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Es ging stark auf Johannistag. Das Frühlingskonzert in Lohmanns Busch war fast verstummt. Zwar Konzertmeister Specht taktierte eifriger denn je, aber der Chor der gefiederten Sänger wollte nicht mehr recht auf ihn hören. Die hatten jetzt wichtigere Dinge zu tun, als schmelzende Liebeslieder zu singen. All die kleinen blauen, grünen und weißen, die schlichten, getupften und gesprenkelten Schalen waren durch das erwachende junge Leben gesprengt, und unersättliche gelbe Schnäbelchen und Schreihälse waren den langen lieben Tag geöffnet, all das Mücken- und Würmerzeug aufzunehmen, das die unermüdlichen Eltern vom tauenden Morgen bis zum nebelumhüllten Abend heranschleppten.

Auch die Heideleute hatten jetzt Wichtigeres zu tun, als politische Reden anzuhören und hinter Cord Stallboms Suppenterrine zu lauern, ob ein schwarz-weißes oder gelb-weißes Männlein herausspränge. Die beiden Höfe an der Werle standen unter dem Zeichen der Heuernte.

Es war eine Lust, das Gras an der Werle zu sehen. Die Wiesen der Nachbarhöfe waren die ersten, die das goldklare Heideflüßchen auf seinem Erdenlauf begrüßte und mit dem besten Segen seiner Nährsalze bedachte. Da sproßten in Überfülle die fetten Gräser, die gesundes Heu und goldgelbe Butter versprachen.

Morgen früh soll's an die Arbeit gehen. Die Feierabendpfeifen im Mundwinkel, sitzen Hinrich und der Großknecht in der Dämmerung vor der Missentür auf der Erde, mit dem Horen und Dengeln der Sensen beschäftigt. Das einförmige Tack ... tack ... tack der vorsichtigen Horhammerschläge wird von dem munteren Risch ... rasch ... risch ... rasch der Streicher unterbrochen. Dazu gesellt sich aus der Luft das Gemecker der Himmelsziege und aus den Wiesen das Klagen der Kiebitze und das Borax Brekkekkek der Frösche. Jeder der beiden jungen Männer schärft sich für den kommenden Tag zwei Sensen. Man weiß nicht, was passieren kann, und gut Gerät ist mehr als die halbe Arbeit. Endlich schneiden die vier Sensen wie Rasiermesser, und die beiden gehen ins Haus, um sich für die saure Arbeit durch einen tüchtigen Schlaf zu stärken.

Noch einmal haben all die grünen und bunten Kinder Floras sich von der köstlichen Himmelsgabe, dem Tau, satt getrunken, noch einmal läßt die Morgensonne sie glitzern im Diamantengefunkel, da müssen sie unter den mächtigen Sensenstreichen der jungen Männer in den frühen Tod sinken. Die beiden sind immer hart aneinander, der in der verblichenen Ulanenmütze und der unter dem breitrandigen Strohhut. Sie werden es heute auf drei Tagewerke bringen, wenn sie so dabeibleiben.

Nun kommen die Mädchen mit den Harken und den luftigen, weißblinkenden Schleierhüten. Wo ein Hälmlein oder ein Blümlein, unter den Todesgefährten sich verbergend, noch für ein paar Stunden die grüne Farbe des Lebens bewahren will, da wird es unbarmherzig in den heißen Strahl der Sonne gerissen. Und in süßem, betäubendem Duft steigen all die Seelen der lieblichen Kinder der Aue zur Sonne empor, die so lange sie gesegnet hat und nun sie versengen muß, weil der Mensch, der harte Herr der Erde, es so will.

Heiß glüht die Sonne, und heiß glühen auch die Gesichter, und mancher Schweißtropfen fällt in das Gras.

Drüben, jenseits des Grenzgrabens, sind die Delmsloher an der Arbeit. Hier kostet es lange nicht so viel Schweiß. Die Wiese auf und ab rattert die amerikanische Mähmaschine und legt Schwaden zu Schwaden. Herr Riewitz selbst führt sie und ist erfreut, wie gut das Ding, das er erst vorige Woche von der Bahn geholt hat, funktioniert. Die beiden fixen Kerle drüben, so sauer sie sich's werden lassen, können längst nicht dagegen an. Im nächsten Jahre soll eine Wendemaschine dazu angeschafft werden. Der moderne Landwirt muß intensiv wirtschaften und die Errungenschaften der Zeit sich zunutze machen. Der Nachbar drüben soll ja ein vermögender und in seiner Weise intelligenter Mann sein, aber im bäuerlichen Schlendrian steckt er noch tief drin.

Es ist nachmittags gegen fünf, die Hitze hat noch kaum nachgelassen. Da zieht Hinrich Lohmann die Uhr und ruft: »Vespertid!« Im Nu sind seine Leute in dem schattigen Weidengebüsch hart an der Delmsloher Grenze versammelt. Die glühenden Augen der Menschenkinder schauen neidisch nach den Fischen, die so sorglos glücklich in der klaren Flut der Werle spielen. Aber der dichte Schatten und der frische Hauch des Wassers kühlen die brennenden Schläfen, die Rast tut wohl, und der kalte Kaffee, die kernige Sülze und das schwarze Roggenbrot erquicken die matten Glieder. Und der Schnack der drallen Großmagd Fieke, die gar nicht totzukriegen ist und immer den Schalk im Nacken hat, heitert die Gemüter auf.

Wieder sieht Hinrich nach der Uhr und sagt: »Dat helpt nich, wi möt wedder ran.« Den anderen voran tritt er aus dem Schatten der Weiden wieder in den Sonnenbrand der Wiese. Plötzlich stutzt er und macht große Augen. Jenseits des Grenzgrabens, keine zwanzig Schritt von ihm entfernt, schlendert die kleine Nachbarin zwischen den Schwaden hin, den mächtigen weißen Sommerhut am Gummibande tanzen lassend. Jetzt hat sie ihn auch gesehen, und er lüftet die Mütze.

»Na, Fräulein, auch 'n büschen beim Heu helfen?« fragt er.

»Nein, ich suche mir ein Bukett Blumen,« lautete die Antwort.

»Soo,« sagte Hinrich gedehnt.

»Ist der Strauß nicht reizend?« fragte sie, diesen kokett hochhebend.

»O ja, es geht,« meinte er, »wenn einer da Zeit zu hat ... Wir haben es heute furchtbar hille ... Adjüs.«

Ein paarmal risch – rasch die Sense entlang, die Hemdärmel an den sehnigen Armen hinaufgestreift, und sofort war die Mähearbeit wieder in vollem Gange. Das junge Mädchen sah dem vordersten der beiden Männer mit Bewunderung zu. Da war jede Bewegung zielbewußt, und jeder Streich saß, und die Schwaden legten sich in eine schnurgerade Linie. Als ihr Auge wieder auf ihren Strauß fiel, fand sie ihn längst nicht mehr so schön wie vorhin und gab es auf, ihm weitere Blumen einzufügen. Fast hätte sie eine feiernde Harke, die mit dem Stiel im Boden stak, genommen und angefangen zu wenden. Aber sie besann sich rechtzeitig, daß der da drüben dies so auffassen könnte, als ob sie sich von ihm zur Arbeit kommandieren ließe. Ein wenig verstimmt schlenderte sie nach Hause.

Kein Regenguß, kein Gewitterschauer störte die Arbeit im Heu. Am dritten Tage konnte hüben und drüben eingefahren werden.

Die Delmsloher Teute hatten eben angefangen, das erste Fuder zu laden, als ihr junges Fräulein den Wiesenweg daherkam. Sie machte bestimmte Schritte und hatte den Sommerhut, den sie sonst am liebsten tändelnd in der Hand trug, fest im Nacken, »Wo will denn de up to?« fragte der zweite Knecht. »Och, de söcht sick woll all wedder Blomen, so ene hett't god,« meinte eins der Mädchen. Aber der Unecht meinte: »De hett süssen wat.«

Und richtig! Beim Wagen angelangt, sagte sie bestimmt: »Ich will beim Einfahren helfen.« Die Leute sahen sie lächelnd an. Sie hatten die Herrentochter gern und behandelten sie als eine, die noch halb ein Kind war, mit kameradschaftlicher Vertraulichkeit.

Die Aufsicht führte ein älterer Knecht, der schon lange in Herrn Riewitz' Diensten stand und ihm aus dem Osten in die nordwestdeutsche Heide gefolgt war. Er behauptete, mit Spreewasser getauft zu sein, und war weit in der Welt herumgekommen.

»Det freit mir, Freilein,« sagte August, »dat Se sick ooch nich vor de Arbeet schenieren duhn. Hier jebe ick Sie 'ne Harke und Se unterstitzen Trina bei det Nachharken.«

Sie nahm die Harke, sah Trina ab, wie sie angefaßt wurde, und machte sich mit großem Eifer an ihre Aufgabe. Fast doppelt so oft harkte sie zu als das Mädchen, das sich aus seinem Tempo nicht herausbringen ließ. Freilich hatte sie in fünf Minuten auch zwei Harkenzinken abgebrochen.

Als sie eine Weile feiern mußte, weil gerade nichts mehr nachzuharken war, sagte sie, den Harkenstiel in die Erde spießend: »Nein, August, dies kann Trina genug allein. Ich will mit auf den Wagen.«

Der alte Knecht machte ein bedenkliches Gesicht: »Wenn't man jeht?«

Aber sie ließ nicht locker, bis er nachgab, eins der Mädchen vom Wagen steigen hieß und der Herrentochter hinauf half. Hee–i djup! und sie war oben, »Aber immer ejal packen, Freilein,« mahnte er, »dat det eirobäische Jleichjewicht nich aus'n Leim jeht.«

Sie setzte den Hut unternehmend in den Nacken, nahm mit weit geöffneten Armen den Knechten die mächtigen Heuballen von den Forken und stopfte sie weg. Wenn der Wagen ein wenig weiterfuhr, stellte sie sich aufrecht, stemmte die Hände in die Seiten und blickte stolz und kühn in die Welt – meistens nach rechts, wo die Loher kaum zweihundert Schritte entfernt ebenfalls aufluden. Warum die wohl gar nicht einmal hersahen? So etwas gibt's doch nicht jeden Tag zu sehen, daß eine Gutsbesitzerstochter Heu aufladet.

