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Der Winter rüstete zum Abschied, und keiner auf Lohhof nötigte ihn zum Verweilen, so gern man sein Kommen einst gesehen hatte. Dieser hergesuchte Pulkram am warmen Ofen war auf die Dauer doch unerträglich, das Blut wurde dick davon. Nein, da draußen sich den frischen Frühlingswind um die Nase wehen lassen, der so jugendherb über die Heide stürmt, die am Ofen eingerosteten Glieder rühren und die starken Knochen gebrauchen, das ist Leben, dabei kreist das Blut, dabei schmeckt das Pökelfleisch besser als das frisch geschlachtete im Winter bei dem Faulenzen.

Nach dem ruhigen Winter brachte der Frühling um so mehr Unruhe. Nicht nur die glückselige Unruhe, die mit all dem neuen Werden in jedem Jahre verbunden ist, sondern dazu noch eine andersartige, die glücklicherweise nur jedes fünfte Jahr die stille Heide bewegt. Die Reichstagswahlen standen vor der Tür.

Früher hatte man sich aus diesen in der Gemeinde Wiechel wenig gemacht. Wer Zeit und Lust hatte, trat am Wahltag in des Wiecheler Gastwirts Cord Stallbom Entreezimmer an die weiße Suppenterrine, um seinen Zettel hineinzuwerfen. Daß der adlige Rittergutsbesitzer, der im Wahlkreise ansässig war und treu zur welfischen Sache hielt, gewählt wurde, war selbstverständlich. Aber die Zeiten ändern sich, auch in dem Sande der Heide und der Hünengräber. Das letztemal hatte der alte Abgeordnete mit seinem nationalliberalen Gegenkandidaten in der Stichwahl ringen müssen und war schließlich nur mit einigen hundert Stimmen Mehrheit in den Reichstag eingezogen. Nicht nur in den Städten, auch auf dem platten Lande waren nicht wenige Wähler fahnenflüchtig geworden. Sollte der gefährdete Wahlkreis gehalten werden, so mußte etwas Besonderes geschehen, um die schläfrigen aufzurütteln und die Lauen anzufeuern. Lohmann berief also als Vertrauensmann der welfischen Partei eine Wählerversammlung bei Cord Stallbom in Wiechel und erbat sich dafür einen tüchtigen Redner aus Hannover. Er selbst holte den Mann vom Bahnhof ab, bewirtete ihn in seinem Hause aufs beste und begab sich am Abend mit ihm nach Wiechel. Hinrich sollte fahren und auch an der Versammlung teilnehmen. Er war zwar noch nicht wahlberechtigt, aber der Vater hielt es für gut, daß er einmal aus berufenem Munde eine Rede hörte, die ihm vielleicht die von der Ulanenzeit leider immer noch gebliebenen preußischen Nucken vertreiben konnte.

Als die drei in den Versammlungssaal traten, war dieser fast bis auf den letzten Platz gefüllt.

An einem langen Tische saßen die Großbauern der Vollhöfe von eintausend Morgen und darüber, stattliche Männer, meist bartlos, mit breiten, offenen, treuherzigen Gesichtern. Was einst in grauer Vorzeit, wenn das Heerhorn über die Heide klang, ihre Väter von den einsamen Höfen rief, das hat sie auch heute abend hier zusammengeführt, die altsächsische Gefolgschaftstreue. Als der Landrat des Kreises aus seiner östlichen Heimat in die Heide kam, hatte er sich öfters entrüstet über bäuerische Dickköpfigkeit und Hartnäckigkeit ausgesprochen. Jetzt hat er längst eingesehen, daß es diesen Männern denn doch etwas tiefer sitzt, als im Kopf und Nacken, nämlich im Herzen und im Blute. – Die Kötner, Handwerker und Häuslinge hatten ihre eigenen Tische. Die Pfeifen qualmten, und Cord Stallbom lief mit seinen Biergläsern geschäftig hin und her.

