der Jünglingssentimentalität. Zu gefühlvollen Elegien oder zu einem erhabenen Weltschmerz langte es bei ihm natürlich nicht; auch hätte die stramme Arbeit, die Vater Lohmann von seinen Jungens ebenso wie von den Knechten verlangte, dazu keine Zeit gelassen. Deshalb stellte er sich nach Feierabend, wenn der Tag zur Ruhe ging und die Dämmerung ihre Schleier um den Hof zu weben anfing, an den Ziehbrunnen, blickte halbschräg zu den Wolken auf und vertraute seine schmerzlich-süßen Jünglingsgefühle einer alten Handharmonika an, die sie gefühlvoll, wenn auch etwas verstimmt, in die Abendstille entließ. Da rührten sie denn bald ein Jungmädchen, das im Stall unter einer Kuh saß und melkte oder in der Kammer ihre Strümpfe stopfte, oder einen Wanderburschen, der auf der Bandstraße seines Weges zog, und heute abend vor allem das junge Fräulein, das eben durch die Dämmerung des schweigenden Waldes auf den Hof zugeschritten kam. »was für ein gefühlvoller, tief empfindender Mensch!« dachte sie, »so ganz anders als sein stumpfer Bruder.«

Sie näherte sich dem jungen Künstler, und als der das arme, junge Soldatenherz zu Straßburg auf der Schanz hatte ausklagen lassen, bat sie ihn, ein Abschiedslied zu spielen.

»Was denn?« fragte Diedrich.

»Na, meinetwegen: Morgen muß ich fort von hier,« sagte sie.

Diedrich lehnte sich an die Brunnenumfassung, schlug das linke Bein über das rechte, schloß die Augen, machte ein wehmütiges Vorspiel und spielte dann die Weise in langgezogenen, leise verhauchenden Akkorden. Einmal warf er einen scheu verstohlenen Blick nach seiner Zuhörerin. Für ihn war die Fremde immer etwas wie ein rätselhaftes Wesen, das er ganz scheu, ganz aus der Ferne verehrte. Deshalb spielte er denn auch so innig wie noch nie.

Sie stand an den Brunnenbaum gelehnt, den Blick in das Abendgold gesenkt, das zwischen den mächtigen Eichenstämmen leise verglühte, und begleitete die Weise im stillen mit dem Text. Bei den Worten: »... wenn ein treu verliebtes Herz in die Fremde ziehet,« war es ihr für einen Augenblick, als ob da draußen die Fremde wäre und hier auf dem Lohhofe trotz allem doch etwas wie eine Heimat. Aber das war nur eine flüchtige Anwandlung, und sie schüttelte sie schnell von sich ab. Es war ja alles so fremdartig, was sie hier umgab.

Als Diedrichs Harmonika den letzten Ton hatte verhauchen lassen, wandte sie sich um, ihm zu danken. Da erschrak sie. Im Fenster seiner Schlafkammer lag Hinrich. Er hatte offenbar zugehört und wollte sich jetzt schnell zurückziehen. Aber sie rief ihm munter zu: »Ja, Herr Lohmann, morgen muß ich fort von hier, morgen geht's in die weite, weite Welt.«

»Sie freuen sich wohl auch mächtig, daß Sie den unbequemen Gast loswerden?«

»Och... das... das will ich just nicht sagen...«

Er murmelte noch etwas, aber das ging in dem »Lust'gen Hannoveraner« unter, den Diedrich, des sentimentalen Tones nun satt, durch munteres Quetschen und Ziehen seinem Instrument entlockte. –

Es war abgemacht worden, daß Else die Dame, von der sie als Stütze angenommen war, in Hannover treffen sollte. Am Nachmittag des folgenden Tages schickten Vater und Mutter Lohmann sich an, sie an die Bahn zu bringen.

Aber gerade als der Bauer die Braunen aus dem Stall zog, kam ein vollbesetzter Wagen auf den Hof gejagt. Schon an dem Fuchsgespann, und dann an dem stattlichen Mädchen, das vorne neben ihrem Vater saß, sah Lohmann, daß Hinkens vom Dierkshof ihren lange erwarteten Besuch ausführen wollten.

»Wi kamt woll nich god to Paß?« sagte Vater Hinken von seinem Wagen herab, mit der Peitsche auf Lohmanns Pferde und mit den Augen auf seinen Sonntagsanzug deutend.

»Ji kamt jümmer recht,« sagte der Lohbauer. »Wi wollen man eben de Frömde öwern Barg bringen. Abers dat kann de Knecht just so god.«

»Jan!« rief er mit tönender Stimme ins Haus.

Statt des Gerufenen kam Hinrich. Er nickte dem Besuch grüßend zu und sagte zu seinem Vater: »Jan hest du nah 'n Smed schickt.«

»Ach ja, denn mutt Diedrich föhren,« bestimmte der Alte.

»Diedrich is up de hoge Heide,« wandte der Sohn ein.

Lohmann kratzte sich hinter dem rechten Ohr und sagte: »Verdullten Kram! Jung', denn helpt dat nich, denn mußt du dat Fräulein gau henjagen. Hol di abers nich up! Du weeßt,« fügte er leiser hinzu, »de Besök gelt di ok mit.«

Er sah, daß eine Bewegung über Hinrichs Züge ging, und schmunzelte. Und Vater Hinken schmunzelte ebenfalls.

Else kam, von Mutter Lohmann geleitet, in Reisekleidung über die Diele, grüßte die Hinkensche Sippe leicht und stieg auf den Wagen. Eine lange, peinliche Minute, während welcher keiner recht etwas sagte, die Augen der Fremden aber beobachtend auf ihr ruhten, verging, dann kam Hinrich, der sich in Eile für die Fahrt angekleidet hatte, nahm auf dem Kutschersitz Platz, und der Wagen rollte von dannen.

Als er das Hoftor passierte, grüßte die Scheidende mit der Hand noch einmal flüchtig zurück, atmete erleichtert auf und lehnte sich befriedigt im Wagen zurück.

Wie stocksteif der Hinrich da vor ihr auf dem Bock saß! Er sah nicht rechts und nicht links, sondern zwischen dem rechten Ohr des linken und dem linken Ohr des rechten Pferdes die Straße entlang, immer geradeaus. Na, ihr konnte es ja recht sein, wenn er sich so ungehobelt benehmen wollte. Sie hatte sich nun ja die längste Zeit über ihn geärgert.

Noch ein gestrecktes, flaches Heidetal trennte sie von dem Bahnhof, dessen rote Ziegelgebäude über ein junges Fuhrengehölz emporragten. Da lenkte Hinrich das Gefährt von dem Pflaster auf den weichen Sommerweg. Die Pferde trotteten sehr gemächlich.

»Schönes Wetter heute,« sagte Hinrich und wandte den Kopf ein wenig nach rechts.

»Schönes Wetter heute?« fragte es verwundert hinter ihm. »Der ganze Himmel voll Wolken und jeden Augenblick kann's anfangen Bindfaden zu regnen, und das nennen Sie schönes Wetter?« Dabei lachte sie spitz auf.

Hinrich schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Bitte, lachen sie nicht so! Nach Lachen ist mir gar nicht zu Sinne.« Er sah jetzt nicht mehr die Birkenreihe entlang, sondern auf den Schwanzriemen seines Handpferdes.

»Ich meine, heute ist ein Freudentag für Lohe, weil es den Fremdling los wird,« sagte das Mädchen nach einer Pause.

Hinrich antwortete darauf nichts.

Sie blickte von ungefähr in die Richtung, aus welcher der Zug zu erwarten war, und sah in der Ferne ein weißes Rauchwölkchen über den Fuhrenwäldern schweben.

»Fahren sie zu,« sagte sie erregt, »da kommt der Zug schon!« Hinrich warf einen schnellen Blick nach der Seite und sagte: »Üh.« Aber der Zuruf klang so wenig energisch, daß die Braunen sich dadurch nicht aus ihrem Schlenderschritt bringen ließen.

Da sprang sie vom Wagensitz auf und rief: »Mensch, brauchen Sie die Peitsche!«

Aber in demselben Augenblick hatte Hinrich die Zügel angezogen, der Wagen stand, und sie schoß bei dem plötzlichen halten gegen seinen breiten Rücken. Blitzschnell warf sie sich in den Sitz zurück und starrte nun mit offenem Munde auf die Gestalt vor sich...

Plötzlich hat sich der große Mensch herumgeworfen. Seine Wangen glühen, die Augen brennen, und über die sich mühsam öffnenden Lippen kommen zwischen schweren Atemzügen die Worte: »Es muß heraus! Ich hab' Sie so lieb, – so furchtbar lieb.«

»Hinrich! – – – «

»Pink – pink – pink – tüüüt,« warnte drüben der Zug, der wohl einen Waldweg zu schneiden hatte. Es klang beängstigend nahe.

»Da ist er schon, was fange ich an?« jammerte händeringend und fassungslos das Mädchen.

»Sofort soll's losgehen,« sagte er mit fliegendem Atem und warf einen schnellen Blick nach der Dampfwolke, »bloß eine Frage! Wollen Sie meine Frau werden?«

»Hinrich, es geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Vater will's nicht.«

»Dazu ist jetzt keine Zeit, wollen Sie?«

»Um Gottes willen, liebster, bester Herr Lohmann, bringen sie mich an den Zug!« rief sie und war wieder aufgesprungen.

»Erst Ja oder Nein,« sagte er bestimmt und sah sie fest an.