Wie sauer man sich's werden läßt! Sie wischt sich mit dem weißen Taschentuch den blanken Schweiß aus dem Gesicht und fächelt sich Kühlung zu. Aber der drüben mit der Ulanenmütze macht sich daraus gar nichts.

»Freilein, wat ick Sie saje, Se missen ejaler packen,« ruft August zum Wagen hinauf, »et schmeißt sick links riber.«

»Ja, ja,« sagt sie unwillig, »schreien Sie doch nicht so!« Und verstohlen geht ihr Blick nach rechts. Zum Glück haben die drüben den Tadel nicht gehört.

Der Wagen soll eine Wendung nach links machen. Die Pferde legen sich stark in die Riemen, aber tief schneiden die Räder in den weichen Wiesenboden ein. Da nimmt August das Handpferd am Zügel und läßt, die Peitsche in der anderen Hand, noch einmal anziehen. »Üh!« sagt das Fräulein oben ermutigend. Ein Ruck – was ist das? Die Mädchen kreischen, der Boden weicht unter ihren Füßen, sie fühlt sich sinken und sinken, wie in ein unendlich tiefes und weiches Bett, vor den Augen wird's tiefe Nacht. Sie arbeitet mit Händen und Füßen, aber ringsum gibt die Masse nach. Schon will's ihr den Atem benehmen, da endlich fällt ein Lichtstrahl in das Dunkel, und ihr Kopf arbeitet sich aus einem riesigen Heuberg heraus. Sie wischt sich den Heustaub aus den Augen, sieht sich um und sieht in lauter lachende Gesichter. Unwillkürlich geht ihr Blick nach rechts. Natürlich, jetzt haben die da drüben auch Zeit, stehen und gaffen, biegen sich vor Lachen, und der mit der Soldatenmütze treibt es am allerschlimmsten. –

Nun hat sie sich aus dem Heubett herausgearbeitet, und mit glühendem Gesicht tritt sie vor den alten Knecht hin. »Warum fahren sie nicht vorsichtiger? Ich werde das meinem Papa melden,« herrschte sie ihn an. Aber August lachte ihr dreist ins Gesicht: »Freileinchen, det is Ihre schuld janz alleene. Ick hab's sie ja jenijend jesagt, Se sollten fester und ejaler packen!« »Schweigen sie!« schrie sie ihn an, mit dem Fuß aufstampfend.

»Wo ist mein Hut?« wandte sie sich an die Mädchen.

Diese suchten kichernd im Heu.

»Wenn das dumme Lachen nicht aufhört, passiert was,« fauchte sie und holte mit der Hand aus.

Als der Hut sich nicht gleich finden ließ, wandte sie sich kurz auf den Hacken um und ging mit zornigen Schritten davon.

Gegen ihren Willen schweifte ihr Blick noch einmal nach rechts. Die feierten und lachten noch immer. Fast hatte sie Lust, es auch ihnen mal zu sagen, wie sie über solches Benehmen dachte. Aber nein, für solche ungebildeten, rohen Menschen ziemte sich nur stumme Verachtung. »Bande!« stieß sie halblaut heraus.

Als sie die Wiesen hinter sich hatte und den rohen Menschen aus den Augen gekommen war, wurde sie etwas weicher gestimmt. Am liebsten hätte sie sich in einem stillen Winkel ausgeweint wegen ihres Unglücks, und dann wegen der Schlechtigkeit der bösen Welt. Drüben der Loher Wald schien dazu einzuladen, mit seinem stillen Thymianhügel am Bach. Aber nein, den Boden von so ungebildeten Menschen, die einem jungen Mädchen im Unglück so dreist und frech ins Gesicht lachen können, will sie nie, nie wieder betreten. Neulich hatte sie geglaubt, der junge Bauer, der ja freilich nicht mal den Einjährigen hatte, hätte sich in Hannover etwas Schliff und Anstand geholt, aber wie kann der Mensch sich doch täuschen! Und daß sie sich seinetwegen heute so abgequält hatte, um ihm zu zeigen, daß sie nicht bloß Gedichte vorlesen und Sträuße pflücken könnte, das war noch das allerärgerlichste. Für solchen Menschen paßte sich nur stumme, stolze Verachtung.

Aber obgleich sie sich diese zweimal gelobt hatte, mußte sie doch in dem kleinen Herzen wohl keinen rechten Platz dafür finden. Denn sie kroch in ein Gebüsch am Wege und weinte sich gründlich aus. Zuerst weinte sie über ihr Unglück, und zwar nicht nur über das von heute. Indem sie in ihrem Gedächtnis Jagd machte, fand sich von allerhand Mißgeschick ein solcher Haufe zusammen, daß sie sich mit Fug und Recht als das unglücklichste Geschöpf auf Gottes Erdboden fühlen und beweinen konnte, was übrigens im Grunde gar nicht so unangenehm war. Darauf vergoß sie edlere Tränen, indem sie anfing, über die Schlechtigkeit der Menschen, ihre Roheit und Gefühllosigkeit und den Mangel an wahrer Herzensbildung zu weinen. Oh, wie taten diese Tränen wohl, und mit was für einem erhebenden Gefühl flossen sie dahin! Als sie sich des inneren Wertes dieser Tränen bewußt wurde, fing sie an, die kostbaren Tropfen, die wie blanke Perlen in ihr Taschentuch fielen, zu zählen. Die ganz dicken zählte sie doppelt.

Als sie bis siebzehn gekommen war, wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Auf dem nahen Pflaster klapperte ein Wagen. Vorsichtig bog sie das Gebüsch auseinander und lugte hinaus. Da führte August mit seinem Spitzbubengesicht und der Ruhe des guten Gewissens das hoch geladene Fuder vorüber. Wenn so eins umschlägt und jemand sitzt oben drauf, dachte sie, kann's schlimm werden. Und sie war so sanft und weich gefallen. Bei dem großen Unglück hatte doch auch ein kleines Glück nicht gefehlt ...

In einiger Entfernung folgten dem Wagen die Mädchen. Eine trug den verlorenen Sommerhut am Arm. »Wo se woll blewen is ... Alleen harr se de Schuld ok nich. August harr den Bagen rieklich scharp nahmen,« sagte diese, und die andere meinte: »Se is'n gode Deern. Mi deiht't leed, dat se dar so bikamen is. Se is denn to upgeregt und ehrgiezig ...«

Die Mädchen entfernten sich, und die Lauscherin im Busch lächelte unter Tränen. Halb hatte sie den Glauben an die Menschheit schon wieder gewonnen. Es gab doch noch Zartgefühl und Herzensbildung, wenigstens beim zarteren Geschlecht. Bei den Männern natürlich nicht, jedenfalls nicht bei August, der alle Schuld von sich auf ein schwaches Mädchen schob, und bei dem anderen, der so gewöhnlich lachen konnte. –

Die letzten Fuder Heu schwankten auf die Nachbarhöfe, und bald folgten ihnen die ersten Erntewagen. In Delmsloh arbeitete wieder die Maschine, in Lohe die altmodische Sense. Die beiden Höfe hielten in allen Arbeiten gut miteinander Schritt. Wo dort Maschinenkräfte zuerst einen Vorsprung gewannen, holten hier die reichlicheren und besseren Arbeitskräfte ihn bald wieder ein.

Als die letzten Garben eingebracht waren, begann für die Menschen eine ruhigere Zeit. Aber die kleinsten Arbeiter des Lohhofes hatten um so mehr zu tun. Sie waren unlängst von der Frühlingsfahrt in die grüne Marsch zurückgekehrt und hatten in dem Immenzaun hinter den Loher Büschen darauf gewartet, daß die braune Heide Hochzeit machte. Nun hatte sie ihr aus Milliarden roter Blüten gewobenes Brautkleid angezogen, und alles, was da kreucht und fleugt, war zur Hochzeit eingeladen. Da kamen die Blauschmetterlinge, tanzten und gaukelten, und die Laufkäfer prunkten in ihren goldschimmernden Röcken, und die Grillen geigten und machten Freudensprünge, und die bunten Eidechsen lagen als still beschauliche Festteilnehmer in der Sonne, aber die Bürger der geordneten Bienenstaaten waren emsig dabei, vom goldigen süßen Hochzeitswein heimzutragen für sich und für die Herren des Lohhofes. Dabei summten sie der Braut dankbar die Hochzeitslieder. – Das arme Aschenbrödel, die Heide, muß schon mit solcher Hochzeitsmusik, dem Summen der Immen und Geigen der Grillen, zufrieden sein. Die Vögel mit ihrem süßen Schall bemühen sich ihretwegen nicht mehr. Die haben den reichen und vornehmen Töchtern der Mutter Erde, die im wunderholden Monat Mai Hochzeit machen, das Brautlied gesungen.

Was war das an dem schönen, sonnigen Nachmittag des letzten Augustsonntages für ein Summen, Schwirren und Flügelblitzen vor Lohmanns Bienenzaun! Und wo hätte Hinrich sein Sonntagnachmittagspfeifchen behaglicher schmöken können, als dort im Schatten des breiten Wacholderbusches, wo man all das rege Treiben beobachten und in die blühende Heide hinausplieren konnte, an der Seite des alten Imkers, der behaglich priemend Tabak kauend von früheren Honigernten klöhnte und mit pfiffigem Gesicht einige Imkerkniffe verriet, die er vor allen Imkern der Heide voraushaben wollte.

Als Hinrich am späten Nachmittag durch den Wald heimschlenderte, kam er von ungefähr in die Gegend, wo er Anfang Juni mit der kleinen Nachbarin zusammengetroffen war. Ob sie später auch das geliebte Plätzchen wohl einmal wieder besucht hatte – ob sie vielleicht heute dort wieder schwärmte? Zwischen ihren vier Pfählen blieben an solchem Sonntagnachmittag ja nur die allerhoffnungslosesten Stubenhocker.

Karo konnte das ja leicht mal untersuchen. Hinrich warf in hohem Bogen einen Föhrenzapfen in das Gebüsch und sagte leise: »Apporte!«

Der Hund war im Dickicht verschwunden. Sein Herr stand und lauschte.