Eben schickte Lohmann sich an, die Versammlung zu eröffnen, als zwei städtisch gekleidete Männer in den Saal traten und sich nach vorn arbeiteten. »De Delmsloher,« raunte jemand dem Bauern zu. Ja, der war's, und der kleine Mann an seiner Seite war natürlich so ein liberaler Wanderapostel, den sein Nachbar bestellt hatte, um hier heute abend Unkraut zwischen den Weizen zu säen. Lohmann warf den beiden einen feindseligen Blick zu.

Durch Zuruf zum Leiter der Versammlung gewählt, richtete er einige Begrüßungsworte an die Getreuen:

»Lieben Landsleute!

Es ist nu so weit, daß wir wieder einen Mann wählen müssen für'n Reichstag. Es muß ein Mann sein, der eintritt für Recht und Gerechtigkeit und den Berlinern mal ordentlich die Wahrheit sagt. Und dann muß es einer sein, der selbsten Landwirt ist und weiß, wo uns Bauern der Schuh drückt. So'n Mann, das weiß ich und das wißt ihr alle, ist unser alter Abgeordneter, und darum müssen wir ihn wieder wählen. Liebe Landsleute, die Liberalen schreiben sich die Finger krumm, und was die Demokraten sind, die alles teilen wollen, haben letzten Sonntag hier in Wiechel ihre Lügenzettel während der Kirchzeit unter jede Tür durchgesteckt. Aber ich meine man, die müssen sich andertwegen Dumme suchen, wir wissen, was wir wollen. Und wenn's einer noch nicht weiß, denn soll's ihm dieser Herr aus Hannover heute abend sagen. Bitte, nun fangen Sie man an!« schloß er, seinem neben ihm sitzenden Gaste die Hand auf die Schulter legend.

Dieser stand auf, ließ seine Augen über die große Versammlung schweifen und begann zu reden von einem Blümlein, das sehr selten geworden sei auf Erden. Das Blümlein heiße die Treue. Aber in dem Lande, wo die Heide so schön blühe, da sei dieses seltene Blümlein noch zu finden, da blühe es in vielen tausend Herzen. Freilich das Unglücksjahr 1866 habe diese Saat ja vernichten wollen, aber es sei ihm nicht gelungen, wenn es sonst auch viel Gutes vernichtet hätte. Und nun ging's über das Jahr 66 her. Daß die Sozialdemokratie immer mehr zunehme, daß die Militärlasten und andere Steuern immer schwerer drückten, daß die Dienstboten immer höhere Löhne forderten und immer weniger dafür tun wollten, daß so viele den Unterschied zwischen Mein und Dein nicht mehr kennten und die Religion im Volke immer mehr abnehme, dieses alles und noch vieles andere käme direkt oder indirekt von dem Unrecht des Jahres 66, und eine Besserung könnte nur eintreten, wenn dieses Unrecht gesühnt würde. Und darauf immer wieder vor Kaiser und Reich hinzuweisen, würden die welfischen Abgeordneten nicht müde, und auch der hochverehrte Abgeordnete dieses Wahlkreises habe darin treu seine Schuldigkeit getan. Darum müsse jeder treue deutsche und niedersächsische Mann ihm wieder seine Stimme geben. Und keiner dürfe zu Hause bleiben; die alte Sachsentreue, die sich bei Waterloo und Langensalza bewährt habe, müsse sich auch am Wahltage zeigen.

Die Bauern sahen mit Bewunderung auf den hünenhaften Mann, der mit volkstümlicher Kraft sprach, die bäuerlichen Verhältnisse genau kannte und manche Urväterweisheit in plattdeutschem Spruch und Kernwort in seine Rede einwob. Je schwerfälliger sie selbst in der Rede waren, um so mehr bewunderten sie den Mann, der solche »barbarsche Utgaw« hatte. Als der Redner sich setzte, erschallten aber doch nur einzelne Bravos. Dem gemessenen Wesen dieser Versammlung entsprach es nicht, wüst durcheinanderzuschreien. Aber die Art, wie sie ihre vom Redestrom ausgelöschten Pfeifen ausklopften, von neuem füllten und in Brand setzten, zeigte deutlich genug, daß der Mann ihnen aus dem Herzen gesprochen hatte.