»O Hinrich, es kommt mir zu plötzlich,« jammerte sie. Dann schnell und entschlossen:

»Am Bahnhof will ich's Ihnen sagen.«

»Gut,« sagte er, warf sich herum, riß das Gespann mit scharfem Ruck auf die Steine, ließ die Peitsche einmal rechts und einmal links auf die Pferderücken sausen, in rasendem Galopp flog das Gefährt dahin, rechts und links blitzten die weißen Birkenstämme vorüber. Er saß da, vornübergeneigt, jeder Muskel gespannt, das Leitseil um die rechte Hand gewunden. Sie hielt sich an die Seitenlehnen geklammert, den Blick starr auf den Mann vor ihr gerichtet... In demselben Augenblick, als der Zug hielt, riß er die Zügel an und brachte den Wagen zum stehen. Beide im Sprung herunter, er mit dem Koffer im Laufschritt zur Fahrkartenausgabe, sie mit dem Reisetäschchen über den Bahnsteig hastend und die Tritte zu einem Frauenabteil hinaufstolpernd, er, in der einen Hand den Koffer, in der anderen die Fahrkarte, stürzt aus dem Gebäude und sucht mit den Augen die Wagenreihe entlang, sie winkt mit der Hand, er in mächtigen Sprüngen heran, Koffer und Karte hinaufreichend. Ein Fluch des Schaffners über solche Bummelei. »Abfahren!« des Rotmützigen, Pfiff des Zugführers, pusch... pusch pusch der Lokomotive, ein Ruck die Wagenreihe entlanglaufend, er ihr Abteil begleitend. »Na?,« ein Neigen des Köpfchens und ein leise gehauchtes »Ja,« neugierige, lächelnde Blicke aus den Fenstern, Wagen vierter Klasse vorüberratternd, Viehwagen mit blökenden Rindern und nöffenden Schweinen, Holz- und Ölwagen, eine weiße Dampfwolke alles verhüllend, Pink–pink–pink des Läutewerks der Lokomotive beim Passieren der Landstraße ...

»Na, Freundchen, das hat wohl noch eben gut gegangen?«

Der Vorsteher war herangetreten und redete Lohmanns Hinrich, der noch immer dem Zuge nachstarrte, also an.

Der wandte sich um, sah den Mann fremd an, wie wenn er aus einem tiefen Traum erwachte, und sagte: »Ja, das hat wirklich gut gegangen.«

»Sie hielten da drüben vorhin eine ganze Zeit auf dem Sommerwege. War an Ihrem Wagen was kaputt?«

»Och nee, Herr Vorsteher... mein Wagen war ganz heil ... ich ... ich hatte sonst Aufenthalt.« »Ein hübsches Mädchen, dieses Fräulein Riewitz, schade, daß sie nun so ganz allein und verlassen im Leben steht.«

»Och, ich hoffe, sie hat eine gute Stelle gefunden ...«

»Wo denn?«

»Och, da unten herum irgendwo.«

»Ob sie wohl noch etwas von Delmsloh übrigbehält? Die Leute sagen ...«

In dem Dienstzimmer meldete sich das Signalwerk. »Einen Augenblick,« entschuldigte sich der Beamte, »ich bin sofort wieder da.«

Hinrich murmelte etwas wie »old Wief« und machte, daß er vom Bahnsteig herunterkam.

Er trat zu seinen schweißbedeckten Braunen und klopfte ihnen begütigend die Mähnenwand. Dem Handpferd stierte er eine Weile in das Ohr. Dann ging er einmal rund um den Wagen herum. Nachdem er den Schlag zugeschlagen und das Wagenleder festgeknöpft hatte, stand er etwa eine halbe Minute, den linken Fuß auf dem Tritt, und starrte nach des Vorstehers weißen Tauben. Plötzlich raffte er sich auf, hängte einen der Stränge ein, stieg auf, brummte, stieg ab, um auch den andern einzuhängen, stieg wieder auf, brütete einige Sekunden vor sich hin und fuhr endlich im Schritt davon.

Der Wirt hatte aus dem offenen Fenster verwundert seinem Tun Zugesehen. »Is de aber besapen!« sagte er zu seiner dicken Frau, die eben den Schenktisch abwischte, und in seinen kleinen, grünen Froschaugen glimmte der Ärger, daß dieser kapitale Rausch nicht aus seinen Schnapsflaschen stammte, sondern wahrscheinlich wieder mal von Cord Stallbom in Wiechel, der es doch längst nicht so nötig hatte als ein armer Anfänger an der neuen Bahn.

Vor den Augen ein Flimmern, im Kopf ein Sausen, so fuhr Hinrich langsam dahin. Er dachte an gar nichts und konnte auch nicht denken. Einen Fußgänger, der ihm die Tageszeit bot, wurde er gar nicht gewahr, obgleich er ihn mit großen Augen anstarrte, so erreichte er die Stelle, wo er vorhin gehalten hatte. Der beim scharfen Wenden auf die Straße zur Seite gewühlte Sand machte sie kenntlich. Da schlug er sich plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn und sagte: »Djunge, Djunge, Djunge!« Und nun konnte sein Kopf wieder denken.

»Hinrich,« raunte eine Stimme ihm zu, »hier hast du eben eine große Dummheit gemacht.«

»Nein,« sagte eine andere, ganz zuversichtlich, »hier hast du dein Glück gepackt.«

»Hinrich,« raunte die erste wieder, »hast du's denn gar nicht gemerkt, daß sie, die Feine, die hochdeutsche, gar nicht in euer Haus paßt?«

»Ach was, das zieht sich alles zurecht,« tröstete die andere.

»Hinrich, du weißt doch, daß Vater will, du sollst Hinkens Gretschen frein.«

»Ja, aber ein Kerl wie du, Hinrich Lohmann, braucht sich keine anschnacken zu lassen. Du hast selbst Augen, zu sehen, und ein Herz, zu fühlen.«

Und nun schwieg der Verstand, und ein großes Gefühl des Glücks und der Freude strömte wie ein mächtiger Strom durch des schwerfälligen Bauernjungen Seele. Er hatte die Hände über den Zügeln gefaltet und blickte stillselig vor sich hin, und die Braunen gingen still ihres Weges Schritt für Schritt durch das braune Heideland, durch keinen Zuruf noch Peitschenschlag geschreckt, und zur Rechten und Linken blieben langsam die hellen Birken und die dunklen Wacholder zurück.

Im Tale erschien der Hof Lohe. Der Wagen hatte jene Höhe erreicht, von der einst der junge Reservist mit weitgeöffneten Augen auf sein Erbe geschaut und gerufen hatte: »Up de ganze wiede Welt giwt't man enen Lohhoff!« heute lag auf der Heideheimat nicht wie damals das »große, stille Leuchten«, sondern ein stumpfes, schweres Nebelgrau. Und doch erschien ihm sein Erbe heute doppelt so schön als damals. Denn er malte sich den Tag aus, wenn er im spiegelblanken Zylinder seinen Einzug auf dem alten Hof dort unten halten würde, und an seine Seite schmiegte sich im Myrtenkranz und Brautschleier die, welche heute davongegangen, drüben in der Kirche zu Wiechel ihm angetraut... vielleicht im nächsten Mai... dann sangen die Nachtigallen wieder mit süßem Schall... oh, so schön wie sie dann singen mußten, hatten sie gewiß noch nie gesungen!... und dann sprangen im Hall und Widerhall die Rosen auf und die Herzen, und das ganze Leben war ein sonnenseliger, nachtigalldurchjubelter, rosenduftender Maientag...

Hinrich Lohmann war ja nicht sehr für Gedichte. Was die Poeten sagen und singen, kam ihm meist überspannt, übergeschnappt vor. Aber wenn ihm heute einer die schönsten Liebeslieder der Weltliteratur vorgelesen hätte, würde er vielleicht den Kopf geschüttelt und gedacht haben, die Herren Dichter seien im Grunde doch recht hausbackene Gesellen und Stümper. Das müßte ganz anders kommen, viel tiefer heraus, viel höher hinauf!

Das innere Jubeln war so mächtig geworden, daß er es nicht mehr aushalten konnte, still mit gefalteten Händen im Wagen zu sitzen. Er stand auf und fühlte den Drang in sich, irgend etwas zu tun. Da fiel sein Blick auf die neue hanfene Schmicke an der Peitschenschnur. Und er nahm die Peitsche und ließ sie dreimal scharf knallen. Als er innehielt, sah er allerhand Gevögel ringsum rennen, retten, flüchten. Und wieder knallte er, sechsmal hintereinander. Da wurde ein fetter Meister Lampe wach und setzte wie auf Leben und Tod über die Heide. Und zum drittenmal faßte er die Peitsche und ließ sie ein gutes Dutzend mal mit aller Kraft seines Armes und in rasendem Tempo klatschen, vom Walde und Gehöfte im Tal kam ein lang hallendes Echo zurück. Dieses Knallen war nun nicht mehr zu überbieten. Befriedigt gab er jedem der beiden Braunen einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken und ließ sie flott den Hügel hinablaufen.

Als er nach wenigen Minuten in scharfem Trab auf den Hof fuhr, machte er große Augen. Vor der Einfahrtstür standen die Väter Lohmann und Hinken und lächelten väterlich, und die Mütter Lohmann und Hinken, die lächelten mütterlich, und in der Mitte Hinkens Gretschen, die lächelte hold verschämt. »Djunge, Djunge, du kannst ja ganz barbarisch klappen,« sagte Vater Hinken bewundernd, und sein Gretschen errötete noch tiefer. Hinrich aber machte ein sehr dummes Gesicht. An diese Wirkung seines Peitschenknallens hatte er nicht gedacht.

Er mußte das Gespann dem Knecht übergeben und sich der Gesellschaft anschließen, die aus dem Hause getreten war, um den üblichen Rundgang durch die Wirtschaft zu machen, und sich nun prüfend, fragend, lobend, rechnend durch die Stallungen schob. Hinrich ließ sich mitschieben, aber seine Gedanken fuhren mit der Eisenbahn und flogen zwischendurch immer wieder durch alle sieben Himmel.

Da fühlte er plötzlich einen derben Stoß zwischen den kurzen Rippen, der ihn in den Schweinestall des Lohhofes zurückbrachte.

»Hörst du nich, dat Gretschen di wat fragt?« sagte sein Vater, von dem der Stoß ausging, ihn verwundert ansehend.

Nein, keine Silbe hatte er gehört. Er starrte Gretschen fragend an, und sie mußte die Frage wiederholen.