»Wau, wauwauwau ... mon ami, mon ami!« Nun war alles still.

»Wenn ick't nich dacht harr!« murmelte Hinrich angenehm überrascht vor sich hin.

Was sollte er nun machen?

Still seines Weges weiter gehen und sich um Karo nicht kümmern?

Oder durch Pfeifen ihn zurückrufen?

Oder sollte er in den Busch kriechen und ihn persönlich holen?

Dann kam er natürlich so bald nicht los, dann würden ihm wieder einige tüchtige Scheffel Weisheit zugemessen, Aber dann kriegte er auch wieder ein paar Augen zu sehen, wegen derer man schon einige Unbequemlichkeiten mit in den Kauf nehmen konnte. Die Augen, deren Leuchten er auch in der heißen Arbeit der letzten Monate nicht ganz vergessen hatte.

Und nach dem Klöhnen mit dem alten Knaben am Immenzaun erschien ihm ein kleiner Schnack mit dem mundfertigen jungen Ding gar nicht so unangenehm. Er arbeitete sich also ins Gebüsch hinein.

Als er die Lichtung gewonnen hatte, fand er Karo, wie er sich an das junge Mädchen geschmiegt hatte. Aber sie saß tief über ein Buch gebeugt, ohne dem Hunde und seinem herankommenden Herrn Beachtung zu schenken.

Hinrich machte verwunderte Augen. Dann wandte er sich an den Hund: »So'n Alllerweltsfreund bist du, Karo? Ach ja, das haben wir ja neulich hier gelernt, Mongami ist französisch und heißt auf deutsch: Mein Freund.«

Karo leckte sich verlegen ums Maul. Seine spröde Freundin beugte sich noch tiefer über ihr Buch.

»Komm, Karo, wollen nicht länger stören, hier ist man für uns beide nicht zu Hause,« sagte er befremdet.

Der Hund schien aber keine Lust zu haben, das lauschige Plätzchen zu verlassen. Er legte dem Mädchen treuherzig die Pfote auf den Schoß. Da gab sie ihm, ohne aufzublicken, die Hand und sagte schmeichelnd: »Gutes Tier, ja, ihr Hunde seit viel bessere Freunde als die Menschen.«

»Wieso?« fragte Hinrich keck.

Er bekam keine Antwort.

»Wie meinen Sie das?« fragte er noch einmal.

Nun warf sie ihm von unten herauf einen kurzen, drohenden Blick zu und sagte grollend: »Die Hunde sind nicht schadenfroh. Die lachen einen im Unglück nicht aus.«

»Tun das die Menschen denn?« fragte er verwundert.

»Ja, gewisse Menschen tun das. Und das will ich Ihnen man sagen, Sie sind einer von den Schlimmsten.« Wieder bekam er einen Blick. Potztausend, wie konnten ihre Augen blitzen!

»Aber Fräulein, was habe ich Ihnen denn bloß getan?« fragte er beinahe ängstlich.

»Soo? Nun tun Sie auch noch, als ob Sie das nicht mehr wüßten?« fragte sie, ihn scharf ansehend.

»Ich weiß es wirklich nicht,« versicherte er ehrlich.

»Wie ich da neulich Heu auflud, und, weil August so ungeschickt fuhr, das Unglück hatte, und wie Sie mich da vor allen Leuten ausgelacht haben – das wissen Sie nicht mehr?«

»Ach so, die Geschichte meinen Sie ...« sagte Hinrich erleichtert, und ein Lächeln huschte über seine Züge.

»Und ich will Ihnen auch ganz genau sagen,« fuhr sie erregt fort, »wie ich darüber denke. Einen Menschen im Unglück auslachen, das finde ich herzlos, und ein junges Mädchen im Unglück verhöhnen, das ist in meinen Augen roh, das ist gemein!«

Hinrich wußte nicht, sollte er zu diesem Überfall ein vergnügtes oder zerknirschtes Gesicht machen. Er versuchte das letztere. Aber es mußte ihm wohl nicht recht gelingen, denn sein Gegenüber sagte in hellem Zorn: »Was? Und dabei lachen Sie noch?«

Hinrich biß sich auf die Zunge, um sich zu einem ernsthafteren Gesicht zu zwingen, und die kleine Strafpredigerin fuhr mit ihrer Strafpredigt fort:

»Ich habe mir damals vorgenommen, nie wieder hierherzukommen, und ich ärgere mich, daß ich's heute nachmittag doch mal wieder getan habe. Aber es ist ganz gut so. Nun wissen Sie wenigstens, wie ich über Sie denke. So, nun würden Sie mir einen Gefallen tun, wenn Sie sich entfernen wollten.«

»Ich meinte, mir wären hier in meinem Revier,« sagte Hinrich, dem die Sache allmählich etwas zu bunt wurde.

»Gut, dann gehe ich,« sagte sie schnell und raffte ihr Kleid zusammen, um sich zu erheben.

Aber er bat dringend: »Bitte einen Augenblick noch, dass ich auch mal zu Worte komme!«

»Na, was haben Sie denn noch dagegen zu sagen?« fragte sie, sitzenbleibend und ihn kampfbereit ansehend.

»Ich darf mich dabei wohl setzen,« sagte er ruhig und ließ sich auf einen Busch blühender Heide nieder.

»Müssen Sie sich gerade auf die schönen Blüten setzen?« fragte sie.

»Oh, das schadet der Heide nichts,« meinte er. »Und meiner Sonntagshose auch nicht,« fügte er lachend hinzu.

Der empörte, entsetzte Blick, den er bekam, veranlaßte ihn aber doch, zur Seite zu rücken, so daß die Sträucher sich wieder aufrichten konnten.

»Was ich man sagen wollte, Fräulein, es ist mal in der Welt so, daß jeder, der was lernen will, Lehrgeld bezahlen muß. Und als Sie neulich mit Ihrem Fuder Heu koppheistergingen, das war Ihr Lehrgeld. Und wenn die Lehrjungens Dummheiten machen und Lehrgeld bezahlen, das macht den Gesellen, die schon mehr können, immer Spaß. wenn die Rekruten bei uns in der Reitbahn in den Sand flogen, lachten wir alten Kerls uns 'n Ast. Als neulich unser Hofjunge das Radfahren lernen wollte und direktemang in die Werle segelte, hatten wir n' Spaß, der 'n Daler wert war. Es ist ja am Ende nicht schön, aber so'n büschen Schadenfreude steckt in den Menschen nun einmal drin.«

»Aber die Schadenfreude ist etwas Gemeines,« unterbrach sie heftig. »Ein Mensch, der nur eine Spur von Taktgefühl und Herzensbildung hat, wird sich nie über den Schaden seines Mitmenschen freuen.«

»Soo, na ja... Fräulein, ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein feines junges Mädchen, das hatte viele schöne Gedichte gelesen und konnte Französisch und wußte von Windthorst und war überhaupt so klug, daß es Gras wachsen hören konnte. Dieses feine Fräulein traf nun einmal so per Zufall im Busch einen dummen Bauernjungen, der von all dem gar nichts wußte. Nee, da hat sie gar nicht so'n büschen in sich hineingegnickert, da hat sie sich gar nicht gefreut, daß sie so klug war und der andere so'n Dummerjahn. Nee, das hat sie nicht getan... Das wäre ja auch so 'ne Schadenfreude gewesen und die wäre gemein, ungebildet gewesen ...«

*

Das Mädchen hörte ihm bestürzt zu und zerzupfte nervös einige Moospflänzchen. Plötzlich sprang sie auf, zerdrückte eine Träne in den Augen und rief: »Sie sind ein ganz unausstehlicher Mensch.« Dann bog sie das Gebüsch auseinander, um das Weite zu suchen.

Aber Hinrich rief: »Karo, paß auf!« Und Karo stellte sich ihr in den Weg und zeigte seine weißen Zähne.

»Es ist abscheulich,« sagte sie mit einer Stimme, in der Zorn und Weinen kämpften, »seinen Hund auf ein schutzloses Mädchen zu Hetzen. Pfui!«

Der junge Mann sah sie bewundernd an. Je zorniger, desto schöner wurde sie. »Dor stickt Rasse in,« dachte er.

»Der Hund soll Ihnen gar nichts tun,« sagte er. »Sie sollen mir nur nicht weglaufen, bis wir die Sache vernünftig zu Ende gesprochen haben.«

»Was Sie mir noch sagen wollen, ist mir so egal, als wenn Ihr Hund kläfft,« sagte sie und schnippte mit dem Finger.

»Aber hören sollen Sie's nun!«

»Na, dann reden Sie los, aber kurz,« sagte sie, indem sie trotzig den Hacken in den Sand bohrte.

»Ich habe mich neulich, als wir im Heu waren, gewundert und gefreut, daß Sie so fest zupackten bei der Arbeit, die Sie noch niemals getan hatten. Ja, ich hab's wohl gesehen, das war keine Spielerei aus Langerweile, das war Arbeiten, da saß Zug in. Da dachte ich in meinem Sinn: Kuck einer an, sie kann doch noch was anderes als so'n büschen Französisch und Gedichte und Geschichte; wenn sie's erst kennt, nimmt sie es mit mancher Deern auf. Das habe ich gedacht.«

Er warf einen prüfenden Blick nach seinem Gegenüber. Dort brach durch die Regen- und Gewitterwolken schon ein klein wenig Sonnenschein hindurch.