Hofbesitzer Lohmann dankte dem Redner, der sich die dicken Schweißtropfen von der Stirn wischte, und machte Anstalt, mit ein paar Worten die Versammlung zu schließen. Da aber flog der kleine Mann mit den funkelnden Äuglein hinter den blanken Brillengläsern, der mit dem Delmsloher gekommen war, in die Höhe und rief mit helltönender Stimme durch den Saal: »Ich bitte ums Wort!« Lohmann erteilte es ihm. Jetzt war er nicht mehr bange. Gegen seinen Redner, dessen Worte so durchgeschlagen hatten, kam das Männchen sicher nicht auf. Die Bauern sahen mit unverhohlener Geringschätzung auf den Brillenmann und pafften, was die Pfeifen hergeben wollten.

»Meine Herren,« begann der Kleine mit seiner scharfen, hellen Stimme, »der geehrte Herr Vorredner hat die unheilvollen Folgen des Jahres 66 auf allen Gebieten des politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Lebens, ich will nicht sagen, nachgewiesen, aber doch behauptet. Ich für mein Teil bin der Meinung, daß wir von dem Standpunkt jenes Herrn in der Feststellung solcher üblen Folgen noch viel, viel weiter gehen müssen. Ich erlaube mir daher, seine Ausführungen, die den Beifall dieser angesehenen Versammlung gefunden haben, noch in einigen Stücken zu ergänzen.

»Meine Herren, als ich heute nachmittag von Ihrem Bahnhof zu Ihnen fuhr, sah ich auf der Straße drei Männer um ein ausgemästetes Kalb sich bemühen, das nicht vorwärts wollte und auch nicht rückwärts. Da mußte ich an meine Jugend denken, wir hatten ein kleines Gut vor Hannover, und ein einziger Mann konnte bequem unsere Kälber in die Stadt zum Schlachter treiben. Das war aber vor 66. Ist da der Schluß nicht zwingend, daß eben in diesem bösen Jahre, das so viel Unheil angerichtet hat, der unheilvolle Geist der Störrigkeit und Widersetzlichkeit in die Kälber gefahren ist?«

Lohmann ließ seine Augen über die Versammlung gleiten. Die Bauern machten lange Gesichter und sahen sich verdutzt an. Einige Handwerker und kleine Geschäftsleute im Hintergrunde des Saales grienten. Und sein Hinrich, der infame Bengel, lachte mit dem ganzen Gesicht und tuschelte mit seinem Nachbar. Er mußte wohl einen Witz gemacht haben, denn jetzt lachten beide.

Der Redner fuhr inzwischen fort:

»Als Junge auf unserem väterlichen Gute mußte ich jeden Nachmittag die Eier zusammensuchen. Nichts war leichter als das. Die Hühner legten eben, wie sich das für ein ordentliches hannoversches Landhuhn gehört, in die Nester, die mir ihnen angewiesen hatten. Und das war, ich muß das wieder ausdrücklich bemerken, vor 66. Und denken Sie sich, als ich heute nachmittag mit meinem verehrten Gastgeber, Herrn Gutsbesitzer Riewitz, in Delmsloh über den Hof gehe, kommt der Hofjunge auf uns zugesprungen und hat in seiner Mütze elf Eier und verlangt für jedes einen Pfennig; denn den hatte sein Herr ihm versprochen für jedes von ihm gefundene Ei, das die Hühner in die Nesseln, in den Busch oder auf den – Düngerhaufen gelegt hätten. Denken Sie doch bloß zurück, meine Herren, von solcher Pflichtvergessenheit hat man vor 66 nicht gehört. Und ich muß besonders betonen, nicht nur die Hühner, die Herr Niewitz sich aus dem Altpreußischen mitgebracht hat, auch die guten alten hannoverschen Landhühner frönen jetzt dieser verdrießlichen Untugend.«

Der Vorsitzende sah, daß sich um mehrere Gesichter ein Schmunzeln gelegt hatte, und die Versammlung war ganz Ohr. Sogar der alte Schimmelwillem, der seit Jahrzehnten keine Predigt mehr durchwacht hatte, machte gralle Augen und hörte niepe zu. Der Hinrich war doch noch ein rechter Kindskopf! Was hatte der bei so ernsten Verhandlungen nur immer zu lachen!