»Fuddert ji de Swien warm oder kold?«

»Kold.«

»Wi fuddert warm.«

»Soo.«

Und nun entspann sich eine Unterhaltung über die Vorzüge der warmen und kalten Fütterung. Sie einigten sich schließlich dahin, daß auch die Schweine Gewohnheitstiere wären, und die Hauptsache bliebe immer, daß sie ordentlich Schrot und Kartoffeln kriegten. Und eine kleine Zugabe von Futterkalk schade auch nichts, die befördere die Knochenbildung und die Freßlust.

Nachdem die Hinkensche Familie sich im Hause an den Erzeugnissen der vorjährigen Loher Schmeinemast gütlich getan hatte, kletterte sie auf ihren Wagen mit Wünschen für gutes Erntewetter. Und wenn das Korn herein wäre, sollten Lohmanns nur recht bald nach Dierkshof kommen, was Vater Lohmann, einen bedeutungsvollen Blick mit Vater Hinken wechselnd, gern versprach.

Nach einigen Tagen brachte der Briefbote Mutter Lohmann einen Brief, was seit Hinrichs Soldatenzeit nicht mehr vorgekommen war. Als sie mit Hilfe ihrer Brille die feine, zierliche Schrift entziffert hatte, wußte sie, daß Else es mit ihrer Stelle gut getroffen hatte. Die gute Seele war durch diese Nachricht glücklich von einer schweren Sorge befreit.

Im übrigen enthielt der Brief warme Dankesworte für ihren Mann und die ganze Familie wegen aller Liebe und Freundlichkeit, die sie dem Fremdling erwiesen hätten. Es war Mutter Lohmann sehr rührend, dies alles schwarz auf weiß zu lesen, und wiederholt fuhr der Schürzenzipfel in die Augenwinkel.

Als ihre Mannsleute zum Frühstück kamen, zog sie den Brief aus der Tasche und sagte: »Se hett schrewen.«

»Soo ...« sagte Vater Lohmann gleichgültig.

»Se hett gode Lüe drapen.«

»Dat freut mi.«

»Und se bedankt sick för allens.«

»Is all god.«

»Wullt du den Breef lesen?« fragte sie, ihn auf den Tisch legend.

»Ach nee, se schriwt mi to mickerig.«

»Und ok di, Hinrich,« wandte Frau Lohmann sich jetzt an ihren Sohn, »hett se wat to bestellen.«

Sie suchte die betreffende Stelle des Briefes. Hinrich starrte sie mit großen Augen an und würgte an dem Bissen, den er gerade im Munde hatte.

»Auf der F... Fahrt nach dem Bahnhof ...« begann sie mühsam zu lesen.

»Ach, Mudder, lat mi sülwst lesen,« bat Hinrich, »min Ogen sünd noch wat scharper.«

Sie reichte ihm den Brief, und er las für sich.

»Wat hett se denn mit di?« forschte Vater Lohmann neugierig.

»Ach, se hett up de Fahrt nah 'n Bahnhoff ehr lütte Hart verlaren,« sagte Hinrich, wie abwesend.

»Ehr Hart?« wiederholte der Alte verwundert.

Hinrich sah ihn verdutzt an.

»Se hett Malör hatt,« erklärte Frau Lohmann. »Se harr'n lütt Hart van Gold, 'n Arwstück von ehr Mudder selig, dat hett se ünnerwegs verlaren. Hinrich schöll't up den Wagen söken.«

»Soo,« sagte Vater Lohmann beruhigt, »dat is ehr ganz recht. Wat makt ji Fronslüe jo sökke Dinger nich faster an!«

*

Hinrich ging gleich nach dem Frühstück in die Scheune und durchsuchte den Wagen bis in die verborgensten Ritzen und Falten. Das verlorene Herz fand sich nicht. Es war wohl bei dem überstürzten Rennen an den Zug verlorengegangen. Hinrich nahm sich vor, ihr zu Weihnachten ein neues zu schenken. Und er dachte mit Herzklopfen daran, daß sie ihr richtiges Herz auch verloren hätte, und daß dies nun ihm gehörte, wenn nur erst die Sache mit Vater und Mutter in Richtigkeit wäre! Aber vorher mußte die Roggenernte herein sein. Das war vorderhand das Wichtigste. –

Trotz der guten Wünsche der Dierkshöfer machte die Ernte in diesem Jahre viel zu schaffen. Mehrmals, wenn man sich anschickte, einzufahren, kamen Regenschauer dazwischen. Vater Lohmann regte sich darüber nicht auf. »'t is allens Gottes will und Wäer,« dachte er gleichmütig. Hinrich dagegen zeigte sich sehr ungeduldig. Wenn das Wetterglas wieder fiel, stampfte er mit dem Fuße auf. War einmal gutes Wetter zum Einfahren, so arbeitete er für zwei und trieb die andern. Der Vater sah ihn öfters verwundert an. Irgend etwas war mit dem Jungen anders als sonst.

Endlich war der Segen der Felder doch wieder glücklich geborgen.

Vater und Mutter Lohmann saßen am Abend des Tages, der das letzte Fuder in der Missentür ihres Hauses hatte verschwinden sehen, beieinander in der Wohnstube, froh, daß die wichtigste Arbeit des Sommers nun einmal wieder getan war. Diedrich zog auf dem Hofe seine Harmonika. Das paßte zu der behaglichen Stimmung seiner Eltern ganz wunderschön.

»Mudder, wi können öwermorgen man mal nah Dierkshof röwer maken,« hub Vater Lohmann an.

»Schall mi recht wän,« meinte seine Frau.

Er tat einige Züge aus der Feierabendpfeife und sagte dann: »Dat ward nu Tid, dat de Sak vorwars kummt.«

»Jao, dat magst du woll seggen,« echote seine schwächere Hälfte. »Schall Snierkorl mal ...«

»Ach wat, Hinkens dot uns ehr Gretschen geern her, dat is gewiß. De Hauptsak is, dat wi uns rögt. Hinrich is 'n olen Bangbüx. Wi möt den Bengel mal 'n bäten Kurasche inspräken. Ick in mine Johren ...«

Die Tür ging auf, und Hinrichs Gestalt erschien in der dämmernden Stube.

Er setzte sich stumm zu seinen Eltern an den Tisch.

»Na, Hinrich?« fragte der Vater.

»Vadder und Mudder, ick woll mal 'n wichtige Sake mit jo bespräken. Paßt jo dat nu?«

»Wunnerschön,« sagte der Vater und setzte sich mit Mutter in Positur, die Sache zu vernehmen. Endlich also kam der Junge selbst damit über. Es war ganz still in der Stube. Diedrichs Harmonika spielte draußen: »Ach du lieber Augustin.«

»Na?« fragte Vater Lehmann, da Hinrich noch schwieg.

»Ick woll mi woll verännern,« sagte Hinrich stockend.

»Dat is recht, min gode Jung,« begann der Vater in freundlich väterlichem Tone. »Du bist nu to dine Johren, und wi beiden weerd jümmer öller. Uns is ja ok all bekannt, wecke 't wän schall. Du mußt nich glöwen, dat wi keene Ogen in'n Kopp hemmt. Und wi sünd mit di ok ganz up een Stück. Din Gretschen schall uns 'n leewe ...«

»Vader, de is't nich ...« unterbrach Hinrich ihn schnell.

»Wat? De... is't ... nich?«

»... Nee.«

»Wer denn süssen?« fragte der Alte erschrocken.

Hinrich schwieg.

»Djunge, Djunge, Djunge,« sagte der Vater, und seine Stimme klang wie anschwellender Donner, »wat schall ick van di denken? Dat du di wegsmäten ...«

Da hatte Hinrich sich zusammengerissen und sagte schnell: »Din Mündelkind Else Riewitz schall min Fro weern.«

Der Mutter Hände griffen wie irr in die Dämmerung und sie kreischte: »Barmherzige Gott!« Der Vater aber war in die Höhe geflogen, der Sohn hörte sein keuchendes Atmen und fühlte seinen Hauch auf der Stirn, und er schrie: »Junge, bist du besapen?«

»Nee, Vader,« sagte Hinrich, jetzt ganz ruhig, »ick heww mi dat ganz koppfast öwerleggt.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Diedrichs Harmonika wimmerte draußen: »Das ist im Leben häßlich eingerichtet.«

Auf einmal lachte der Alte höhnisch auf: »Hää, du dumme Bengel! Smittst din Ogen nah so'n fein Fräulein! Meenst, dat se so'n dummen Bauernjungen nimmt, as du bist?«

»Se deit't,« sagte Hinrich kurz.

»Wat, du hest all mit ehr darvon spraken?«

»Ja.«

Des Vaters Hände fielen schwer auf den Tisch. »Mudder, hörst du? He hett all mit dat Mäken darvon spraken.«

»Jaa,« jammerte sie händeringend.

»Mudder,« wiederholte er, und seine Stimme nahm einen drohenden Ton an, »bist du mit in dat Komplott?«

»Nee, nee,« jammerte sie, »ick heww dor nix mit to don, so gewiß, as de Herrgott mi gnädig wän schall in mine leste Stunne.«

»Dat is man god,« wandte sich Vater Lohmann jetzt zu seinem Sohne, »denn heww ick dat also man allen mit di to don, min Jüngschen. Dann segg mi mal, wann hest du mit de Deern darvon snackt?«

»Up de Fahrt nah 'n Bahnhoff.«

»Soso ... Vörher ok all?«

»Nee, keen Word.«

»Nich... aber as du dar up 'n Bock seetst, da hest du di tofällig mal ümkaken und heft sehn, dat se 'n schönen Hot up 'n Kopp harr und 'n por brune Ogen in 'n Kopp, und da düchte di dat to wän, dat se din Fro weern schöll, und da hewwt ji beiden dar up de Schansee de Sak glieks in Ordnung makt. Hähähä.« »Vader...« begann Hinrich. Er streckte bittend die Hände aus.

