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XI.

Als Schwarz nach Hause zurückkam, holte er auf der Treppe den Grafen mit seiner Tochter ein. Das junge Mädchen blickte ihn an, und als sie zwei Schritte vorübergegangen war, sah sie sich lächelnd um. Schwarz bemerkte, daß sie sehr hübsch war, und hörte mit Vergnügen sie zu ihrem Vater sagen: »Das ist der junge Doktor, welcher unter uns wohnt.«

Zwar hatte Schwarz sein Studium noch nicht beendigt, aber es schmeichelte ihm, daß man ihn schon vor der Zeit für einen Doktor hielt. – Schwarz fand seine Wohnung offen, da der Portier damit beschäftigt war, sie in Ordnung zu bringen. Von ihm erfuhr Schwarz einiges über diese Familie. Der Portier war ihr augenscheinlich nicht sehr gewogen und beklagte sich über ihre Sparsamkeit.

Sie schienen sehr arm zu sein und bezahlten auch die Miete für die Wohnung nicht regelmäßig.

»Die junge Dame ist sehr stolz,« sagte er, »und thut den ganzen Tag lang nichts als spielen und singen. Natürlich langweilt sie sich ohne Mann, aber was ist zu machen?«

»Ist die alte Gräfin schon lange tot?« fragte Schwarz.

»Seit ungefähr drei Jahren. Früher waren sie sehr reich, aber der Graf hat all sein Vermögen durch eine Spekulation mit Getreide in Odessa verloren. Viele sind ebenso verarmt. Sie war besser und freundlicher als ihr Mann und ihre Tochter, und dabei auch sehr wohlthätig. Aber sie konnte dieses Ungemach nicht ertragen, und so starb die arme Frau. Es sind schon fünf Jahre her, daß sie in diesem Hause wohnen.«

»Haben sie viele Verwandte und Bekannte?«

»Gar niemand, wie es scheint, ich habe niemand gesehen.«

Schwarz legte sich in Erwartung von Augustinowitsch aufs Bett und ließ sich ein Glas Thee bringen. Bald schlief er ein. Als er wieder erwachte, fühlte er sich etwas unwohl. Augustinowitsch war nicht da, obgleich es schon dämmerte. Endlich kam er in vortrefflichster Stimmung.

Die Dame, mit der er bekannt geworden war, hieß Wisberg, ihre Tochter Malwine. Augustinowitsch hatte beiden Medizin verschrieben. Der jüngeren riet er zu tanzen und der älteren spazieren zu reiten. Außerdem hatte er versprochen, wiederzukommen und Schwarz mitzubringen.

»Die alte Dame sagte mir,« erzählte Augustinowitsch, »sie habe dem Grafen schon einen Brief geschrieben und Erklärungen von ihm verlangt. Aber das ist nicht meine Sache. Sie ist auch sogar beim Grafen gewesen, hat aber nur seine Tochter angetroffen, die ihr sehr gefiel. Die junge Gräfin war sehr erschreckt, als sie von dem Zweck ihres Besuches erfuhr. Ich fragte die alte Dame, warum ihr an diesen wenigen hundert Rubeln so viel gelegen sei, da sie doch, wie man sage, die Frau eines Krösus sei. Sie antwortete, ihr verstorbener Mann habe nicht Krösus, sondern Kleophas geheißen. ›Wenn das Geld mir gehörte,‹ sagte sie, ›so würde ich den Grafen darum nicht beunruhigen, aber es gehört meinem Kinde.‹ Dabei drückte ich mit Gefühl diesem Kinde unter dem Tische die Hand. Ihre Tochter nennt sie ›Malinka‹. Nicht wahr, ein schöner Name? – Aber warum bist Du so bleich?«

»Ich bin nicht ganz wohl … ich kann nicht schlafen … Gieb mir ein Glas Thee.«

Augustinowitsch goß kalten Thee ein, zündete seine Pfeife an und legte sich zu Bett.

Schwarz rückte einen Stuhl an den Tisch und begann zu schreiben.

Aber er schrieb nicht lange. Verschiedene Gedanken bestürmten ihn. Er lehnte sich zurück, stützte den Kopf auf den Ellbogen und überließ sich seinen Gedanken.

Ein anderer an seiner Stelle hätte Luftschlösser gebaut und geträumt. Er aber überdachte seine Vergangenheit und sein jetziges Leben. In Bezug aus seine Zukunft vermochte er aber sich nicht an die Rolle eines vernünftigen Menschen zu halten. Die Worte »dieser junge Doktor« kamen ihm unwillkürlich in den Sinn. Er dachte an diese Worte, er dachte an Reichtum und Ruhm, und dies war seine empfindlichste Seite. Da trat auch Helenens Bild vor ihn. Er hatte keine Wahl mehr zu treffen, er fühlte sich gebunden. Aber zum ersten Mal konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, daß Helene bei seinen ehrgeizigen Bestrebungen ihm eine Last werden könnte. Mit diesem Gedanken beschloß er auf seine Weise sich abzufinden. Woher kamen diese Gedanken? Ihre Erziehung war kein Hindernis. Sie war eine wohlerzogene, gebildete Dame von kaum einundzwanzig Jahren, während Schwarz vierundzwanzig Jahre alt war. Dieser Unterschied also hatte keine Bedeutung. Welche Gründe hatte er zu der Befürchtung, daß Helene ihm Hindernisse bereiten werde? Sein Gewissen sagte ihm, daß der erste Anlaß dazu sein Egoismus und seine Eitelkeit seien. Er kannte sehr wenig Damen und wünschte, noch viele Eroberungen zu machen.