»Als Junge, meine Herren,« fuhr der Redner fort, seine Brillengläser putzend und mit den fensterlosen Augen in die horchende Versammlung hineinplierend, »mochte ich leidenschaftlich gern reiten, wir hatten ein gutes, frommes Tier althannoverscher Rasse, das seines Weges ging Schritt vor Schritt. Ich könnte darauf schwören, daß der Braune in seinem ganzen Leben – er ist mit achtundzwanzig Jahren eines geruhigen und natürlichen Todes gestorben – auch keine Sekunde lang den schwarzen Gedanken gehabt hat, seinen Reiter einmal in den Sand zu setzen. Nun bin ich da neulich mit meinem Jüngsten auf dem Gut eines Freundes zu Besuch, der sich just ein Pferd ostpreußischer Abkunft zugelegt hat, und der Junge will denn doch auch einmal reiten. Nun denken Sie sich, kaum sitzt er oben, bäumt sich das Biest auf, pielgerade wie'n Laternenpfahl, mein Junge fliegt in großem Bogen durch die Luft, und pardauz liegt er in – na, wissen Sie, es hatte geregnet, und der Düngerhaufen war nicht ganz fern. Und der preuß'sche Racker – ja, dar geiht he hen, smitt de Been dör de Luft und makt hihihi. So 'ne vermuckte Art stickt'r eben in, in düsse sapperlottschen Preußen ...«

Die ganze Versammlung lachte, nur der Vorsitzende nicht. Dem war die Zornesader auf der Stirn geschwollen und stürmisch bewegte er die Klingel. Als sie nicht durchdrang, schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch, daß die Biergläser tanzten, und donnerte: »Ruhe!« in den Saal hinein. Das Lachen verstummte. Und nun sagte er mit bebender Stimme: »Ick mutt vör Gewalt bidden, dat wi hier irnsthaftig bliewt. Dat is hier keen Poppenspell, und wi sünd keene Kindsköppe! Markt jo dat! Und Ihnen,« so wandte er sich jetzt an den Redner, der ruhig eine Pause gemacht hatte und seine Brille putzte, »muß ich ersuchen, uns nicht mit ihre Dönekens aufzuhalten. Entweder Sie reden zur Sache, oder ich schneide Ihnen das Wort ab. Verstanden?«

»Na, denn Scherz beiseite,« fing dieser wieder an. »Meine Herren! Ich wollte nur zeigen, wohin wir kommen, wenn wir nach dem Rezept des ersten Redners das Jahr 66 zum Sündenbock für alles machen, was uns nicht gefällt. Es ist ja bequem zu sagen: Das Böse, das sich nach 66 zeigt, kommt von 66. Aber das geht wirklich nicht. Die Schäden und Mißstände, die ich mit Ihnen beklage, haben wirklich noch andere und tiefer liegende Ursachen, und es hilft nichts, immer nur das alte Lied zu singen: ›Stellt das Königreich Hannover wieder her, und alles ist wieder gut!‹ Die sogenannte ›gute alte Zeit‹, deren Mängel und Schäden wir nur vergessen haben, kommt doch niemals wieder. Es gilt, sich in der bösen neuen Zeit so gut einzurichten, wie es eben geht, und dazu will auch der Kandidat der nationalliberalen Partei, dessen Wahl ich Ihnen empfehlen möchte, an seinem Teile beitragen.«