»Hier im Busch sitzen und schwärmen,« fuhr Hinrich fort, »an den Blumen riechen und sich von den Vögeln was vorflöten lassen, habe ich nichts gegen, ist ja ab und an mal ganz schön. Aber jeden Tag und den ganzen Sommer durch, wo alle ordentlichen Menschen sich quälen – nehmen Sie das nicht für ungut –, ich für mein Part kann vor einem Frauenzimmer, das nichts anderes sinnt und denkt, keine Achtung haben. Neulich hatten wir ja das Dingschen vor, von Goethe war's ja woll: Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn. Fräulein, wenn wir das alle immer so machen wollten, dann müßten wir alle verhungern. Nee, arbeiten soll der Mensch... Ich bin eben in unserem Immenstand gewesen. Die kleinen Immen sind heute mächtig fleißig, wie'n Blitz geht's immer durch die Luft. Aber nicht alle wollen sie arbeiten. Was die Drohnen sind, die wollen wohl schwärmen, mal hierhin fliegen und da an einer Blume riechen, aber arbeiten, sammeln für den Winter, das wollen sie nicht. Darum sagen denn ja auch nachher, was die rechten Immen sind: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, reiten eine scharfe Attacke und stechen sie mit ihren Lanzen alle tot. Sehen sie, Fräulein, darum habe ich mich gefreut, daß Sie keine Drohne, sondern eine Imme sein wollen. Aber die jungen Immen müssen das Arbeiten auch erst lernen. Wenn sie just erst aus den Waben gekrochen sind, schafft's noch nicht viel. Aber die lüttjen Dinger werden nicht müde, und bald haben sie's weg, wenn'r nur die rechte Art in steckt. Und so ist's mit uns Menschenkindern auch. Es fällt kein Meister vom Himmel. Aber wenn'r nur die rechte Art in steckt, denn wird zuletzt der dümmste Lehrjunge ein Meister und der dämlichste Rekrut ein Gefreiter. Nun kommt ja bald das Etgro, das Nachgras heißt das ja woll auf hochdeutsch. Und dann fassen sie man immer feste mit an! Allein können's die schönen Maschinen, die Ihr Papa sich angeschafft hat, doch nicht machen. Und denn packen Sie immer rechts und links umschichtig und stopfen's mit Händen und Füßen gut weg. Und denn können Sie sich dreist obenaufsetzen und wie 'ne Königin auf Ihren Hof fahren. Und wenn ich's just zu sehen kriege, will ich meine Mütze abnehmen und sagen: »Bravo!«

Das junge Mädchen hatte sich während seiner langen Rede völlig beruhigt. Als er geschlossen hatte, sagte sie schelmisch: »Ich glaube, Herr Lohmann, Sie könnten junges Volk, das noch nichts versteht, gut anlernen.«

»Nee,« meinte er, »dazu bin ich nach zu jung und mache selbst noch manchen Pudel. Vater muß noch oft mit seinem Verstand aushelfen. Aber Sie haben ja den allerbesten Lehrmeister, Ihren Papa. Der hat viel mehr gelernt als unsereiner. Bei uns Bauern geht das immer so weiter, wie's von Urgroßvaters Zeiten gewesen ist.«

»Ganz gewiß,« erwiderte das Mädchen mit Überzeugung, »mein Papa ist ein tüchtiger Landwirt. Er hat dicke Bücher und liest viel darin, und er versucht manches, was noch kein Mensch probiert hat. Aber ob er ein guter Lehrmeister ist? Nein, offen gestanden, das glaube ich nicht. Er bedenkt nicht, wie schrecklich wenig ein junges Mädchen, das immer in der Stadt auf Schulen und in Pension gewesen ist, von allen diesen landwirtschaftlichen Dingen versteht. Darum ist er immer kurz angebunden und wird leicht ungeduldig, wenn man ihn so viel fragt.«

»Aber denn haben Sie ja die Haushälterin.«

»Ach ja, Frau Wacker ist ja eine tüchtige Person, sauber und pünktlich, und quälen tut sie sich vom Morgen bis zum Abend. Papa meint, sie ist ein Juwel von einer Haushälterin, und das mag sie in manchen Stücken ja auch wohl sein. Aber die Leute nennen sie unter sich immer nur den Drachen, und ein Drache ist sie auch. Sie fährt dazwischen wie ein Ungewitter, und auf ein paar Ohrfeigen für die Mädchen kommt's ihr gar nicht an. Papa sagt immer, ich sollte nur immer folgsam sein und gut aufpassen, ich konnte viel bei ihr lernen. Das mag ja auch wohl sein. Aber es ist ein saures Lernen, wenn ich mal was verkehrt mache, kriegt sie gleich einen roten Kopf und braucht Worte, die ich gar nicht in den Mund nehmen mag. Abends, wenn ich zu Bett gehe, setze ich mich manchmal noch eine halbe Stunde vors Fenster und weine mich satt.«

Auch jetzt in der Erinnerung schimmerten ihre Augen feucht.

»Na, Fräulein,« sagte Hinrich treuherzig, »nun weinen sie man nicht, das mag ich gar nicht gern sehen.«

Nach einer Weile sagte er munter: »Ich will Ihnen mal was sagen, was Sie da jetzt durchmachen, das ist für Sie dasselbe, was für uns junge Kerls die Kommißszeit ist. Und das erste Jahr, die Rekrutenzeit, ist immer das schlimmste. Aber dat is man'n Öwergang, sä de Voß, da treckten se em dat Fell öwer de Ohren. Nachher, wenn einer seinen Dienst kann, ist das Ganze ein Kinderspiel. Als ich zuerst nach Hannover kam, kriegte mich der schlimmste Leuteschinder im ganzen Regiment zwischen die Finger. Ich sage Ihnen, gegen diesen Hund ist Ihr Drache ganz gewiß der reine Engel. Na, da sitze ich einmal eines Abends auf meinem Schemel in der Kaserne, den ganzen Tag hatte mich der Kerl geschunden, und wie ich da an Muttern denke und den Lohhof, und wie sie da nun wohl so gemütlich in der Dönze zusammensitzen und die Frauensleute spinnen und Vater schmökt die Pfeife, da läuft mir in den Augen das Nasse zusammen. Aber auf einmal fliegt mir ein Stiebel an den Kopp, und ein alter Kerl, der schon zwei Jahre herum hatte, sagt: ›Biste 'n old Wief oder biste 'n Königsulan?‹ Und nachher, als die anderen auf der Stube alle schliefen und ich gar nicht einschlafen konnte und mich immer wieder auf die andere Seite drehte, da kam er an mein Bett heran – es war einer aus unserer Gegend und hat neulich schon gefreit – und sagte: ›Hinnerk,‹ sagt er, ›hol de Ohren stief! Wat düsse verdammten Keerls di ok utschimpt und rankriegt, du mußt jümmer denken: den Puckel rup, den Puckel hendal! Du mußt di jümmer seggen: Dree Jahre sünd bald herum, und denn bin ick'n groten Bur, und ji möt jo wieder schinnen, bet ji mal'n Platz as Schriewer oder Schandarm oder so wat kriegt.‹ Und so habe ich das denn auch gemacht, und geflennt Hab' ich gar nicht wieder. Nun sind die drei Jahre ja längst herum, und es ist doch eine schöne Zeit gewesen, die Ulanenzeit? die gibt Stahl ins Blut, und dummer bin ich auch nicht wieder nach Muttern gekommen. Aber was ich man sagen wollte: Fräulein, halten Sie die Ohren steif! Weinen müssen Sie nicht zuviel, wenn Ihnen dafür auch keiner 'n Stiebel an den Kopf schmeißt. Da werden Sie bloß häßlich von, und das wäre schade. Denn, wie ein Einjähriger in meiner Schwadron mal sagte: ›Häßlichkeit entstellet immer, selbst das schönste Frauenzimmer.‹ Sie müssen immer denken wie ich als Rekrut: den Puckel rauf, den Puckel runter. Wenn diese Lernzeit rum ist, dann bin ich auch was, und du olle Schraube bleibst, was de bist. Es ist man'n Übergang, und das Fell kostet's noch nicht mal wie bei dem Fuchs ...«

Das junge Mädchen hatte mit sehr gemischten Gefühlen zugehört. Eigentlich fand sie es unpassend, daß er so kommißmäßig zu ihr sprach, und einige Male war sie im Begriff, sich diesen Kasernenton zu verbitten. Aber unter dem Blicke seiner treuherzigen Augen hatte sie es nicht fertiggebracht. Er meinte es jedenfalls gut, und so ganz unrecht hatte er am Ende auch nicht. »Ja,« sagte sie, als er geschlossen hatte, nachdenklich, »bei euch Männern mag das wohl sein. Aber wir sind das schwächere Geschlecht, wir können verlangen, etwas zarter angefaßt zu werden.«

»Ach wat, Schnickschnack,« lachte der junge Bauer, »so schwach seid ihr gar nicht. Ihr brecht auch nicht gleich kaput, wenn euch mal einer ohne Handschuhe anfaßt, wenn eine als Frau nachher fest zufassen soll, – und die das nicht können, die sollen sich man in Watte packen und in den Glasschrank setzen lassen – denn muß sie in ihren jugendlichen Jahren auch mal fest angefaßt sein. Bloß mit Eia popeia, min söte Kind, und mit schönen Gedichten und'n büschen Französisch wird keiner ein rejaliges Menschenkind, wir Kerls nicht, und ihr Deerns und Fräuleins auch nicht.«

»Sie reden ja heute wie 'n Buch,« sagte das junge Mädchen verwundert.

»Na, über so öwerkröppsche überspannte Lachen wie neulich sprechen wir heute ja auch nicht. Das sind ja ganz einfache Geschichten, die einer von seiner Mutter mitkriegt.«

»Ja, ja. 3ie haben noch eine Mutter,« sagte sie, plötzlich in einen ganz ernsten Ton verfallend.

»Ja, Gott sei Dank, und die will ich auch noch lange, lange behalten,« sagte Hinrich froh.

