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Die Hauptwahl machte eine Stichwahl zwischen dem Welfen und dem Nationalliberalen notwendig, wie ja zu erwarten war. Das überraschte Lohmann, der als Vertrauensmann seiner Partei dem Wahlkomitee angehörte, nicht. Aber wie war es nur möglich, daß in Wiechel die Zahl der liberalen Stimmen von vieren bei der letzten Wahl auf zwölf steigen konnte! Und woher in aller Welt mochten die drei sozialdemokratischen Stimmen kommen, die sich heute zum erstenmal in Lord Stallboms Suppenterrine fanden? Lohmann kannte die Wähler ja alle persönlich. Es waren ohne Ausnahme Männer, die zur Kirche und zum heiligen Abendmahl gingen. Das letzte Mal hatten die drei gewiss noch liberal gewählt. Ja, es ging ganz so, wie er immer gesagt hatte. Wer einmal auf die schiefe Ebene gerät, der rutscht auch bis ans Ende: erst liberal, dann freisinnig, dann Sozialdemokrat und endlich Anarchist.

Und nun kam der entscheidende Tag der Stichwahl. Es war ein wunderholder Junitag und jammerschade, lange Stunden in Stallboms Entreezimmer zu sitzen. Aber was half's, die Pflicht gebot. Zur Rechten des wahlleitenden Vorstehers von Wiechel saß Vater Lohmann in enggeschlossenem Bauernwams mit Hornknöpfen, zur Linken der Delmsloher Nachbar mit weißem Kummherut Vorhemd und buntem Schlips, seinen wohlgepflegten Bart streichend. Die Beteiligung war fast um ein Viertel stärker als bei der Hauptwahl. Der Landsturm war aufgeboten. Gichtische und gebrechliche Urgroßväter, die in irgendeinem Altenteilerstübchen auf Freund Hein warteten, waren auf Wagen herangefahren und quälten sich stöhnend an die Wahlurne, wenn sie ihrer Pflicht genügt hatten, huschte die Freude über ihre verfallenen Züge. Ein hoher Neunziger, die Waterloomedaille auf der Brust, wankte zwischen zwei baumstarken Enkelsöhnen heran. Lohmanns Gesicht leuchtete vor Freude beim Anblick dieser alten Getreuen. Solche Gestalten hatte die Partei des Delmslohers nicht aufzuweisen. Dem gehörten die jungen Windhunde mit den gewichsten Schnurrbärten, die hinter den Ohren noch nicht trocken waren, und die nach der Abgabe ihrer Stimmzettel, statt ordentlich wieder an die Arbeit zu gehen, in der Gaststube sitzen blieben und klugschnakten.

Endlich, endlich konnte die Wahl geschlossen und die Zählung der Stimmen vorgenommen werden. Als das Resultat festgestellt war, warf Lohmann dem Delmsloher Nachbarn einen triumphierenden Blick zu. Sein Mann hatte einhundertachtunddreißig Stimmen erhalten, die Zahl der liberalen Stimmen war von zwölf auf zehn zurückgegangen. Ja, in der Heide gab's nicht viele, die sich von so einem preußischen Ökonomen klug machen ließen. Wenn man auch an anderen Orten halbwegs seine Schuldigkeit getan hatte, blieb der Wahlkreis der guten Sache erhalten.

Lohmann blieb den Abend über in Wiechel, um über den Ausfall der Wahl noch etwas zu erfahren. Er verwandte die Zeit auf einige Besorgungen und Besuche. Als er gegen zehn Uhr wieder bei Stallbom eintrat, machte der Postverwalter eben die telephonisch übermittelten Wahlergebnisse aus den Hauptorten des Bezirks bekannt. Der Nationalliberale hatte danach einen weiten Vorsprung, und dieser war nur einzuholen, wenn die noch fehlenden kleineren ländlichen Bezirke wie ein Mann zu dem Welfen standen, was natürlich nicht zu erwarten war. Lohmann griff sich an den Kopf. Er hatte das Gefühl, als ob darin etwas zerspränge. So war doch alle Mühe verschwendet. Der Wahlkreis war verloren. –

Er sehnte sich aus dem Kreise der rechnenden und politisierenden Wirtshausgäste nach Hause, nach seinem stillen Hof in der Heide. So gab er Stallboms Knecht den Auftrag, anzuspannen, und ging in das Entreezimmer, um einen dort eingestellten Korb zu holen. Auf der Schwelle bleibt er wie angewurzelt stehen. Am Tisch sitzen sein Delmsloher Nachbar und der Wiecheler Doktor hinter ein paar dickbauchigen Sektflaschen, offenbar in rosigster Laune, mit fröhlich funkelnden Augen.