Der Redner führte einige Punkte des Programms seiner Partei des weiteren aus und schloß: »Meine Herren, ich rechne nicht darauf, daß ich Gehör finde bei den Alten, die nur an Waterloo und Langensalza denken. Aber es sind auch solche hier, die bei Gravelotte und Sedan Blut und Leben für die deutsche Einheit eingesetzt haben. Es sind viele hier – ich sehe das schon an den Gesichtern –, die des Königs Rock getragen und zu seiner Fahne geschworen haben, und wenn das Vaterland ruft, sind sie jeden Augenblick bereit, mit Leben und Blut das zu verteidigen und zu erhalten, was auf den blutigen Feldern von Gravelotte und Sedan errungen ist. Und allen diesen rufe ich zu, der jungen Generation des alten treuen Niedersachsenstammes, bei der das Blümlein Treue nicht verblüht und verwelkt ist, euch deutschen Brüdern niedersächsischen Stammes rufe ich zu: Mit Gott für König und Vaterland, mit Gott für Kaiser und Reich! Allezeit – auch am Tage der Wahl! – treu bereit für des Reiches Herrlichkeit!«

Die Versammlung verharrte in eisigem Schweigen. Nur der Delmsloher Gutsbesitzer rief laut Bravo, und halblaut kam es aus der Ecke, wo die Handwerker saßen. Einige Bauern sahen dorthin, um sich den Mann, der von ihnen leben wollte und sich derartiges herausnahm, zu merken. Aber der hatte sich, über seine Kühnheit selbst erschrocken, schnell hinter einem breiten Rücken versteckt.

Der erste Redner nahm noch einmal das Wort, aber man hörte nicht mehr recht hin. Der dicke Tabaksqualm hatte sich schwer auf die Zungen gelegt, und es war die Stunde, die sonst den Lüneburger Bauern schon längst im Bett findet. Lohmann schloß die Versammlung mit der Bitte, es sollte sich nur keiner den Kopf verdrehen lassen. Die Jungen müßten den Alten folgen, aber nicht einem Dönekenserzähler und Glattschnacker, der nur den Frieden zwischen Alten und Jungen stören wolle.

Lohmanns Parteifreund wollte von der nahen Station Elldingen den letzten Zug nach Hannover benutzen. Nachdem der Bauer sich mit Dank von ihm verabschiedet und noch einmal seine Hoffnung auf einen guten Ausfall der Wahl ausgedrückt hatte, stieg er zu Hinrich, der inzwischen angespannt hatte, auf den Bock, und die beiden fuhren davon.

*

Als sie Wiechel im Rücken hatten, sagte der Vater: »Segg mal, min Jung, wat harrst du vanabend jümmer to lachen?«

»Och vader,« entschuldigte sich dieser, »dat wör'n verdullten Keerl, he makte sin Rede gar to spaßig.«

»'n utwussen Minschen,« sagte Vater Lohmann kopfschüttelnd, »lacht öwer sökke fule Witze nich. Du könnst bi lüttjen ok woll drög achter de Ohren wän.«

Hinrich schwieg, wie er immer tat, wenn sein Vater ihn zu vernünftigem, gesetztem Wesen ermahnte.

Nach einer Weile sagte er: »Vader, dröw ick di mal wat fragen?«

»Man to!« wurde er ermutigt.

»Glöwst du würklich, dat all dat Slechte von dat ene Johr sößunsößtig herkummt?«

Der Alte fuhr sich mit der Hand an die Stirn, sann eine Weile nach und sagte dann: »Min Söhn, wi wöt de Sack mal öllich tohopen dörnehmen. Segg, hest du all mal van dat Johr achtunveertig hört?«

»Atchtunveertig ...?« wiederholte Hinrich. »Och ja, ick erinner' mi. In Hannover harr ick'n Kameraden, de hett mi vertellt, in dütt Johr harr sick de Minschheit ehre Minschenrechte nahmen. Und wecke harr'n ok för de Freiheit ehren Kopp laten mößt.«

»Djunge!« rief der Alte bestürzt, »weeßt du, wat din Kamerad för een wän is?«

»Wat denn?« fragte Hinrich ruhig.