»Hol dinen Mund, und hör to, wat ick di segg! Ick will di de ganze Geschichte as jungenshaftige Dummheit anreken, de hiermit ut is. So, nun weeßt du Bescheed, und nu lat uns darvan swiegen.«

Einen Augenblick schwiegen sie beide. Draußen spielte Diedrichs Harmonika just den Refrain des Liedes von der häßlichen Einrichtung: »Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.«

»Vader, ick bidd di, hör mi...« begann Hinrich wieder.

Aber der Vater unterbrach ihn: »Wat schöt wi us den Kopp warm maken? Dat ut de Sak nix weern kann, seggt di jo all din Verstand. Wenn du't aber mit Gewalt wullt, kann ick di't ja ok noch mal seggen, weshalw dor nix ut weern kann. Erstens, dat Mäken is 'ne Gebillte, Hochdütsche, und paßt ton Buerfro as de Swinegel ton Wischdok. Twetens, se stammt ut 'n liberalige Familje, und wi sünd ole gode Hannoveraners. Und drüttens, se hett nix und se kriegt nix. Dat weeßt du nich, aber dat weet ick, as ehr Vormünner. Von Delmsloh hört ehr knapp de Schün.«

»Min leewe Hartensjung« – hier wurde seine Stimme auf einmal weicher – »du weeßt ja, wo dat mit Delmsloh trüg gahn is, as min ole Kamerad Schorse dat frömde Kretur friet hett. Wenn ick 'r blot an denken do, könn ick noch bläudige Tranen daröwer weenen. Min gode Hinrich, schall dat mit unsen Lohhoff den sülwigen Weg gahn? Mit unsen olen schönen Hoff, wo unse Öllern und Voröllern up säten hewwt, und de Herrgott hett jüm segent an Veeh und Korn und Hoffrüchte, und an gesunne Kinner, de upwussen sünd as junge Eekböm, und hewwt mit starke Arms und fröhlich Gottvertruen de Arbeit da upnahmen, wo ehre Öllern hewwt uphören mößt? Ja, min Jung', väle hunnert Johr hewwt wi Lohmanns up Lohe säten, und nu schall dat alle wän, nu schall of so'n Schapinski oder Birowski, so'n Riewitz oder Kiebitz den olen schönen Hof verrungeneren ruinieren ut den eenzigen Grund, weil so'n jungen Bengel sick in 'n por brune Ogen verkäken hett? Nee, dat wullt du sülwst nich, min Söhn, de mi jümmer Freude makt hett, und väl Freude, und den de Herrgott süssen 'n kloren Kopp und gode Nahgedanken gewen hett...«

»Vader, ick bidd di...« bat Hinrich und faßte die Hände des Vaters.

»Nee, swieg nu rein still,« unterbrach ihn der Alte, seine Hände zurückziehend, »du weeßt, din Vader und din Mudder, de dat von Harten god mit di meent, hewwt di Hinkens Gretschen todacht. Und – dat seggt di ja ok din Verstand – dat is de Rechte for uns und ok för di. Se hett wat in de Melk to krömen, is gesund, van de ole gode Lüneborger Art. Hinrich, ick segg di, frie Hinkens Gretschen, van min'twegen all düssen Harwst! Denn öwergew' ick di den Hoff up te Stäe, und wi Olen lewt bi so jungen Lue in Eintracht und in Frieden bet an unse selig Enne.«

»Vader, ick kann Gretschen nich freen,« sagte Hinrich fest.

»Worüm denn nich?« fragte der Alte.

»Ick heww keen Leew to ehr.«

»Ach wat, Leew hin, Leem her! De kummt van sülwst, wenn se man erst din Fro is. Dat is allens Gewohnheit. Dat stimmt ja, so ene weet nich so väl söte Wör to maken as ene, de bi Boltjens und Schakelade grot worrn is. Aber de rechte Art stickt'r in, Rasse stickt'r in, dat is in den heiligen Ehestand de Hauptsack.«

»Vader, ick bidd di, lat mi ok mal to Word,« bat Hinrich wieder, und diesmal dringender als vorhin.

»Nee, nee,« unterbrach wieder der Alte, »wi hewwt all väl ta väl Wör öwer de Sack makt. Du weeßt nu Bescheed und brukst di um nix to kümmern. Ick spräk düsse Dag mit Hinkens Vader und an dat Fräulein schriew ick glieks vanabend, dat de Sake een für allemal ut de Luft kummt. Se schall ok marken, wat ick daröwer denk, dat se in de sware Heimsuchung, de öwer ehr kamen is, up söke lichtfardigen Tög sinnen deit und de Lüe, de so väl Godes an ehr dan hewwt, den ollsten Söhn verföhrt.«

»Vader,« rief Hinrich entsetzt, und seine Hände griffen krampfhaft nach der Tischkante, und seine Stimme zitterte, »ick segg di, wenn du dat deist...«

»Hol't Mul!« donnerte der Alte. »Kennst du dat veerte Gebot?«

Hinrich stampfte mit dem Fuß auf den Boden und schwieg.

»Segg mi dat veerte Gebot mal her!« sagte der Vater kalt.

Hinrich biß sich auf die Lippen und schwieg.

Da erhob sich der Vater schwerfällig und trat dicht vor den Sohn hin. Der stand auch auf und hatte den Tisch im Rücken. Es war in der Stube inzwischen ganz dunkel geworden. Die beiden, die sich gegenüberstanden, sahen voneinander nur die Umrisse der Gestalt.

»Segg mi dat veerte Gebot mal her!« sagte der Vater hart und fest.

»Ick bin keen Scholjung mehr,« stieß Hinrich trotzig heraus.

»Scholjung oder nich, ick, din Vader, segg und befehl di, segg mi dat veerte Gebot her!« wiederholte der Lauer laut.

Mutter Lohmann klammerte sich an ihren Mann und flehte mit gebrochener Stimme: »Vader, um Gottes Willen, gah nich to wied!«

»Fro, lat mi!« sagte er barsch, sie von sich stoßend.

»Ick tell bet dree,« wandte er sich wieder an den Sohn. Seine Stimme bebte.

»Een! –«

Hinrich schwieg. Die Mutter rang fassungslos die Hände.

»Twee! –« Die Hand des Alten fiel schwer auf die Tischplatte.

Da umschlang die Mutter den Leib ihres Sohnes, flehte mit herzbrechender Stimme: »Hinrich, do't! He is din Vader. Do't mi to Leew!«

»Twee und...« wiederholte der Vater. Da stieß Hinrich hastig und abgerissen die Worte heraus: »Du sollst deinen Vater... und deine Mutter... ehren, daß dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden.«

»God,« sagte der Alte, etwas ruhiger, »was ist das?«

Hinrich schwieg.

»De Erklärung! Was – ist – das?« wiederholte er lauter.

»Wir sollen Gott fürchten und lieben,« half die Mutter mit flehender Stimme ein ...

»Daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen ...« fuhr Hinrich fort.

»Nicht verachten noch erzürnen,« wiederholte der Vater nachdrücklich, »sondern?«

»Sie in Ehren halten, ihnen dienen, sie lieb und wert halten,« schloß Hinrich schnell.

»Sie in Ehren halten – ihnen dienen – gehorchen – sie lieb – und wert halten,« ergänzte und wiederholte scharf betonend der Vater.

»Süh, min Jung',« setzte er etwas freundlicher hinzu, und die Spannung in seiner Gestalt ließ nach, »du weeßt dat ja ganz god. Nun gehe hin und tue desgleichen!«

Hinrich wandte sich und ging mit schweren Schritten zur Stube hinaus. Dabei stieß er in dem Dunkel einen Stuhl um. Mit einem Krach stellte er ihn wieder auf die Füße.

Als er hinaus war, sagte Vater Lohmann, tief aufatmend und mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn wischend: »Ach, Mudder, wat mutt 'n an sine Kinner belewen!«

Achjajija.« seufzte sie, »lüttje Kinner lüttje Sorgen, grote Kinner grote Sorgen.«

Er entzündete ein Streichholz und steckte die Hängelampe an. Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sahen sie einander an und erschraken. Wie hatte diese Stunde ihre Gesichtszüge verändert! Aber sie sprachen nicht darüber.

Vater Lohmann suchte sich Schreibzeug und Papier und setzte sich zum Schreiben nieder.

»Lat bet worrn fröh,« bat die Frau. »Du bist vanabend to upgeregt.«

»Was du tun willst, tue bald,« antwortete Lohmann mit seiner Bibel. »Dat Isen mutt smäet weern, solange as't hitt is.«

»Schall ick nich leewer schriewen?« bat sie wieder.

»Ach wat,« sagte er barsch, »hier mutt dütsch verhannelt weern. Ji Fronslüe makt so wat nich dütlich genog.«

Und er schrieb mit seinen stakigen, steilen Buchstaben:

»Geehrtes Fräulein!«

Die unermüdliche Harmonikamusik Diedrichs auf dem Hofe störte ihn im Nachdenken. »De vermuckte Bengel!« sagte er, warf die Feder hin, riß das Fenster auf und rief hinaus: »Dierk, wenn de ole Dudelee nich glieks uphört, kam ick di up 't Ledder.« Mit einem greulichen Mißton erstarb das Lied von dem guten Mond, der so stille durch die Abendwolken geht und dem Menschen zu Gefühle bringt, daß er ohne Ruhe ist.

Und nun konnte Vater Lohmann ungestört folgendes zu Papier bringen:

»Die Haare stehen mir zu Berge, wenn ich daran denke, was der Junge uns da eben gesagt hat. Daß Sie, wo doch eben erst Ihr Vater tot ist, auf solche Gedanken kommen konnten, wer hätte das gedacht! Daß wir, indem wir Sie aus christlichem Mitleid und Barmherzigkeit in unser Haus aufnahmen, eine solche Schlange an unserem Busen wärmten, das konnten wir nicht ahnen. Das Blut kocht mir, indem ich dieses schreibe. Und nun wollte ich Ihnen man eben schreiben, daß da natürlich nichts aus wird. Sie müssen sich solche dummen Gedanken ein für allemal aus dem Kopf schlagen. Ich bin der Vater von meinem Sohn und Ihr Vormund, und dies ist mein fester, unveränderlicher Wille. Wenn Sie aber sonst mal eine paßliche Partie machen können, will ich als Vormund gern meine Einwilligung dazu geben. In der Hoffnung, daß diese Zeilen Sie bei guter Gesundheit antreffen,

Ihr Vormund
Jürgen Christoffer Lohmann, Vollhöfner.«

Das Worte »Schlange« hatte er doppelt unterstrichen. Der dicke Strich unter dem festen und unabänderlichen Willen lief in einen Klecks aus, so daß er der Keule eines Wilden glich.