»Ich habe keine Mutter mehr,« erwiderte das Mädchen leise. Und dann fortfahrend, wie für sich: »Ja, wenn man noch eine Mutter hätte und könnte abends den Kopf an ihre Brust legen und ihr sagen, was einen drückt, und sie legte dann die warme, weiche Hand einem aufs Haar und streichelte so leise darüber hin und sagte: Nun weine man nicht, liebes Kind. – – Ich habe das auch einmal gehabt, aber zwei Jahre ist das nun vorbei. – – Wer keine Mutter mehr hat, der ist ganz verlassen auf der Welt. – Mit den Vätern ist das ganz anders. Die sagen einfach: stell' dich nicht so an, hab' dich man nicht! Die verstehen einen nicht, wenigstens nicht uns Mädchen.«

Hinrich sah sie mit warmer Teilnahme an. Ja, diese Tränen verstand er. Wenn er daran dachte, wie er es ohne seine gute Mutter aushalten sollte, die ihn so gut verstand, die immer mit ihrem warmen Herzen so treu zwischen dem harten Kopf seines Vaters und seinem, der auch nicht weich war, vermittelte, – er mochte gar nicht daran denken ... was konnte er nur sagen, um das arme, mutterlose Kind zu trösten? Soldatengeschichten gehörten hier nicht her. Sollte er sie hinweisen auf den Herrgott, der keinen guten Deutschen verläßt? Vielleicht hätte er es getan, wenn ihm nicht plötzlich etwas eingefallen wäre, was ihm noch besser gefiel. »Fräulein,« sagte er treuherzig, »ich möchte woll, daß Sie meine Mutter mal besuchten.«

Sie sah ihn verwundert an. »Meinen Sie das im Ernst? Dürfte ich das wohl mal?«

»Warum denn nicht? Wir sind doch Nachbarn.«

»Ja, aber keine guten Nachbarn, glaube ich. Mein Papa hält nicht viel auf Ihren Papa.«

»Und mein Vater noch weniger auf Ihren Vater,« fuhr Hinrich lächelnd fort. »Der eine ist ein altmodischer, der andere ein Neumodischer, der eine ist ein platter Bauer, der andere ein gelernter Ökonom, der eine ist ein Welf, der andere ein Liberaler.«

»Ja, wie kann aber Ihr Vater auch bloß noch ein Welf sein!« sagte das junge Mädchen, das die Partei ihres Vaters ergreifen zu müssen glaubte.

»Na,« meinte Hinrich ablenkend, »diese alten Geschichten wollen wir heute man lassen, von diesen Dingen haben wir beide noch zu wenig Ahnung. was Sie da neulich sagten von Windthorst und von Katholischmachen, hatte auch wohl nicht ganz seine Richtigkeit, wie ich mir nachher man überlegt habe. Das wollen wir ruhig für die Alten lassen, und wenn die sich dabei nicht vertragen können, müssen sie's bleiben lassen. Aber ich meine, wir Jungen haben bis jetzt doch immer ziemlich gute Nachbarschaft gehalten, und das könnt ihr Frauen gewiß noch besser.«

»Aber Ihr Vater? wird der mich auch nicht hinauswerfen?« fragte das junge Mädchen, dem die Sache sonst wohl einzuleuchten schien, noch immer etwas bedenklich.

»Nee, Fräulein, so'n Grobian ist Vater nicht, wer in unser Haus tritt, wird als Gast ordentlich behandelt, wenn's nicht gerade ein zerlumpter Reisender von der Straße ist. Und was das beste ist, Vater ist morgen überhaupt nicht zu Hause. Er muß für einige Tage nach Celle zum Schwurgericht. Wollen Sie meine Mutter morgen nachmittag besuchen?«

»Ja, wollen mal sehen,« sagte das Mädchen zögernd. »Aber zu sagen brauchen Sie ihr vorher nichts davon,« fügte sie, noch immer unsicher, hinzu.

»Nein, das sieht Mutter ja früh genug, wenn Sie da sind. Denn kommen Sie man. Es ist ja nicht Ihre Mutter, aber doch 'ne Mutter, und ich glaube, was gute Mütter sind, die sind beinahe alle überein. Sie brauchen ihr aber nicht just zu sagen, daß wir dies miteinander ausgeheckt haben. Aber sonst können Sie ihr alles ruhig sagen, was Sie wollen. Sie sagt's keinem Menschen wieder, nicht mal mir.«

»Ja, denn will ich kommen, Herr Lohmann,« sagte das Mädchen entschlossen, »jetzt muß ich aber machen, daß ich nach Hause komme. Sonst macht Frau Wacker wieder Skandal. Aber bang bin ich heute nicht.«

Sie stand auf und reichte Hinrich die Hand zum Abschied. Es war das erstemal, daß er das kleine, zarte, schmale Ding in seiner breiten, braunen Bauernhand hatte. Dann schlüpfte sie durch das Gebüsch. Hinrich sah, wie die Zweige sich schlossen, wie ihre Gestalt in der grünen Dämmerung verschwand, und hörte, wie ihr leichter Schritt sich schnell entfernte. Er setzte sich wieder und schüttelte den Kopf. Nein, diese Kinderhand, die er eben in seiner Hand gehabt hatte, würde es wohl nie lernen, fest zuzufassen. Die war, wie es schien, nur fürs Blumenpflücken und häkeln gemacht, was hatte dagegen das Gretschen vom Dierkshof, das seine Eltern so sehr lobten und das überhaupt eine ansehnliche Person war, für Hände! Wenn die mit ihren beiden Händen einmal in den Schrotsack griff, um den Schweinen von dem Gerstenschrot zuzumessen, mußte diese von der Nachbarschaft sicher dreimal hineinlangen. Und nun fiel's ihm ein, geradeso klein wie die Hände waren auch ihre Füße gewesen. In dem Lande hatte sich eine ihrer Fußspuren deutlich abgedrückt. Nicht mal eine Spanne lang. Das Gretschen lebte auf einem doppelt so großen Fuße zum mindesten. Aber einerlei, Rasse hatte sie doch. Und heute hatte sie ihm ganz gut gefallen, viel besser als das erstemal. Ihre Weisheit hatte sie diesmal mehr für sich behalten. Neulich war er mit dem unbehaglichen Gefühl davongegangen, daß er doch man ein dummer Junge wäre und sie sich über ihn lustig gemacht hätte, heute sagte ihm eine Stimme: »Hinnerk Lohmann, du bist doch 'n ganzer Kerl! Wie fein hast du die sperrige, fauchende kleine Wildkatze zahm gemacht! Die hat's heute mal gemerkt, daß der Mensch nicht erst beim Gutsbesitzer anfängt, und daß einer auch ohne Französisch und hohe Schulen ein ganzer Kerl sein kann.«

Und morgen wollte sie ja nun auch nach Lohe kommen, Hinrich kratzte sich hinterm Ohr. Wenn sie mit dieser Verabredung nur keine Dummheit gemacht hatten! Aber womit hätte er sonst das um die tote Mutter weinende Mädchen trösten sollen? Na, Vater war ja dann verreist, und Mutter würde schon den rechten Dreh mit der Sache kriegen. Dann konnte das arme Ding sich mal ordentlich aussprechen. Heute hatte sie das ja auch schon getan, aber mit Mutter konnte sie das ja noch viel besser.

Mit sich selbst und dem Verlauf dieses Sonntagnachmittags sehr zufrieden, zog Hinrich seinen Tabaksbeutel aus der Tasche, stopfte sich ein Pfeifchen und schritt selbstbewußt, mächtige Rauchwolken vor sich herstoßend, dem väterlichen Gehöfte zu. Die untergehende Sonne warf ihre schrägen Strahlen durch den Wald, und sein gewaltiger Schatten spazierte zwischen den rotleuchtenden Fuhren vor ihm her.

Als er durch das Tor trat, sagte er sich: »Morgen geht sie hier durch.« Einen ausgedienten Holzschuh, der sich dort herumtrieb, nahm er auf und warf ihn mit mächtigem Schwung in den Wald.

Er ließ seine Blicke über den großen, schönen Hof und die stattlichen Gebäude schweifen, was würde sie für Augen machen, wenn sie das alles zu sehen kriegte! Hof Lohe brauchte sich solchen Besuches nicht zu schämen.

Er mußte diesen Abend immer wieder das gute Mütterlein ansehen. Wie glücklich war er, daß er die noch hatte! Wie würde sie sich wundern, daß er solche Mutter hatte! –

Als Hinrich am andern Morgen seinen Vater zur Bahn fuhr, sagte dieser: »So, min Jung, düsse Wäk bist du nu Bur. Paß god up und hol allens god in Ordnung!«

»Ja, Vader, dar kannst du di up vertaten.«

»Und wenn de Swineupköper kummt und will unse Faselswien köpen, unner twintig Daler geiht keen Stück weg. De Swien sünd upstunns god in pries.«

»Ick weet, ick weet, Vader, bat wöt wi woll kriegen.«

»Und wenn du mal nich Bescheed weeßt, denn frag Muddern man,« fuhr der Alte fort.

»Ja, ja,« sagte der Junge etwas ungeduldig, »Mudder is'r ja, und ick bin doch ok keen dumme Jung mehr.«

»Jao, dat seggst du woll, abers junge Lüe sünd man jümmer wat kort van Gedanken ...«

Als Hinrich sein Gefährt wieder auf den Hof lenkte, strich er mit Behagen seinen Schnurrbart in die Höhe. Es war doch ein stolzes Gefühl, als Bauer, der das Kommando in Händen hat, auf den Hof zu traben. Es war ihm beinahe auffällig, daß der ihm begegnende Häuslingsjunge nicht die Mütze vor ihm zog.

Mit den Augen des Mannes, der die volle Verantwortlichkeit fühlt, sah er sich um. Ja, ein schöner Hof war's doch nur einmal, der Hof seiner Väter und sein Erbe. Delmsloh, das er vorhin von der Straße aus scharf ins Auge gefaßt hatte, konnte sich längst nicht mit Lohe messen – mit diesem breiten Bauernhause, diesen Speichern und Ställen, die alle aus Eichenkernholz gebaut waren. Aber sein prüfendes Auge entdeckte auch einiges, was ihm nicht gefiel. Der Düngerhaufen vor den Türen des Kuhstalls war gar zu unordentlich und polterig, an den Rändern scharrten die Hühner den wertvollen Mist auseinander. Das mußte anders werden. Der Haufen mußte rechteckig werden mit senkrechten Wänden. Dann hielt die Gare besser zusammen, und die Hühner konnten nicht schaden. Gedacht, getan. Er rief einige der Leute herbei und gab die nötigen Anweisungen. Als er den Rücken gewandt hatte, hörte er, wie sie lachten und sich zuflüsterten: »He will sich upspälen.« Aber er ließ sich nichts merken.