»Dat is'n ganz Roden wän,« sagte Lohmann ernst, »'n Demokraten van de slimmste Sorte. Hest du väl Umgang mit em hatt?«

»Och ja,« meinte der Sohn gelassen, »he wör'n ganz umgänglichen Minschen und 'n toverlässigen Kamerad.«

»Djunge, Djunge!« sagte der Alte erregt, »wat hest du för Versökungen dörmaken mößt!«

»Och nee, Vader,« nahm Hinrich seinen Kameraden in Schutz, »he föhrte 'n ganz anstännig Lewen.«

»Denn wör he ener van de Wölfe, die in Schafskleidern zu uns kommen,« erklärte der Vater. »Hör to, ick will di seggen, wat dat mit achtunveertig up sick harr. Dat wör dat ›dulle Johr‹. Da wullen unse Demokraten de Franzosen, de dat all faken makt harrn, dat nahmaken und unsen König, unsen angestammten Herrn, de von Gottes Gnaden up sinen Thron seet, darvon stöten. Versteihst du?«

»Jawoll, Vader ... Is jüm dat denn glückt?«

»Och nee, Jung. De harr sin true Soldaten, wo he sick up verlaten künn. Aber hör to! Düt war de erste Revolutschon. De güng van de slechten Lüe in unsen Lanne ut. Aber denn köm dat Johr sößunsößtig. Dat war de twete Revolutschon. De güng van unsen slechten Nahwer, den Preuß, ut. Versteihste mi?«

»Jawoll ... Aber meenst du würklich, dat de ol Willem, de ol gode Kaiser Willem, Revolutschon makt hett?« fragte Hinrich etwas ungläubig.

»Jea, dat wör so wied woll'n olen goden Mann, und de hett dat ok gar nicht wollt. Abers he harr enen bi sick, de wör den Dübel van de Schuwkar fullen, und de hett em tolest darto besnakt ... Bismarck.«

Die Art, wie Lohmann diesen Namen zwischen den Zähnen hervorstieß, verriet, daß er gegen diesen Mann einen glühenden Haß hegte.

»Düsse Bismarck, de hett unsen goden blinden König affsett und dat angestammte Fürstenhus ut'n Lanne rutsmäten. Wat de lüttjen Revolutschoners van achtunveertig nich ferdig krägen hewwt, dat hett düsse grote Revolutschoner von sößunsößtig tostanne brocht, to de grötste Freude van de Lüttjen, de sick achtunveertig verkrepen mössen. Und nu revolutschonert dat so wieder. So as Bismarck unsen König affsett hett, so wött de Demokraten dat nu ok mit de annern maken. Wat den enen recht is, dat is den annern billig, meent se. Und mit düssen Revolutschonsgeist, de Gott und Minschen nich mehr hören will, hangt all dat Slechte in de Welt tohopen. De makt de Arbeiters rebellsch, und de Deensten, Dienstboten ja in wekke Hüser ok all de Kinner gegen ehre Öllern. Gott schall uns davor bewahren! Ja, min Jung, du kannst driest glöwen, de Mann harr vanabend ganz recht, dat Johr sößunsößtig, und de Minsch, de de böse Geist van düt Jahr wän is, de hewwt väl, väl uv'n Gewäten.«

»Aber Vader,« gab Hinrich zu bedenken, »nah de twee slimmen Jahren hewwt wi doch ok twee gode Johre hatt: söbentig und eenunsöbentig.«

»Och ja, dat wör ja ganz god, dat de utverschamte Franzmann, de dat Revolutschonern toerst in de Welt brocht harr, mal öllich wat up't Leder krägen hett...«

»Und dat wi nu dat grote, starke Dütsche Riek hewwt,« ergänzte Hinrich. »Du heft ja nich väl for Bismarcken öwer, aber dat glöw ick doch, dat de Mann sine Finger dor ok mang hatt hett. Unse Leutnant sä mal in den Instrukschon: Otto von Bismarck war des Deutschen Reiches Schmied«

»Schönen Smed!« lachte der Alte höhnisch auf. »Erst hett he allens twei slan, ja, und dann hett he dat so'n bäten wedder tohopen flickt.«