Als er dieses Schriftstück verfaßt hatte, fegte er sich am Fußboden mit der Hand ein Häufchen Sand zusammen, schob das Papier darunter und ließ die weißen Körnchen über dem wilden Schreiben einen kleinen Tanz ausführen. Dann schnippte er die Geschwärzten mit dem Zeigefinger davon.

Frau Lohmann hatte ratlos seinem Tun zugesehen. Daß der Brief deutlich und deutsch ausgefallen war, hatte die grimmige Entschlossenheit seines Gesichts und die schroffe, kurze Bewegung seiner Hand beim Schreiben, Unterstreichen und Eintauchen in die Tinte ihr gesagt. Nun streckte sie die Hand aus und fragte sanft: »Vader, schall ick den Breef nich mal lesen?«

»Nee, Fro,« sagte er kurz, »dar kummt nix bi herut,« tat das Schreiben in einen Umschlag, schrieb die Adresse darauf und steckte den Brief in seine Tasche, um ihn am anderen Morgen eigenhändig dem Briefboten zu übergeben.

»Soo,« sagte er, indem er erleichtert aufatmete, »nu will ick noch 'n Piep smöken. De Sak harrn wi erst mal wedder in Richtigkeit.«

Er steckte seine Pfeife an und qualmte mächtig. Aber nach ein paar Dutzend Zügen stellte er sie in die Ecke. Sie wollte ihm nicht schmecken.

Er nahm die Zeitung zur Hand. Sein Auge fiel auf die »Hofnachrichten aus Gmunden«, die ihn immer besonders interessierten. Er begann zu lesen: »Seine Königliche Hoheit der Herzog haben ...« Als er bis zum Strich gekommen war, wußte er nicht, ob Hochdieselbe einen Gemsbock geschossen oder eine Reise unternommen hatten oder was sonst, und er verspürte auch keine Lust, von vorne anzufangen, um sich zu vergewissern. Er schob das Blatt zurück, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sagte: »Ick bin möe, ick gah to Bed.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob er sich schwerfällig und ging mit verdrossenen Schritten in die anstoßende Kammer.

Als er die Stube verlassen hatte, tat Mutter Lohmann einige Seufzer: »Achja, Achjajija!«

Sie lauschte nach der Kammer hin. Schwer ließ ihr Mann sich in das Bett fallen. Da zog sie die Pantoffel aus, schlich auf Socken durch die Stube, öffnete die Tür, huschte über die Diele und stand vor Hinrichs Kammertür. Mit angehaltenem Atem horchte sie. Kein Laut ließ sich vernehmen. Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu blicken. Das Licht war gelöscht. Da öffnete sie leise und trat in die Kammer.

»Hinrich,« sagte sie im Flüstertone.

»Mutter, bist du dat?« fragte eine müde, tonlose Stimme.

»Ja, min beste Jung, ick mutt di doch gode Nacht seggen.« Sie hatte sich an das Bett getastet, setzte sich auf den Rand und suchte die Hände ihres Jungen. Als sie diese gefunden hatte, wobei er ihr nicht im geringsten entgegenkam, legte sie die großen, breiten Dinger nebeneinander auf die Bettdecke und fing an, sie mit ihren kleinen, harten Händen zu streicheln, erst immer von oben nach unten, dann eine Weile von den Fingerspitzen bis an die Handwurzel, erst schweigend, dann mit Koseworten ihn anredend: »Min gode Hinrich... min arme Jung... min lütt Heini...«

Dem großen Jungen kam eine Erinnerung an die früheste Jugendzeit, als er noch klein, und die kleine Mutter für ihn so groß gewesen war ... Die Mutter machte ihn heute auch wieder zum Kinde. Aber anders als der Vater mit dem vierten Gebot und der geballten Faust. Er fühlte, wie ein warmer Strom ihm zum Herzen drang, und sagte bewegt: »Ja, Mudder, du bist god. Du bist jümmer god mit mi wän.« Dabei hielt er nun ihre Hände mit warmem Druck umschlossen.

»Und glöw mi, min Hartensjung, Vader is ok god... Sin Kopp... Wat 's dat!?« unterbrach sie sich plötzlich angstvoll, und Hinrich fühlte ihre Hände in den seinen zittern.

Draußen ging eine Tür.

»Oh, he socht mi,« sagte sie bebend und sprang vom Bettrand auf.

»Mud–der!« schallte es durchs Haus.

»Wat fang ick armes Minsch an?« jammerte sie.

»Mudder,« sagte Hinrich, sie an den Händen, die er noch immer festhielt, wieder auf den Bettrand ziehend, »was ruhig, hier kummt he vanabend nich her.«

Sie horchten. Über die Diele schlürften Holzschuhe. Eine Tür schlug zu. Dann war es wieder still.

Mit einem tief heraufkommenden Achjajija beruhigte sich die Mutter, streichelte wieder ihres Hinrich Hände, und ihn wieder mit dem Kosenamen der ersten Kinderjähre anredend, sagte sie: »Heini, min lütt Heini, nich wahr, du deist't din ol Mudder to Leew, dat du nahgiwst?«

»Mudder, ick kann di vanabend nix seggen. Mi is so swiemelig in de Kopp und so eng üm't Hart. Wi mö't dar erst mal öwer slapen.«

»Ja, dat is woll dat Beste...«

»Mudder, denn gah ob man hen.«

»Und schall ick Vadern wat von di bestellen?«

»Nix, gor nix!« sagte Hinrich dumpf.

Sie erschrak über seinen Ton und rief verzweifelt: »Djunge, Djunge!« plötzlich warf sie sich über ihn und küßte ihn heftig. Auf der Stirn, den Augen, den Wangen, dem Munde brannten dem Jungen ihre heißen Küsse. Seit jenem Augenblick auf der dämmernden Diele, als der Heimkehrende sie in seine Arme schloß, hatten Mutter und Kind sich nicht wieder geküßt.

Endlich raffte sie sich auf, legte ihm leicht die Hand auf die Stirn, sagte: »Nu slap man god, min Kind!« und tastete sich zur Tür hinaus.

In der Wohnstube löschte sie die Lampe und trat ohne Licht in die Schlafkammer.

»Bist du bi Hinrich wän?« fragte eine harte Stimme.

»Jea,« sagte sie kleinlaut, wie mit bösem Gewissen.

»Dat wör ok nich just nödig, den obstinatschen Bengel nahtolopen,« brummte es zurück.

Sie erwiderte nichts darauf, froh, daß die Sache so gnädig abgelaufen war.

Nachdem sie sich geräuschlos ausgekleidet hatte, legte sie sich nieder und zog das mit Loher Gänsefedern gestopfte Deckbett über sich. Aber bald richtete sie sich wieder auf und schüttelte die Federn zurück, die heute abend eine stickende Hitze entwickelten. Und nun fing sie an zu grübeln, auf dem Rücken liegend und mit offenen Augen in die Finsternis starrend. Es schlug halb zehn in der Stube, und nach langen halben Stunden, die je weiter in der Nacht desto endloser wurden, hörte sie die Wanduhr schlagen – zehn... halb elf... elf... halb zwölf. – Kurz vor Mitternacht fragte sie leise nach ihrem Mann hinüber: »Vader, slöppst du?«

Ein kurzes Brummen war die Antwort.

Gegen halb eins merkte sie an seinen Atemzügen, daß er eingeschlafen war.

Dumpfe, unverständliche Laute unterbrachen plötzlich die nächtliche Stille der Kammer. Die grübelnde Frau erschrak. Wenn ihren Mann etwas stark bewegt hatte, redete er im Schlaf davon. Bei ihrem ruhigen Leben war das aber nur selten vorgekommen; damals nach der Reichstagswahl, und sonst noch zwei- oder dreimal in den Jahren der Ehe. Und nun horchte sie ängstlich.

»Hinrich...« gurgelte der Schläfer. Sie griff sich nach dem Herzen und lauschte, sich näher heranlegend, mit offenem Munde.

»Schorse, min arme Schorse,« kam es nun ganz deutlich über die Lippen des Schlafredenden. Und ihre Gedanken flogen über das weite Weltmeer zu dem verkommenen Neunorker Droschkenkutscher, der einst als Großbauer auf einem der schönsten Heidehöfe gesessen hatte.

Längere Zeit schwieg der Schläfer, und das Lauschen der Frau verlor an Spannung.

Plötzlich fragte er in angstvollem, dringendem Tone: »Hinrich, Hinrich, wo wullt du hen?«

Da lief ein Grauen durch Mutter Lohmanns Seele. Noch einmal machten ihre sich verwirrenden Gedanken die Reise über das große Wasser, mit ihrem Hinrich. Und da umzog sich der Himmel mit schwarzen Wolken, und der Sturm heulte, und das Schiff schwankte wie eine Nußschale in den Wellentälern, und die Wellenberge türmten sich riesenhoch – die Schilderung eines Schiffbruchs, die sie vor vielen, vielen Jahren, als Kind, einmal gelesen hatte, tauchte wieder aus den Tiefen der Vergessenheit empor – plötzlich sah sie Schiffstrümmer, mit den Wellen ringende Menschen, und einem schaute sie ins Gesicht, da war's ihr Hinrich, da schrie sie auf, griff sich an den Kopf und merkte, daß sie aus einem wüsten Halbtraum erwacht war. Nein, Gott sei Dank, ihr Junge war ja noch auf dem festen Lande und mit ihr unter einem Dach.