Auch das Holzlager an der Scheune gefiel ihm nicht. Kernholz und Spricker lagen durcheinander, und das schon zerkleinerte Holz bildete einen wüsten Haufen. Als die Leute den Düngerhaufen aufgesetzt hatten, erwartete sie hier neue Arbeit, die der junge Bauer schon in Angriff genommen hatte. Das gröbere Holz und die Spricker sollten gesondert und die Scheite zu einer kunstvollen Pyramide aufgeschichtet werden. Die Leute machten lange Gesichter, als Hinrich diesen Befehl gab. Fieke, die Großmagd, aber stemmte die kräftigen Arme in die Seiten, sah ihn keck an und sagte: »Segg mal, Hinnerk, wat schall düt Spellwark? Kummt de Kaiser vandag heute to Besök?«

»Hol din Mul, Fieke, und do, wat di seggt ward! Ick will Ordnung up den Hoff hewwen!« sagte Hinrich in einem Tone und mit einem Blick, der keinen weiteren Widerspruch zuließ. Am meisten amüsierten sich die Leute aber darüber, daß der Hofjunge alle Andenken, die die Kühe beim Austreiben in die Weide auf dem Hofe zurückgelassen hatten, sorgsam auf die Karre laden und oben auf den Düngerhaufen werfen mußte. Fieke rieb sich mit dem Holzstück, mit dem sie auf den Jungen gewiesen hatte, sehr nachdenklich die Stirn, was bei den anderen große Heiterkeit erweckte.

Der junge Bauer legte die Arme ineinander und blickte noch einmal prüfend über den gesäuberten Hof. Ja, jetzt konnte der sich sehen lassen. Nun brauchte er sich nicht zu schämen, wenn am Nachmittag der feine Besuch kam.

Als er zum Mittagessen über die große Diele ging, entdeckte sein scharfes Auge auch hier mancherlei, was ihm nicht nach der Mütze war. Aber dies war ja das Gebiet seiner Mutter, und ihr konnte er nicht gut dreinreden.

Als er zufällig aus dem Fenster der Stube blickte, sah er drüben auf der Landstraße die unverkennbare Gestalt des Pastors von Wiechel dahinschreiten. »Mudder,« sagte er, »dar loppt unse Herr Pastor. He hett kortens to Vader seggt, he woll us nahsten mal besöken. Et kann wän, dat he vandag noch vörspräken deiht. Heww di dar man 'n bäten up!«

»Jo, Hinrich, is man god, dat du em wies worrn bist,« sagte Mutter Lohmann ganz aufgeregt. »De Deerns schöt mi glieks helpen, dat wi dat Hus man rein kriegt.«

Gleich nach dem Essen mußten die Mädchen das ganze Haus fegen, das Flett mit weißem Sand bestreuen, die Messingteile am Herd blank putzen, Jagd auf Spinngewebe machen usw. »Ick glöw würklich, de Kaiser kummt,« brummte Fieke. Da sagte eine andere, die es von der Frau gehört hatte, der Pastor käme heute nachmittag. »Dat is wat anners,« meinte Fieke und war nun, wo sie einen vernünftigen Grund und Zweck einsah, die fleißigste von allen.

Mutter Lohmann sah nach den Vorräten an Kaffeebrötchen und Zwiebäcken, die sie, wie Fritz Reuter seine Pomuchelkoppsche, in dem sauberen Wäscheschrank aufbewahrte, und die deshalb ebenfalls einen leichten Geschmack von grüner Seife anzunehmen pflegten. Dann stieg sie auf den Speicher und wählte eine Prachtscheibe goldgelben Honigs aus. Endlich ging sie in ihre Kammer, um sich empfangsbereit zu machen. Sie zog nicht gerade eines der besten Kleider an, – das hätte zu gemacht ausgesehen. Ein sauberes blaues Hauskleid mit weißen Tupfen war in diesem Falle das richtige. Die allerletzte dieser einstweiligen Vorbereitungen war, daß sie in der guten Stube die Prachtbibel, die ihr einmal ein hausierender Taugenichts für einen unglaublichen Preis angeschnackt hatte, aus der Schutzhülle nahm und so hinlegte, daß die großen goldenen Buchstaben des Deckels dem Herrn Pastor recht in die Augen leuchten mußten.

Hinrich rieb sich vor Vergnügen die Hände, als er sah, wie eifrig das Haus sich rüstete, seinen Besuch würdig zu empfangen. Die Hauptsache war nun ja, daß der Herr Pastor für dieses Mal glücklich vorbeiging. Denn wenn der auch kam, gab's natürlich eine Unterhaltung zwischen ihm und der Mutter, und die Hauptperson, um deretwillen er Hof und Haus auf den Kopf gestellt hatte, saß stumm dabei. – Er ging nun in seine Kammer, um auch sich selbst fein zu machen. Als er wieder erschien, war das Schnurrbärtchen kühn nach oben gewirbelt, und über der sauberen Weste hing eine breite Nickelkette mit einem kleinen silbernen Sporn und dem blank polierten Backenzahn eines Pferdes.

So begab er sich auf den Hof und nahm eine saubere Beschäftigung vor, indem er die Harken für die nahe zweite Heuernte nachbesserte. Von der Arbeitsstätte, die er sich gewählt hatte, war der Blick auf die Straße und auf den verwachsenen Fußweg nach Delmsloh frei. Sooft er nach der Straße sah, freute er sich, den Herrn Pastor nicht zu sehen, und sooft er den Fußweg entlang blickte, fühlte er eine leichte Enttäuschung, daß die Erwartete noch immer nicht kam. –

Mutter Lohmann stand unterdessen am Herd und hielt das Wasser kochend. Die Bohnen lagen in der Kaffeemühle bereit. Die brauchte dann nur schnell einige Male umgedreht zu werden. Die Uhr in der Stube schlug vier. Wenn er heute doch bloß käme, es war alles so schön in Ordnung. Als er im letzten Herbst vorgesprochen hatte, war er gerade in die Wursterei hineingefallen. –

Da, horch, Fußtritte auf den Steinfließen vor der Belangendör Seitentür – Das muß er sein. Ein langes, umständliches Fußreinigen – er ist es sicher, unserer Art Leute machen nicht so viele Umstände. »Gon Dag ok, Herr Pestohr, dat is mal schön, dat Se uns ok mal besökt,« nimmt Mutter Lohmann auf ihre Zunge. Die Tür wird geöffnet, aber, was ist das? keine schwarze Gestalt, sondern eine rote füllt ihren Rahmen, und ein feines junges Mädchen tritt in das Flett. Die gute Frau am Herde denkt in ihrem Schreck zuerst an des Pastors Tochter, aber die kennt sie ja, die ist größer und breiter. Sie steht ratlos, und in ihrer Ratlosigkeit hebt sie den Deckel von dem Wasserkessel und setzt ihn wieder auf. Aber das junge Mädchen ist herangekommen, hat ihre von dem aufströmenden Dampf feuchte Hand ergriffen, ehe sie in der Schürze getrocknet werden konnte, und sagt etwas befangen: »Liebe Frau Lohmann, ich heiße Else Riewitz und bin die Tochter von Ihrem Nachbarn in Delmsloh.«

»Und ... womit ... kann ick Se deenen?« brachte die Frau stockend heraus.

»Oh, ich wollte eigentlich nichts,« sagte das Mädchen, durch die Frage peinlich berührt. »Ich wollte bloß eben mal auf der Nachbarschaft guten Tag sagen.«

»Gon Dag ok,« sagte Frau Lohmann, der es einfiel, daß sie in ihrer Überraschung den Gruß noch schuldig geblieben war.

Nun standen sie stumm und verlegen nebeneinander am Herde.

Endlich brachte der überkochende Wasserkessel Mutter Lohmann auf einen guten Gedanken: »Kamen Se rin in de Stuw', Se schöt 'n Tass' Kaffee utdrinken.« Sie führte das Mädchen in das beste Zimmer und nötigte es in das Sofa, dessen Sprungfedern trotz des leichten Gewichts bedenklich knackten. Dann ging sie ohne weitere Förmlichkeiten wieder hinaus.

Die Besucherin sah ihr enttäuscht nach. Das also war Hinrichs Mutter! – Sie mochte ja eine herzensgute Frau sein, aber Lebensart hatte sie nicht viel. Eine peinliche Geschichte, dieser Besuch! Wenn sie nur erst ihre Tasse Kaffee ausgetrunken hätte und wieder draußen wäre!

Sie fing an, sich im Zimmer umzusehen. Unter den Bildern an den Wänden fesselte ihre Aufmerksamkeit vor allem das eingerahmte Bildnis eines mit eingelegter Lanze erstaunlich kühn dahersprengenden blauen Ulanen. Die gestreckten Vorder- und Hinterbeine des Pferdes bildeten mit dem Bauch eine gerade Linie. Ach, das war gewiß ihr Bekannter aus dem Walde, und sie schlich auf den Zehen hinzu, um das Bild genauer zu sehen. Da entdeckte sie, daß das Ganze ein Buntdruck war, dem der photographierte und mit kirschroten Backen bemalte Kopf nur aufgeklebt war, und der gutmütige Ausdruck des voll dem Beschauer zugekehrten Gesichts schien dem verzweifelt heldenhaften Gebaren des Rumpfes wenig angemessen zu sein. Sie lächelte und rümpfte schnippisch das Näschen, was für eine Geschmacklosigkeit, solch ein Dings sich in die beste Stube zu hängen! Überhaupt, wie wenig Geschmack zeigte der Schmuck des Zimmers! Sie suchte mit den Augen, fand aber kein Stück, das irgendwie ihren Blick an sich gezogen hätte. Von alter Bauernkunst, über die sie in einem Jahrgang der Zeitschrift »Niedersachsen« einmal gelesen hatte, keine Spur! Frau Lohmann stieg durch diese Betrachtung ihrer Besuchsstube nicht in der Achtung des Gastes.

Aber es schien, als ab sie draußen mit dem Bereiten des Kaffees allmählich fertig würde, und das junge Mädchen schlich an ihren Platz zurück. Eben, als die Sprungfedern wieder knackten, knarrte auch die Tür, und die Frau trat ein, auf dem Präsentierbrett eine Schüssel mit Backwerk, Teller mit Butter und Honig, die Kaffeekanne und eine einzelne Tasse tragend. Nachdem sie diese vollgeschenkt und zum Zulangen genötigt hatte, blieb sie, die Hand auf dem Topfdeckel, aufwartend neben dem Tische stehen.