»Jawoll, so ungefähr sä de Leutnant ok,« sagte Hinrich. »He harr den olen dütschen Bund erst twei slan mößt, darum dat de wecken Stücke in dat Riek nich paßt harrn, Östriek nich und dat Welfenhus nich...«

Der Alte rief erregt dazwischen: »De Welfen sünd jümmer gode Dütsche wän.«

»Ick weet dat ja nich,« fuhr Hinrich unbeirrt fort, »aber de Leutnant sä, all van Heinrich den Löwen an harrn se jümmer gegen Kaiser und Reich strewt, und Bismarck harr deshalw bi gode Gelegenheit de Sack 'n Enne makt, und so harr he eenunsöbentig unse schöne, grote Dütsche Riek tohopen smäen könnt.«

»Wenn du up so'n Leutnant hören wullt, de dat nabäen mutt, wat em vorbäet is, denn man to!« sagte der Alte, sich abwendend.

»Ick segg jo nich, dat ick up em hören do. Ick segg man ja blot, wat de Leutnant seggt hett,« sagte Hinrich ruhig.

Hinter ihnen wurde das Rollen eines Wagens hörbar. Sie wandten sich zugleich um, und der Vater brummte: »De Delmsloher is us up de Hacken.«

Der Kutscher des Landauers gab durch einen Pfiff zu erkennen, daß er vorbeifahren wollte. Aber das litt Hinrichs Fuhrmannsehre nicht. Er schwang die Peitsche und ließ seine Braunen scharf traben. Schnell blieben die Schimmel des Delmslohers, die jetzt im Schritt gingen, hinter ihnen zurück.

Aber bald waren sie den Lohmannschen Braunen wieder auf den Fersen, und nun gab es ein regelrechtes Wettfahren. Pudel und Liese hielten sich wacker und galoppierten mächtig dahin. Aber auf die Dauer konnten sie es mit den Delmsloher Vollblütern nicht aufnehmen. Als diese auf dem Sommerwege sich mit ihnen auf gleicher Höhe befanden und Hinrich mit einem scharfen Peitschenschlag noch einen letzten Versuch machen wollte, wieder einen Vorsprung zu gewinnen, fiel der Alte ihm in den Arm, und das nachbarliche Gespann flog vorüber, »Peerschinner!« rief Lohmann ihm nach.

»Och Vader,« sagte Hinrich ärgerlich, »för sökke Peer is dat nix. Wenn wi uns erst mal junge Peer anschafft...«

»Dat hett noch gode Tied, und denn nehmt wi wedder kolen Slag, de öllich den Messwagen Düngerwagen rieten könnt,« ergänzte der Vater. »Luxuspeer kann de Herr Godsbesitter sick leisten, wi bliewt bi unse Buernpeer.«

Hinrich biss sich auf die Lippen und schwieg.

Nach einer Weile sagte er missmutig: »Vader, wenn de Nahwer uns man ok in annere Sacken nicht vörbi kummt.«

»Wo meenst du dat?« fragte der Vater.

"Och, he is iwrig bi dat Upforsten, und dat Dränieren ...«

»Nu swieg aber rein still, wenn du mi nicht vertören wullt!« unterbrach scharf der Vater, »wer van uns beiden am wiedsten kummt, dat mutt de Tied utwiesen. De Hauptsack is erst mal, dat wi em in düsse Wahlgeschichte vörbi kamt. Und dor twiewel' ick gor nich an. He schall Ogen maken, wenn wi de Stimmen tellt, he kennt unse Ort Lue man noch nich. De latet sick von so enen und sinen Witzemaker nich klok maken.«

Hinrich schwieg. Als sie auf den Hof fuhren, nahm der Alte noch einmal das Wort: »Hinrich, ick bidd di, vergitt, wat de Demokratenbengel und de gröne Leutnant di vörsnackt hewwt, und hol di an dat, wat den ole Vader, de dat allens mit belewt hett, di ut truen Harten seggt hett. Glöw mi, min gode Jung, dat Beste up de Welt, dat is de Treue, wenn de uphört, denn geiht de Welt ünner.« Hinrich sagte Brr; denn sie waren vor dem Missentor angelangt.


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