Aber noch immer war die Frage des Schläfers mit dem dringenden, angstvollen Tone: »Hinrich, wo wullt du hen?« in ihrer Seele, und wieder horchte sie. Nicht mehr auf den an ihrer Seite, der jetzt anfing, einen Eichenast durchzusägen. Nein, halb aufgerichtet stellte sie ihr Ohr auf die Diele ein. Ob dort nicht Schritte hörbar wurden, die festen, wohlbekannten Schritte ihres Jungen, die zur Tür hinaus verschwinden wollten? Nein, dafür hatte er seine Mutter zu lieb. Horch! was ist das? Ein Geräusch von der Diele her. Nun ist es still. Da ist es wieder. Ja, der Junge geht. Und sie fliegt aus dem Bett und tappt sich an die Kammertür und tappt sich an die Stubentür und horcht mit angehaltenem Atem und stürmisch klopfendem Herzen auf die Diele hinaus. Dort ist es ganz still. – Halt, da ist der Ton wieder! Ach so, das ist's gewesen. Eine Kuh reibt sich an dem Stallbaum, wobei ihre Ketten klirren. Die kühle Luft, die sich durch die leichte Nachtkleidung an ihrem ganzen Körper fühlbar macht, hat sie zu sich selbst gebracht, und etwas ruhiger legt sie sich nieder.

Und nun, nachdem die verworrenen Angstgefühle geschwunden sind, kommen die Gedanken wieder, die fragenden, quälenden Gedanken. Warum hatten sie sich des Mädchens auch angenommen? Ach, das war ja einfach Christenpflicht gewesen. Warum hatte sie als Mutter die Augen nicht besser aufgemacht? Ach, es war ihr ja auch nicht das geringste aufgefallen. Warum hatten sie die beiden allein zum Bahnhof fahren lassen? Warum? Warum? Warum? Und diese quälenden Warums waren lauter wilde Wellen, die nun sie selbst als eine arme Schiffbrüchige einander zuwarfen, und sie fühlte ihre Kraft ermatten und ihren Kopf sich verwirren. Da plötzlich gewahrte sie einen Felsen in dem wilden Wellengewoge, und mit der Kraft der Verzweiflung klammerte sie sich an ihn an. Leise bewegten sich ihre Lippen: »Leewe himmlische Vader, wäs uns arme Sünner gnädig. Mak Hinrich sinen harden Sinn week und help dat verlatene Waisenkind, dat se em vergitt ... und dat se bald 'n goden Mann kriggt ... se verdeent dat und hett'n bäten Leewe und Sünnenschien nödig ... dat se nich so alleen dör't leben gahn mutt, van fremde Lüe hen und her stött ... Du bist jo unse Vader und wi sünd dine Kinner, und schöt di allens seggen, wat uns so swar up'n Harten ligt, und du wullt uns hören, um Jesu Christi, deines lieben Sohnes willen. Amen.«

Die Sorgenwellen gingen ihr jetzt nur noch bis an die Knie.

Und wieder bewegten sich leise ihre Lippen: »Vater unser, der du bist im Himmel.« Und als sie sich schlossen mit den Worten: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen,« da netzten die Wellen nur noch ihre Füße. Und es war, als ob eine stille, unsichtbare Macht leise die wilden Wogen glättete, daß eine große Stille ward. Und es war, als ob eine große, linde, weiche Hand aus dem Dunkel der Nacht herniederlangte und die brennenden Augenlider sanft faßte und mit sanfter Gewalt niederzog. Ein paarmal riß eine widerstrebende Kraft sie noch wieder in die Höhe, aber dann siegte die sanfte Gewalt, und die große, weiche Hand lag lind und leicht auf den geschlossenen Augen. Da hatte Mutter Lohmann Ruhe. – –

Und Hinrich? – Als die Mutter sich an sein Bett tastete, hatte er stumpf und dumpf dagelegen, die Hände unter dem Kopf gefaltet. Daß er dem Vater gegenüber einen schweren Stand haben würde, hatte er ja erwartet. Aber nicht, daß der ihn keinen Augenblick würde zu Worte kommen lassen, damit er denen, die ihm am nächsten standen, sagen könnte, was nun sein ganzes Herz erfüllte. Nicht das hatte er erwartet, daß sein Vater ihn, den Fünfundzwanzigjährigen, mit dem höchsten, heiligsten Anliegen seines Herzens behandeln könnte wie einen Schuljungen, der durch körperliche Gewalt zum Gehorsam gezwungen werden muß. Jetzt, nachdem das alles wie ein schreckliches Gewitter über ihn dahingebraust war, fühlte er sich wie an Leib und Seele zerschlagen. Er hatte keine Eltern und keine Heimat mehr.

Und dann war das Mütterlein an sein Bett gekommen, hatte warme, liebe Worte gesprochen, hatte seine Hände gestreichelt und seinen Mund geküßt, und da war's ihm warm und weich ums herz geworden. Ja, eine Mutter hatte er noch. Und dann war wohl nicht alles verloren. Dann konnte sich noch alles zum Guten wenden.

Und nun stritten sich wieder in ihm die beiden Stimmen, die damals auf der Rückfahrt von Elldingen Zwiesprache miteinander gehalten hatten. Aber in diesen dunklen Nachtstunden, die unendlich träge dahinschlichen – Hinrich hätte nie gedacht, daß eine Nacht so lang sein könnte–, hatte die Stimme, die von außen her kam und immer nein sagte, das große Wort, und die andere aus seinem Tiefinnersten wurde immer kleinlauter. Aber gegen Morgen wandte sich das Blatt. Als die enge Kammer sich mit jungem Licht füllte, als die junge Schwalbenbrut über den Fenstern – es war schon die zweite des Sommers – zwitschernd und schwatzend ihre Flugübungen begann, da wurde die vorlaute Stimme bescheidener, und die andere sagte zuversichtlich: »Kopf hoch, Hinrich Lohmann! Nicht wanken und nicht weichen! Es muß sich alles zum besten wenden.«

Da stieß er die Decke mit den Füßen von sich, sprang auf, kleidete sich schnell an und stieg zum Fenster hinaus. Den Hof hinter sich lassend, ging er in die nebelumhüllten Wiesen, zu dem Kolk unter der Schleuse, wo er nach heißen Sommertagen zu baden pflegte. Er begann sich auszukleiden. Um ihn kämpften die Nebel mit der Morgensonne um den Tag. In dem Wiesentale hatten sie noch ihren stärksten Rückhalt. Als er nun das letzte Kleidungsstück von sich geworfen hatte, sah er plötzlich seinen Körper weiß aufleuchten. Die Sonne hatte gesiegt. Glühend in Urschöne stand sie über einer fernen Heidehöhe, und die geschlagenen Heere der Nacht waren in vollem Rückzug. Da tauchte er die Augen, die so lange in das schwarze Dunkel der Nacht gestarrt hatten, tief in des Morgenlichtes Feuergluten, und dann ließ er die geblendeten Blicke an seinem im jungen Lichte leuchtenden, jugendstarken Körper, des Schöpfers Meisterwerk, hinabgleiten, und die trüben Nachtgedanken flohen mit den Nebeln davon, und sein ganzes Wesen durchströmte wie ein feuriger Strom ein hohes Lebensgefühl, ein Gefühl grenzenloser Verwunderung, Freude, Kraft, Anbetung.

*

Aus dem Kolk sprühte ein Diamantenregen empor. Er hatte sich mit einem Kopfsprung ins Wasser geworfen, das nun mit eisiger Kühle wie ein eisernes Band sich um seine Glieder legte. Aber durch kräftige Schwimmbewegungen besiegte die Lebenswärme des jugendlichen Körpers die starre Kälte des Elements. Als er nach einigen Minuten wieder ans Land stieg, schüttelte er die blinkenden Tropfen von sich und kleidete sich schnell an. Dann ging er mit festen Schritten nach Hause und machte sich an seine Arbeit, wie jeden Morgen. Die Dienstboten, die ihn scheu von der Seite musterten, merkten ihm nichts Besonderes an.

Um die gewohnte Zeit versammelte der Vater die Hausgemeinde zum Morgensegen. Scheu drückte sich einer nach dem andern in die Stube, und verlegen klang der Morgengruß. Sonst, wenn der Bauer seines hehren Amtes als Hauspriester waltete, den neuen Tag durch Gottes Wort und Gebet zu weihen, klang seine Stimme feierlich, wie volle, tiefe Morgenglocken, heute morgen, wie er die Worte so hastig herunterlas, klapperte sie wie ein Blechkessel. Beim Vaterunser vergaß er eine der Bitten. Es war die fünfte.

Die drei Menschen, welche diese lange, bange Nacht durchträumt, durchgrübelt, durchbetet hatten, kamen mit keinem Wort auf das Geschehene zurück. Aber es stand zwischen ihnen. Die Augen hatten einen anderen Blick, die Stimmen einen anderen Klang, die Füße einen anderen Gang als gestern und vorgestern. Zwischen den Herzen war eine Kluft gerissen. Zwar Mutter- und Frauenliebe sann und sann, sie zu überbrücken. Aber sie fand nicht, wo und wie sie die Brücken schlagen könnte.

Als der Bauer an seine Arbeit gegangen war, suchte Frau Lohmann sich Tinte, Feder und Papier und fing auch an zu schreiben. Ach, die Feder wollte gar nicht. Immer wieder hakte sie sich in dem Papier fest. Seit Hinrich von den Soldaten zurück war, hatte sie keinen Brief mehr verfaßt, und auch damals mußten die Anlagen in Gestalt von Würsten und Schinken mehr sagen, wie treu sie es meine, als die paar armseligen Zeilen das vermochten. Endlich brachte sie aber in liegender, zitteriger Schrift und nichts weniger als parallelen Reihen doch eine Art Brief zustande, der, von einer Anzahl Sünden gegen Herrn von Puttkamer gereinigt, folgenden Wortlaut hatte:

»Mein liebes, gutes Kind!