»Aber, beste Frau Lohmann, wenn ich durchaus eine Tasse Kaffee trinken soll, dann müssen Sie doch eine mittrinken.«

»Nee, nee,« sagte die andere, »ich kann genug nachher trinken.«

»Dann trinke ich auch nicht,« erklärte der Gast, sich unwillig im Sofa zurücklehnend.

Da endlich holte Frau Lohmann sich eine Tasse, und endlich, nachdem sie zuerst darauf bestanden hatte, daß sie auf einem Stuhl Platz nehmen wollte, saßen die beiden nebeneinander im Sofa, das Rosakleid aus Musseline neben dem blauen Nesselkleid, das zarte weiße Gesicht neben dem braunen runzeligen, und zwischen ihnen quälte sich schleppend, von Pausen und Verlegenheitsräuspern unterbrochen, ein Gespräch über das Wetter, über die Ernte und über eine vielerörterte Einbruchsgeschichte, die in Wiechel passiert war. Frau Lohmann sehnte sich nach ihrem Pastor, Else nach ihrem Drachen, innerlich ergrimmt über Hinrich, der sie in diese peinliche Lage gebracht hatte.

*

Aber der Kaffee! – er war gut, Mutter Lohmann hatte von den für ihren Pastor berechneten Loten nichts abgeknappt – der tat auch hier wieder einmal Wunder, schon die zweite Tasse brachte das Eis zum Schmelzen, und dann stieg die Atmosphäre mit jedem Schluck um einige Grad Wärme. Eine altmodische, buntgeblümte Kaffeemütze hinderte in der zwiebelgemusterten Kanne die wohltätigen Geister Mokkas am vorzeitigen Entweichen.

»Wo gefallt Se dat denn hier in de Lünborger Heide?« fragte Mutter Lohmann.

Es war ja auch noch eine der üblichen Fragen, aber sie war doch schon anders gestellt, als vorher die Frage nach dem mutmaßlichen Ertrage der Maggerboners. Magnum bonum, Kartoffelart Und so war denn auch die Temperatur der Antwort viel wärmer.

»Oh, ich finde die Heide einfach entzückend, und jetzt blüht sie ja! Die meisten Menschen ahnen gar nicht, was für eine zauberhafte Stimmung auf der bienenumsummten, honigduftenden Heide liegt.«

»Jeao, dat seggt unse Scholmester ok jümmer. Aber is dat Se nich mannigmal bannig eensam up Ehren Hoff? Wi alle ründumto sünd ja man platte Buern.«

»Gewiß, man lebt hier ja im allgemeinen sehr einsam. Aber ich muß doch sagen, die Leute in dieser Gegend finde ich ganz nett. Man muß sich ja erst an sie gewöhnen, aber ich glaube, die meisten meinen es ganz gut.«

»Slechte Lüe giwt't allerwegen und ok in de Heide. Abers, mat ick man seggen woll, de slechste Ort Lüe is dat süssen hier nich. Und ok mit de Deensten heit Ehr vader dat god drapen. Dat is ja hüdiges Dages jümmer de Hauptsack. Den Knecht und dat grote Mäken kenn ick woll. De sünd gor nicht wietloftig und gode Öllern Kind.«

»Ja,« pflichtete das junge Mädchen etwas kleinlaut und zögernd bei, »es sind wohl rechtschaffene und fleißige Leute, aber leider haben beide gekündigt.«

»Wat? Beide hewwt se den Deenst upseggt?« rief die Frau erschrocken. »Du lewe Gott, dat is 'ne slimme Sack, wenn eener de Deensten nich holen kann ...«

Der Tochter schien in den letzten Worten ein Vorwurf gegen ihren Vater zu liegen, deshalb sagte sie schnell, indem sie ihrer Nachbarin die Hand auf den Arm legte: »Frau Lohmann, glauben sie mir, mein Vater ist daran nicht schuld. Es kommt wohl mal vor, daß ihm der Geduldsfaden reißt. Aber sonst ist er gut und gerecht gegen die Leute. Die Schuld liegt nach meiner Ansicht« – hier nahm sie eine sehr altkluge Art zu sprechen an –»erstens an den Leuten selbst, die sehr weitgehende Ansprüche stellen. Das ist aber nicht nur in der Heide so, das ist der Zug der Zeit. Mein Papa findet übrigens, daß die Niedersachsen keine besonders guten Dienstboten sind. Das Gefühl des Standesunterschiedes säße ihnen längst nicht so in den Knochen, wie den Leuten drüben im Osten, wo all die großen Güter sind. Die meisten hätten einen Stolz und Dünkel, als ob sie beinahe ebensoviel wären wie der Herr. Und dann muß ich allerdings auch sagen, unsere Haushälterin könnte manchmal etwas freundlicher und weniger sparsam sein. Die Leute scheinen es hier in der Beköstigung eben viel besser gewohnt zu sein als bei uns im Osten.«

»Jajajija,« machte Frau Lohmann und seufzte.

»Na, ich hoffe, wir bekommen bescheidene und willige Dienstboten wieder, wenn Sie mal von welchen hören, die Sie uns empfehlen können, schicken Sie sie bitte zu uns! Ich arbeite mich ja nun auch immer mehr in die Wirtschaft ein und werde schon mit dafür sorgen, daß sie es bei uns aushalten können.«

»Wi wöt dat Beste höpen,« sagte Mutter Lohmann, aber ihre Worte klangen so wenig hoffnungsfreudig, daß die andere ihr erschreckt ins Gesicht schaute. Als sie die sorgenvollen Züge sah, erschrak sie noch mehr. Aber zugleich entdeckte sie, daß die grauen Augen, die so sorgenvoll auf ihr ruhten, die Augen des Sohnes waren, und diese Entdeckung wurde wieder verdrängt durch eine Erinnerung, die mit einem Male erwachte, die Erinnerung an zwei Augen, die einst auch so voll Sorge sie angeschaut hatten und so voll Wärme und Güte... Die hatte der Tod ja längst geschlossen, aber was einst aus diesen Augen in ihre junge Seele hineingeleuchtet hatte, ja, hier war es wieder... Da nahm das Mädchen die Hand der Frau, ließ eine Träne darauf fallen und sagte in einem Tone, der von der Altklugheit nichts mehr hatte, mit der Stimme des vertrauenden Kindes: »Mutter Lohmann, wenn meine selige Mutter noch lebte, stände es anders bei uns...«

Die Frau nahm des Mädchens Hand zwischen ihre Hände – harte, zerarbeitete, rissige Hände waren es, aber dennoch war's dem Kinde, als ob seine Hand weich zwischen Mutterhänden läge – und fragte leise: »Wo lange is dat nu, min lewe Kind, dat din gode Mudder bi unsen Herrgott is?«

»Zwei Jahre,« schluchzte das Mädchen.

»Denn hest du den Mudder just in dat sülwige Öller verlaren as ick... Achjajija, dat is'n hard Stück. In de Jahren hewwt wi Deerns de Mudder am meisten nödig. Dor giwt dat allerhand, wat wi keenen Minschen up de ganze Welt seggen künnt as unse Mudder, de uns ünnern Harten dragen hett, und keen Minsch versteiht uns, man alleen dat Mudderhart. Und wenn dat Hart braken is, denn föhlt wi uns faken ok van unsen Herrgott verlaten. Ick heww dat därmakt, glöw mi dat, min beste Kind! Jajija, dat is'n hard und swar Stück. Harder und swarer is'r nix up düsse Eer.«

Nun wurden auch ihr die Augen feucht in Erinnerung an die eigene mutterlose Jugend, und in warmem Mitgefühl mit dem jungen Menschenkinds das sich eng an sie geschmiegt und zuletzt das Gesicht in ihrer Schürze geborgen hatte. Ach, seit das Mutterherz aufgehört hatte zu schlagen, war es ihr nicht mehr vergönnt gewesen, an einem mütterlich empfindenden Herzen zu ruhen. Und nun kostete sie diese Wonne, die lang entbehrte, mit reichlichen Tränen aus. Und Mutter Lohmann ließ sie ruhig weinen. Sie wußte, wie Tränen so wohl tun und das Herz erleichtern und die Augen wieder hell machen können.

Endlich machte sie leise ihre Hände frei, hob sanft des Mädchens Haupt, blickte ihr so recht zuversichtlich in die Augen und sagte: »So, min Kind, nu lat dat Wenen man! Unse Herrgott lett woll sinken, abers nich verdrinken. Ick heww dat faken funnen und heww't ok sülwst belewt: Kinner, de he fröh dat Lewste nahmen hett, de nimmt he sick nahher mit de grötste Lew an. De bringt he an 'ne gode Stäe und to gode Lüe. Mi hett he hier up den Lohhoff brocht. Min lewe Kind, du kannst di driest up em verlaten und em ganz und gar vertrun, he hett ok mit di noch wat Godes in'n Sinn. Du mußt man töwen und glöwen... Wullt du di nu noch 'n Honnigbodder upsmären? 'n Tass' Kaffee is 'r ok noch in,« schloß sie, den Deckel der Kanne hebend und hineinsehend.

»Nein, ich danke wirklich, Mutter Lohmann,« sagte das junge Mädchen, sich die Augen trocknend und lächelnd ihre Tasse in Sicherheit bringend.

»Wenn Se 't recht is, wies' ick Se nu noch unse Wirtschaft. Dat heet, wenn Se Interesse daför hewwt.«

»Mächtig, Frau Lohmann, ich bin ja Landwirtstochter,« sagte sie.

Der erste Besuch galt den Kühen und Kälbern. Es war kein schwerer ostfriesischer Schlag, wie ihr Vater ihn sich vom Viehmarkt in Leer geholt hatte. Die Tiere lagen und standen nicht so sauber wie in den Delmsloher Ställen. Das junge Mädchen wunderte sich auch, daß sie mit den Menschen unter einem Dache hausten. Aber es berührte sie eigenartig und erregte ihr Interesse, zu sehen, welch ein gemütvolles, persönliches Verhältnis zwischen Mutter Lohmann und ihren gehörnten Hausgenossen bestand. Die Frau kannte jede ihrer treuen Milchgeberinnen bei Namen, und diese Namen schienen zu passen. Liese hatte ein sehr gutmütiges Gesicht, Sophie sah viel klüger aus, und Rosas Physiognomie war ausgesprochen vornehm. Die Bäurin wußte ferner genau, wieviel Liter Auguste gab, wann Bleßkopp gekalbt hatte, und wann die Griese fett genug sein würde, um dem Schlachter überantwortet zu werden. Unter ihren lebhaften, gut charakterisierenden Schilderungen wurde dem jungen Mädchen jede der Kühe fast etwas wie eine Persönlichkeit, und nach einer Viertelstunde kannte sie diese Töchter der Heide besser als die stolzen Ostfriesinnen in ihres Vaters Stall.