»Aha,« ruft der Delmsloher, die Hand ausstreckend, »schön willkommen, lieber Herr Nachbar! Wollen Sie mal in Friede und Freundschaft einen guten Tropfen mittrinken?« Lohmann sieht ihn stumm und starr an. Da kommt Herr Riewitz, das Glas in der Hand, auf ihn zu und will seinen Arm nehmen, um ihn an den Tisch zu führen. Aber der Bauer reißt sich zur Seite, daß jener von dem kostbaren Naß einige Tropfen verschüttet, und sagt, sich zu seiner ganzen Höhe aufrichtend, stolz: »Wenn ick Schlampanjer drinken will, kann ick mi sülwst 'n Buddel köpen. Min Hoff kann dat beter leisten as dat God Delmsloh.« Damit rafft er seinen Korb auf und verläßt ohne Gruß mit schweren Schritten das Zimmer. Gelächter und ein »dummer, hochnäsiger Bauernklotz« fliegen ihm nach.

Wie die Braunen traben über die mondbeleuchtete Landstraße, vor ihnen der heimatliche Stall, im Rücken die Peitsche, die heute abend gar nicht zur Ruhe kommen will! Noch immer geht es dem Bauern nicht schnell genug. Der Schimpf, den man ihm angetan hat, ihn nach der Niederlage noch zu verhöhnen, brennt ihm in der Seele. Hinweg von dem Ort, wo man ihm so etwas zu bieten wagt!

Seitwärts von der Landstraße taucht in dem hellen Mondlicht Delmsloh auf. Plump hebt sich der viereckige Kasten mit dem Turm gen Himmel; die herrlichen Eichen, die ihn einst verbargen, sind ja längst zu Gelde gemacht. Der Bauer streckt die geballte Faust gegen das Gehöft aus und murmelt: »Den Dag, wo du dat hier verlopen mußt mit 'n witten Stock, will ick 'n BuddeII Schlampanjer drinken.«

Lohmann erreicht seinen Hof. Er reißt die Pferde vom Wagen und stößt sie in den Stall. Dann stolpert er mit schweren Schritten in die Schlafkammer. Seine Frau wird munter und fragt: »Na, Vader, allens ferdig?« »Ja, allens ferdig, und de Liberalen hewwt wunnen,« stöhnt er und wirft einen Stiefel nach dem anderen mit Krachen in die Ecke. »Abers, vader, ick bidd di: reg' di öwer sökke Sacken doch man nich so uv!« bat die Frau mit sanfter Stimme. »Ja, jo Froenslüe is dat jo liekeväl, sünd wi Hannoveraners oder sünd wi Preußen,« sagte der Mann grimmig, »Aber beste Vader, du kannst dor dach nix an ännern. Wenn unse Herrgott ...« »Fro, ick segg di, lat unsen Herrgott ut düt Spill,« donnerte er. »So'n frömd Volk as unse Nahwer dar achtern Busch, wat sick Godsbesitter schimpt und gäle Hanschen Handschuh antreckt und Schlampanjer suppt, dat is dar schuld an. Dat makt de Lüe rebellsch ... To'n Dodargern is't ... So'n dicknäsigen Hanswost, de enen denn noch ton besten hett!...«

Schwer ließ er sich ins Bett fallen. Das Abendgebet unterließ er diese Nacht. Seine Seele war zu voll von Grimm und Wut, als daß sie vor ihren Herrgott hätte treten können.

Noch eine Weile hörte Mutter Lohmann, die es für das beste hielt, zu schweigen, ihn brummen: »Düsse Hanswost... düsse Naschonalmiserable ... düsse Windhund und Suput ... Bankrott maken, de Lüe verdarwen und mit'n ehrlichen Minschen ehren Spijökel Spott driewen, dat könnt se, aber dat is't ok all ...«


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