Mit Schmerzen ergreife ich die Feder. Oh, was haben wir gestern für einen Abend gehabt! Und diese Nacht habe ich beinahe kein Auge zugekriegt. Nimm es Vater nicht für ungut, wenn er Dir was geschrieben hat in seiner schrecklichen Zornigkeit, was nicht gut ist! Aber Ihr beiden müßt Euch vergessen. Sonst passiert ein Unglück.«

Hier hielt sie inne und sah nachdenklich vor sich hin. Dann stand sie auf und nahm die Bibel vom Wandbrett, in der sie eine Zeitlang blätterte. Darauf nahm sie wieder die Feder und schrieb: »Lies in Deiner Bibel, die ich Dir geschenkt habe, Epheser 6, Vers 1 bis 3!

In der Hoffnung, daß Dich diese Zeilen bei guter Gesundheit antreffen

Deine betrübte Pflegemutter.«

Sie las die Zeilen mit feuchten Augen noch einmal durch und setzte die Feder zum drittenmal an, zu einer

»Nachschrift.

Für Deinen lieben Brief sollst Du auch vielmals bedankt sein. Dein goldenes Herz hat Hinrich« – diesen Namen durchstrich sie und machte ihn unleserlich, das »hat« verbesserte sie in: »haben« – »haben wir lange gesucht, aber nicht gefunden. Wenn erst alles wieder in Richtigkeit ist, schenke ich Dir mal ein neues. Das soll ebenso schön sein wie Pastors Gertrud ihrs, was sie neulich zum Besuch hier um hatte.

Die Obige.«

Sie war froh, für ihre Epistel einen so schönen, tröstlichen Schluß gefunden zu haben, und liebäugelte ordentlich mit der Nachschrift. Bei der Erfüllung ihres Versprechens, nahm sie sich vor, sollte es ihr auf einen Taler mehr oder weniger gar nicht ankommen. Wenn's nur erst so weit wäre!

Auch dieser Brief wies einen Klecks auf. Der sah aber nicht aus wie die Keule eines Indianers, sondern wer wollte, konnte in ihm vielleicht ein blutendes Herz erkennen. Die Tinte war mit einer auf das Papier gefallenen Träne in eins geflossen.

Zu derselben Zeit riß Hinrich hinten im Pferdestall ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb mit dem Bleistift den Anfang eines Stammbuchverses darauf und den Kehrreim eines Soldatenliedes:

»Donner kann die Felsen spalten, Aber unsere Liebe nicht! Wir halten fest und treu zusammen, Hepp hepp hurra!

Dein Hinrich.«

Auch er las das Geschriebene noch einmal durch. Ein Fehler war nicht darin, dessen war er sicher. Und schlank und schneidig waren die kleinen und die großen Buchstaben auf dem Papierchen in Reih und Glied aufmarschiert, wie Soldaten mit ihren Offizieren auf dem Kasernenhof. Das sollte keiner sagen, daß dies ein Bauernjunge geschrieben hatte, der besser mit der Forke als mit der Feder umzugehen versteht!

Er barg das Blatt in dem umgekehrten Kuvert einer landwirtschaftlichen Drucksache, dem er vorher die Anpreisung einer berühmten Futterkalkmarke entnahm. Dabei dachte er wehmütig lächelnd an Hinkens Gretschen, die ihm diesen als Mittel zur Steigerung der Freßlust und der Knochenbildung für die Borstenträger so warm empfohlen hatte.

Als der alte Briefträger ins Haus kam, lud Mutter Lohmann ihn zu einer Tasse Fleischbrühe in die Küche. Dabei steckte sie ihm heimlich einen Brief zu. Als er das Haus verließ, wartete draußen der Bauer auf ihn und zog einen etwas zerknitterten Brief aus der Tasche, den er ihm gravitätisch überreichte. Hinter der Scheune trat Hinrich ihm entgegen und drückte ihm zwei Zigarren in die Hand. Verwundert blickte er den jungen Menschen an. Da griff der hastig in die Tasche und gab ihm den dritten Brief. Der Dausend, wie waren die Loher auf einmal schreiblustig geworden!

Als er einige hundert Schritt vom Hofe entfernt war, las er im Gehen die Aufschrift der drei ihm anvertrauten Schreiben. Dreimal dieselbe Adresse, einmal in gravitätisch-stolzen, dann in demütig-liegenden und endlich in kühn-stürmenden Buchstaben: An Fräulein Else Riewitz. Hm hm! Da war etwas passiert. Und Vater Hillermann, der Vermittler von so viel Freud und Leid, Streit und Frieden, riet auch so ziemlich das Richtige. Aber, indem er sich eine von Hinrichs Sonntagnachmittagszigarren anzündete, schüttelte er den Kopf und brummte vor sich hin: »Wat geiht dat mi und annere Lüe an!« Und der Senior der Briefträger des Kreises, der bald dreißig Jahre die goldenen Litzen trug, sprach auch mit seiner Frau nicht von den drei Briefen an die gleiche Adresse.

Nach fünf Tagen rief der Bauer dem Alten, der wieder um die gewohnte Stunde auf den Hof kam, gutgelaunt entgegen: »Na, heste wat?«

»De Zeitung,« sagte der und reichte ihm das Blatt.

»Ick bin so döstig,« fügte er hinzu und ging in das Haus.

Als er in die Küche an den Wassereimer treten wollte, hielt Frau Lohmann ihn zurück, Fieke sollte ihm lieber ein Glas Milch holen. Als diese den Rücken gewandt hatte, gab er der Frau schnell einen Brief, die ihn mit zitternder Hand packte und in ihrer Tasche verschwinden ließ.

Wo war denn bloß die alte dumme Brille geblieben? In der Stube war sie nicht, und in der Kammer auch nicht, und in der besten Stube auch nicht. Endlich, die Bibel auf dem Wandbrett schloß nicht ganz, zwischen ihren Blättern lag das unentbehrliche Sehinstrument.

Aber wohin nun mit der Brille und dem Brief? Im Hause war sie um diese Zeit nirgends vor Störungen sicher. Da nahm sie ein Körbchen an den Arm, trat auf den Hof und stieg die eichenholzgefügte Außentreppe zum Speicher hinan. Der Raum, in den diese führte, war mit einem feinen Duft von Wachs, Honig, getrocknetem Obst und ungebleichtem Linnen erfüllt. Auf einen Ballen des letzteren setzte sich Mutter Lohmann, klemmte sich die Brille hinter die Ohren, erbrach den Umschlag, und den Brief von sich haltend, fing sie an, folgendes zu lesen:

»Liebste, beste Pflegemutter!

Eine rechte Mutter kann gegen ihr Kind nicht lieber und freundlicher sein, als Du gegen mich gewesen bist. Und nun muß ich Ärmste, auf die so viel zusammenkommt, es gerade sein, die den Frieden und das Glück Eures Hauses stört. Ach, könnte ich mich doch noch einmal an Deinem mütterlichen Herzen ausweinen, wie ich es in den schrecklichsten Stunden meines Lebens getan habe! Aber wir sind einander ja so fern, dem Raum nach, und ach! jetzt auch wohl dem Herzen nach. Und hier stehe ich nun so allein. Es ist kein Mensch da, dem ich sagen kann, was mich drückt, und soll immer ein vergnügtes Gesicht machen bei der Arbeit, und im Herzen ist mir so weh und so wund –«

Mutter Lohmann hielt im Lesen inne, nahm die von Tränen blind gewordene Brille ab, rieb sie in der blauleinenen Schürze wieder blank, trocknete ihre Augen, setzte die Brille wieder auf und las weiter:

»Ach, daß es auch so weit hat kommen müssen! Hättet Ihr beiden, mein Vormund und Du, mich zum Bahnhof gebracht, wie Ihr erst wolltet, so wäre alles gut gegangen. Hinrich und ich, jeder hätte sein Geheimnis für sich behalten. Aber nun mußte der Besuch kommen, und der Knecht war nicht zu Hause, und wir beide mußten allein nach Elldingen fahren, und da auf einmal, ohne daß wir's eigentlich wollten, war's heraus. – Du mußt aber nicht denken, daß das so auf einmal gekommen ist, in den paar Wochen, die ich bei Euch war, oder gar auf der kurzen Fahrt nach dem Bahnhof. Nein, Hinrich und ich, wir kennen uns schon über zwei Jahre. Als ich Dich damals besuchte – es sind just zwei Jahre her, die Heide blühte gerade, wie sie jetzt wieder blüht – da tat ich das nicht aus eigenem Entschluß; Hinrich hatte mir gesagt, weil ich keine Mutter mehr hätte, sollte ich seine Mutter einmal besuchen. Wir hatten uns nämlich ganz zufällig zweimal im Walde getroffen. Ich war damals ein dummes, eigensinniges, faules Ding, und da hat Hinrich mir erst gesagt, was alles zu einem ordentlichen Menschenleben gehört, und von da an bin ich eine andere geworden. Und schon damals habe ich viel an ihn denken müssen, aber weil Du mir gesagt hattest, zwischen Delmsloh und Lohe könnte keine gute Nachbarschaft sein, habe ich mich in acht genommen, daß wir beide uns nicht wieder trafen, und ich habe auch kein Wort wieder mit ihm gesprochen, bis das schreckliche Unglück meines lieben Vaters uns aufs neue zusammenführte. Aber solange wir unter einem Dache bei Euch lebten, haben wir außer über das Wetter und andere gleichgültige Dinge nie miteinander gesprochen. Aber das Feuer, das unsere Herzen erfaßt hatte, glimmte still und heimlich fort, und auf der Fahrt nach dem Bahnhof, da auf einmal flammte es lichterloh auf.«

Wieder hatte sich Mutter Lohmanns Brille getrübt, und sie machte eine Pause. Das war schlimm, ganz schlimm, daß die Geschichte schon so alt war. Das hätte sie nicht gedacht. Achjajija.