Vom Kuhstall ging's zu den Schweineställen, die sich in einem besonderen Gebäude befanden. Das Borstenvieh war nicht zu Hause, es tat sich draußen im Auslauf und in der Augustsonne gütlich. Aber als Frau Lohmann an dem Trogschieber rüttelte, kam die ganze Gesellschaft öchend, nöffend und quieksend, je nach Alter und Gemütsart, angesetzt. Der Anblick war so komisch, daß das junge Mädchen laut auflachte. Eine Sau, die im Frühjahr neunzehn Ferkel geworfen hatte, von denen vierzehn groß geworden waren, bekam ein besonderes Lob und die Ermunterung, so fortzufahren.

Von den Schweinen ging's in den Garten, der Kohl, Rüben, Georginen, Kartoffeln, Kamillen, Zwiebeln, Petersilien und Rosen bunt durcheinander aufzuweisen hatte, wenig gepflegte Obstbäume trugen einige Früchte und streckten kahle und mit Flechten bewachsene Äste in die Luft. »An dem Garten,« erlaubte das Mädchen sich zu bemerken, »müßte etwas mehr getan werden, besonders an den Obstbäumen.« »Jawolljija, dat seggen Se man,« pflichtete die Frau bei, »aber weten Se, 'n Garen is mehr wat för vornehme Lüe; wat'n Bur is, de hett dor keene rechte Tied to.«

»Ich habe in unserem Garten so wunderschöne Geranien und Fuchsien und sonst allerlei; darf ich Ihnen davon mal einige Ableger ziehen? Sie sollen sehen, sie haben Freude daran.«

»Is dankenswert, aber laten Se man. Mit de Blomen, dat kennt unsereen nich so, und 't kiekt ok keen Minsch dar nah hen. De Hauptsak is, dat 'n jümmer Kamillen und Flieder in 'n Garen hett. De Tee davon paßt to god, wenn in'n Winderdag mal wat vörfallt.«

Die beiden kamen an den Hof, der an der Gartenpforte in ganzer Ausdehnung vor ihnen lag, durch eine Mauer aus Findlingsblöcken gegen die Straße, die Wiesen und den Wald abgegrenzt.

»Wissen Sie, Frau Lohmann, was mir hier bei Ihnen am besten gefällt?« fragte das Mädchen.

»Wat denn?«

Sie schlug die Augen schwärmerisch auf und sagte wie verzückt: »Dieser herrliche Hof; die weite grüne Fläche, diese malerische Anordnung der Gebäude, und was das allerschönste ist, diese kolossalen Eichen. Unter solchen Eichen zu wohnen, in ihrem Schatten süß zu träumen und dann wieder ihr Brausen zu hören, wenn der Sturmwind sie packt, das muß himmlisch sein, darum beneide ich sie.«

»Ja, de Eken sünd god. Wat de Sagmüller in Wiechel is, de hett för de wecken dat Stück dartig Daler ba'en. Aber Vader will jüm nich utdon.«

»Das täte ich auch nicht, für kein Geld,« sagte die Siebzehnjährige, die feine Hand an das rauhe Kleid einer Zweihundertjährigen legend und an ihr hinaufschauend, ganz nach oben, wo zwischen den leicht bewegten Blättern die Sonnenfunken Kriegen spielten. Mutter Lohmann hatte unterdessen die Hühner ins Auge gefaßt, die in der Nähe grasten. Es waren einige darunter, die für den Topf ausgemustert werden mußten.

Als das Mädchen den Blick aus der grüngoldigen Höhe wieder gesenkt hatte, bemerkte sie durch das Flimmern, das noch vor ihren Augen war, eine sich nahende Gestalt in blitzsauberen Hemdsärmeln. Es war Hinrich, der jetzt höflich die Mütze zog. »Düt is min öllste Jung,« stellte Mutter Lohmann vor, »he is erst lesten Michelje van dat Peervolk in Hannower frie kamen, und düsse Dag, wo de Bur in Cell is, mutt he den ganzen Hoff vorstahn.« Die beiden grüßten sich sehr förmlich, »Hinrich, gah man eben in't Hus und segg de Deerns, se schöllen mit dat Swienfuddern anfangen, ich köm ok glieks,« wandte sie sich an ihren Jungen.

Hinrich ging seiner Wege, und die beiden Frauen schlenderten dem Hoftor zu. hier blieben sie stehen. »Fräulein,« sagte Frau Lehmann, »ick heww mi freut, dat Se mi mal besocht hewwt. Aber... ick mutt Se nu noch wat seggen, wat mi gar nich licht fallt. Unse Mannslüe, wat Ehr Vader is und min Mann, de hammeniert nich gad mit'nander. Sökke Keerls hewwt jümmer ehren egenen Kopp, und wi Fronslüe möt uns da nah trecken. Deshalw kann ick Se ok nich god wedder besöken, nich wohr, dat verstaht Se woll?«

»Ja, ich verstehe,« sagte die andere mit ernstem Gesicht.

»Und wi könnt öwerhaupt nich so faken tosamen kamen, als ick dat süssen woll möch.«

»Leider ist das so,« bestätigte jene wieder. »Aber min lewe Kind, wenn Se mal Rat und Hülpe brukt und Se meent, Ehr Nahwersche künn Se dorin bistahn, denn kamen Se man wedder röwer. Denn stah ick jümmer für Se parat.«

»Dank, herzlichen Dank,« sagte das Nachbarskind, gab der Frau die Hand zum Abschied und sah ihr noch einmal in die gütigen Augen. Dann eilte sie mit schnellen Schritten von dannen.

Als Mutter Lohmann über den Hof nach dem Hause zurückging, begegnete Hinrich ihr, der seinen Auftrag ausgerichtet hatte. »Sünd de Deerns all in'n Swienstall?« fragte sie.

»Nee, aber se willt wall glieks kamen.«

»Süh, nu is de Herr Pestohr doch utbläwen.«

»Jao, aber Besök hest du doch hatt.«

»Ja, dat stimmt, abers ick harr up'n annern rekent.«

»Wat woll de Deern denn bi di?«

»Oh, dat arme Kind hett't nicht licht. Abers ick heww ehr örndtlich 'n bäten tröst't. Se güng ganz vergnögt nah Hus... Da kamt der Deerns mit dat Swienfudder.«

Hinrich freute sich mächtig. Ja, das hatte er wohl gewußt, seine Mutter war die rechte, um solch einem armen Ding den Kopf wieder hoch zu bringen. Das heißt, ein gut Stück hatte er auch selbst dazu beigetragen gestern nachmittag, aber so wie Mutter konnte er das ja nicht.

Er überlegte, womit er ihr zum Dank mal eine besondere Freude machen könne.

Bei nächster Gelegenheit brachte er ihr von Wiechel einen Hut neuester Form mit, den die Putzmacherin eben in der Gegend einzuführen suchte.

»Jung, wat schall dat?« fragte die Beschenkte verwundert.

»Mudder, du bist to god,« gab Hinrich zur Antwort.

Sie freute sich über die Liebe ihres Jungen, aber aufgesetzt hat sie das Monstrum erst nach fünf Jahren, als der Hut allgemein Mode geworden und bei den ersten Bahnbrecherinnen, den Frauen der liberalen Wähler, schon wieder aus der Mode kommen wollte.

Wenn das, was die Mutter gesagt hatte, das Mädchen ihm doch hätte bestätigen wollen! Oft schickte er in der nächsten Zeit seinen Karo in das Gebüsch, in dem sie ihr Lieblingsplätzchen hatte, aber niemals gab er Laut, und niemals begrüßte ihn das erwartete Mongami. – Einmal hatte er die beste Hoffnung. Karo war in dem Buschwerk verschwunden und ließ sich hören, und sofort eilte sein Herr klopfenden Herzens ihm nach. Aber diesmal war's wirklich nur ein Zaunigel, den der Hund zu melden hatte, Hinrich stieß die stachelige Kugel ärgerlich mit dem Fuße von sich und gab dem dummen Köter zu der blutigen Nase, die er sich an dem Stachelpanzer geholt hatte, noch einen derben Klaps auf den Rücken.

Die Jagd auf Rebhühner wurde eröffnet, und Hinrich schweifte viel mit der Flinte unterm Arm durch die Felder. Mit Vorliebe beging er die Grenzfurche zwischen seinem und dem Delmsloher Gebiet. Dabei traf er einmal den Nachbarn, der ebenfalls die Grenze abstreifte. Die beiden gingen links und rechts der Furche eine Weile nebeneinander, unterhielten sich über Rehe, Hasen und Hühner, knallten in eine Kette der letzteren, die plötzlich hochging, gleichzeitig hinein, teilten die beiden, die fielen, redlich, reichten sich beim Abschied die Hände und nahmen den besten Eindruck voneinander mit. Hinrich dachte, sein Vater wäre doch ein wunderlicher Mann, daß er mit solch einem netten, umgänglichen Nachbarn nicht auskommen könnte, was konnte der dafür, daß seine Wiege nicht in der Heide gestanden hatte?

Daß der Loher Imker mit der diesjährigen Heideblüte im ganzen nicht recht zufrieden war, wunderte Hinrich sehr. Er selbst konnte sich nicht erinnern, daß die Heide jemals so reich und rot geblüht und so sein und süß geduftet hätte. Überhaupt, was war's für eine Pracht, das weite Rosakleid seiner Heimat, mit dem Besatz von Wiesen, Feldern und Wäldern, den Tupfen einsamer Wacholder, Föhren und Birken, den Falten sanft gewellter Hügel und Täler, den bald blauen, bald goldenen Säumen in der Ferne!


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