Sie las den Schluß des Briefes:

»Jetzt, nachdem das Wort gefallen ist, ist es furchtbar schwer, sich sagen zu müssen, daß das, was des Herzens tiefster, verschwiegenster Wunsch war, niemals sein soll, niemals sein darf. Aber Gott hat einem ja schon Kraft gegeben, viel Schweres zu tragen. So wird er sie einem wohl auch noch geben, dieses zu überwinden. –

Ich will nicht mehr an Hinrich denken. Ich will mir jeden Gedanken an ihn mit Gewalt aus dem Herzen reißen. Ich will nur noch denken an alle Liebe und Gütigkeit, die ich von meinem lieben Vormund und von Dir, liebes Mutterherz, erfahren habe, und für die Euch in Ewigkeit dankbar ist

Eure gehorsame

Else Riewitz.«

Mutter Lohmann schob die Brille auf die Stirn hinauf, faltete die Hände in ihrem Schoß über dem Brief und sah gedankenvoll vor sich hin.

Jajajija, das arme Kind mußte wirklich schwer hindurch. Alles nahm der Herrgott ihr, eins nach dem andern. Erst die Mutter, dann den Vater, darauf den Hof, und nun zuletzt auch den, den sie so lange heimlich liebgehabt hatte. –

Hier kam ein ganz fremder Gedanke und machte sie einen Augenblick bedenklich. War's wirklich der Herrgott, der ihr den Liebsten nahm? War's vielleicht nicht so, daß der Herrgott ihr diesen gegeben hatte für die Lieben, die er ihr genommen, und nun kamen die Menschen, um dem armen Kinde das Herrgottsgeschenk zu rauben? – – Nein, nein, so durfte man die Sache nicht ansehen. Die Eltern sind nun einmal die Stellvertreter Gottes für die Kinder. Das hatte noch am letzten Sonntag der Pastor in der Kinderlehre so schön klargemacht.

Else war gewiß ein gutes Kind. Fleißig, umgänglich und gar nicht stolz. Schade, daß sie keinen Jungen hatten, der Lehrer war oder Postschreiber oder so was. Für so einen wäre sie eine. Da würde sie als Mutter sofort ihren Segen geben, und Vater am Ende auch. Aber für den Ältesten, den Hoferben, paßte sie nicht. Wirklich nicht. Dafür war sie viel zu fein. Eine Bauernfrau? Mutter Lohmann schüttelte traurig den Kopf. Nee, nee, die saß da nicht in. Der Erbe von Lohe mußte auch eine haben, die etwas mehr um und an hatte. Die mußte durch ihr Heiratsgut dem Hof das wieder zubringen, was durch die Auszahlung an die jüngeren Kinder mal verlorenging. Denn die wollte man doch auch nicht nur mit Rock und Hemd in die Welt hinausschicken.

Na, Gott sei Dank, das Mädchen war ja so weit vernünftig. Sie wollte gar nicht mehr an die dumme Geschichte denken. Sie schrieb ja auch: Eure gehorsame Else. –

Wenn nur der Junge auch so verständig sein wollte! Es waren ja schon fünf Tage vergangen seit dem stürmischen Abend und der schrecklichen Nacht, aber der alte war Hinrich noch immer nicht wieder. Wohl tat er seine Arbeit wie immer, und noch gestern abend beim Zubettgehen hatte der Vater gemeint, er wäre doch nur einmal ein fixer Bengel. Aber er pfiff kein Lied und rauchte keine Pfeife und sagte kein Wort, das man nicht mit Fragen herauszog.

Mutter Lohmann hatte es zuerst für das beste gehalten, in keiner Weise auf das Geschehene zurückzukommen. Aber einen Tag nach dem andern ihren frischen Jungen so unfroh, so bedrückt zu sehen, das schnitt ihr doch ins Herz. Vielleicht war es besser, wenn sie als Mutter ihn mal ins Gebet nahm, wenn sie einmal ganz mütterlich, ganz ruhig, ganz vernünftig die Sache mit ihm besprach. Das, was Else geschrieben hatte, konnte ihr dabei ja nur helfen. Mit dem Entschluß, die nächste gute Gelegenheit wahrzunehmen, stieg sie die Speichertreppe hinab, nachdem sie noch das Handkörbchen mit getrockneten Pflaumen gefüllt hatte.

Es fand sich noch an demselben Tage ein stilles Stündchen, in dem Mutter Lohmann ihren Jungen vornehmen konnte.

»Hinrich, ick heww 'n Breef kregen.«

»Dat mag.«

»De Breef is van unse Fräulein.«

»So...«

»Se schriwt, dat se uns jümmer dankbar und gehorsam blieben will.«

»So ...«

»Se schriwt, dat allens so hastig und öwer Kopp kamen wör.«

»So? Dat schriwt se?«

»De Wör weet ick nich akkrat, aber dor kummt dat so up herut.«

»So ...«

»Und nun gereu se dat all...«

Ihre Stimme klang seit Hinrichs Zwischenfrage etwas unsicher. Sie fühlte, daß sie doch wohl nicht ganz strikt bei der Wahrheit blieb.

»So ...«

»Und wil Vader dat nich hewwen wull, so well se gar nich mehr an di denken.«

Dies lautete wieder sehr bestimmt. So hatte Else ja wirklich geschrieben.

»So ...« sagte Hinrich mit unerschüttertem Gleichmut.

»Süh, min lewe Jung, dat freut mi van Harten, dat du vandag so geruhig und vernünftig büst. Dat beste is, dat du't just so makst as de Deern, dat du gor nich mehr an se denkst. Süh, dat is so up eenmal ut Öwerielung in der Jungheit kamen, und dat geiht ok wedder öwer. Mit den Kopp dör de Wand, dat könnt wi alltohopen nich. Süh, wenn eener sick för sin ganze Lewen fastmaken well, denn mutt he nich blot sin wille Hart fragen, nee, ok sinen Verstand. De is aber bi so jungen Lüe noch wat kort, und deshalw hett unse Herrgott in sine Weisheit dat so inricht, dat wi Öllern dorbi ok 'n Word mittosnacken hewwt. Dat is jümmer so wän. Süh, wat de ole Erzvader Isaak wän is, de hett sick ok nich eenfach ene nahmen, de em paßlich wör, nee bewohr, sin Vader Abraham hett sin ölen Knecht Elieser henschickt, und de hett em 'ne gode utsocht, de Rebekka, weeßte woll. Aber de Slüngel, de Esau, Isaak und Rebekka ehr Söhn, de hett sin Vader und Mudder nich fragt, de hitt sick wecke nahmen nah sine Lust, und dat hett väl Tranen und Hartkummer gewen in den olen Erzvader sin Fomilje ... Süh, min lewe Jung, Vader will jo man din Bestes. Du mußt ok nich bös up em wän, dat he 'n bäten rieklich upgebracht wör. Dat stickt'r eenmal so in, in sin Natur ... Du schast sehn, Hinrich, et kummt noch mal de Stünn', wo du Vadern van Harten danken deist, dat he uppaßt hett, dat he di van 'ne grote Verkehrtheit trügholen hett ... In dat Stück hest du ja recht, 'n Fro mußt du hewwen. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Und dat mutt ick jo seggen, din Öllern is keene leewer als Hinkens Gretschen. Se stammt van gode, christliche Öllern, is gesund und stark, so wat von din Statur, und söbendusend Daler krigt se ganz gewiß mit... Aber du mußt nich denken, dat't för Gewalt just düsse wän mutt. Dat Hart well ja ok mitsnacken ... Süh, da sünd ja ok noch annere, de so wied ganz paßlich sünd ... Swiersbuers Geske und Brinkenburs Ahlheid... und...«

»Förwahr, Mudder, Deerns genog,« unterbrach Hinrich diese Suche nach passenden Mädchen. »De ganze Welt is vull van Deerns.«

»Sühste, du hest ganz recht, und wenn ok nich jedeene för di und uns passen deit – wi sünd grote Buern und möt in unsen Stand bliewen – 't schall sick woll ene finnen, de di und uns Öllern paßlich is, und denn schall't 'ne grote, vergnögte Hochtied gewen ... Djunge. Djunge, wenn ick dat noch belewen schall!... Und nu wäs man ruhig, min Hartensjung! Vader hett'n isern Kopp...«

»Ja, Mudder, dar hest du recht, he hett 'n isern Kopp,« wiederholte Hinrich.

»Aber ok 'n god, weck Hart... Du kannst mi glöwen, mi is dat ak nich jümmer licht worrn, mi in sine Wies' to schicken. Aber dat steiht nu eenmal in Gotts Word: Die Weiber seien Untertan ihren Männern, aber ok: Ihr Kinder, gehorchet euren Eltern und folget ihnen!«

»So genau as du kenn ick mi in de Bibel nich ut, Mudder,« sagte Hinrich nachdenklich, »aber ick glöw, darin leet sick ok woll wat finnen, wat för mi spreken deit... Ick weet dat ja nich, aber dat seggt mi so min Hart...«

»Ach nee, min beste Jung, Gotts Word hollt dat mit uns Öllern. Und up sin Hart mutt de Minsch sick nich drägen. Dat bedrigt em. Du weetzt ja: Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Dat hett de Herrgott sülwst seggt, und de kennt unse Hart. Und de König Salomo, de weise König Salomo, de seggt: Wer sich auf sein Herz verläßt, der ist ein Narr.«

»Is all god, Mudder, wi wöt dat Strieden man laten. Dor kummt nix bi herut.«

»Ach Jung, dat is ja keen Strieden. Ick woll di als din Mudder man helpen, dat du to de rechten Insichten kummst...«

Frau Lohmann war mit dem Verlauf dieser Unterredung recht zufrieden. Sie zweifelte nicht daran, daß Hinrich innerlich schon nachgegeben hatte. Wenn er das noch nicht deutlich aussprach, so mußte man ihm dazu eben Zeit lassen. Er hatte von dem harten Kopf des Vaters ja auch sein Teil geerbt. Die Hauptsache war, daß er sich erst einmal schweigend unter den Herrenwillen, der in Lohe herrschte, beugte, daß er den Kampf gegen ihn aufgab. Die alte Freudigkeit und das kindliche Verhältnis stellte sich dann wohl mit der Zeit wieder von selbst ein.


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