Ein anderer Anlaß aber war der, daß seine Liebe zu schwach war. Nur ein kleiner Teil der Gefühle, die in ihm schlummerten, waren Helene gewidmet. Er trug ein unbestimmtes Gefühl dieser Kräfte in sich, die ihm seine Ruhe raubten. Die Befürchtung regte sich in ihm, daß der Besitz dieser entzückenden Frau ihn zum Verzicht auf einige seiner künftigen Erfolge nötigen könnte. Er wußte nicht, wie wenig diese Erfolge, auch wenn sie wirklich erreicht werden, an Wert einer Liebe wie der Helenens gleichkommen. Aber er hatte die Welt noch nicht kennen gelernt.

In diese Gedanken versunken, verfiel Schwarz in leisen Schlummer. Plötzlich aber wurde er durch ein Geräusch im oberen Stock aufgeschreckt.

»Dort schlafen sie auch noch nicht,« dachte er und erinnerte sich an die junge Gräfin mit ihrem heiteren Lachen. »Ich denke mir, solche Mädchen müssen einen leichten, ruhigen Schlaf haben. Solch ein Mädchen ist wie ein Vogel. Die Männer arbeiten, denken nach, und sie … Das ist aber ein hübsches Vögelchen da oben. Ich möchte es gern einmal schlafen sehen. Aber es ist schon spät, halb zwei Uhr … Halt – was ist das?«

Schwarz sprang auf.

Es wurde an die äußere Thür geklopft; er öffnete sie mit der Lampe in der Hand und erblickte vor sich die Gräfin. Sie war totenbleich. Mit einer Hand hielt sie eine Kerze und mit der anderen schützte sie sie vor dem Zug. Sie trug eine Nachtjacke und eine mit Spitzen besetzte Jacke, welche ihren Hals und ihre Brust offen ließ.

»Herr Doktor,« rief sie, »mein Vater liegt im Sterben.«

Schwarz griff gleich nach seinem ärztlichen Besteck, weckte Augustinowitsch, sagte ihm, er solle sogleich nach oben kommen, und folgte der jungen Gräfin.

Im ersten Zimmer stand das Bett der Gräfin mit zurückgeschlagener Decke, das sie eben verlassen zu haben schien. Im zweiten Zimmer lag der Graf. Er atmete noch, oder vielmehr er röchelte laut, war aber besinnungslos, mit blutigem Schaum vor dem Munde und bläulichem Gesicht.

Bald darauf kam Augustinowitsch, kaum bekleidet. Sie betrachteten den Kranken, ohne auf die Gräfin zu achten, welche weinend am Fußende des Bettes kniete und fast das Bewußtsein verloren hatte.

Plötzlich blickten sich Schwarz und Augustinowitsch an; sie sahen beide, daß keine Hoffnung auf Rettung vorhanden war.

»Ach Gott,« rief die Gräfin unter Thränen, »soll ich nicht noch einen Arzt holen?«

»Gehe und hole Skotnitzki,« rief Schwarz Augustinowitsch zu.

Der letztere eilte davon, obgleich er überzeugt war, daß er bei seiner Rückkehr den Grafen nicht mehr lebendig antreffen werde.

Inzwischen machte Schwarz mit voller Energie und Geistesgegenwart einen Aderlaß, blickte auf die Uhr und sagte, die Heftigkeit des Anfalles habe nachgelassen.

»Gott sei Dank,« sagte die Gräfin, »es ist also noch Hoffnung vorhanden?«

»Die Krisis ist vorüber,« erwiderte Schwarz.

Bald darauf kam Augustinowisch mit Skotnitzki. Der Arzt besichtigte den Kranken, sagte, er sei für jetzt gerettet, aber er fügte hinzu, wenn der Schlag sich wiederhole, so sei der Tod unvermeidlich. Er gab einige Anordnungen und sagte, man dürfe den Kranken keinen Augenblick außer acht lassen.

Deshalb setzten sich die jungen Leute neben ihn und beobachteten ihn die ganze Nacht.

Am folgenden Morgen kam der Kranke wieder zu sich und bat einen Geistlichen zu rufen. Augustinowitsch ging sogleich und kam mit einem hageren Kaplan zurück, welcher Gebete las und die Sterbesakramente reichte, worauf er wieder ging.

Während einiger Stunden war der Graf bei vollem Bewußtsein, sprach mit Schwarz, segnete seine Tochter und sprach von einem Vermächtnis.

Damit verging der ganze Tag.

Gegen Abend veranlaßte Schwarz die Gräfin, Erholung zu suchen, da sie kaum mehr auf den Füßen stehen konnte. Die schlaflose Nacht und die Aufregung hatten stark auf sie eingewirkt. Nach langem Weigern ging sie nach ihrem Zimmer, nachdem sie Schwarz die Hand gereicht und ihm für den ihrem Vater geleisteten Beistand gedankt hatte. Schwarz betrachtete sie jetzt aufmerksamer. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt, aber ihre stark entwickelte Gestalt ließ sie eher älter erscheinen. Sie war von mittlerem Wuchs, hatte schöne, kluge Augen, einen großen, aber sehr hübschen Mund, und dunkle Haare beschatteten ihre Stirn. Im Ausdruck ihres Gesichts und in jeder Bewegung zeigte sich ihre vollkommen aristokratische Schönheit.

Eine Stunde, nachdem sie gegangen war, schlief der Graf ein. Schwarz und Augustinowitsch saßen bei einer Lampe hinter einem Bettschirm. Beide waren ermüdet. Augustinowitsch sprach zuerst: »Was wird aus der Gräfin werden, wenn dieser … « flüsterte er, mit den Augen nach dem Kranken deutend.

»Daran dachte ich auch eben,« erwiderte Schwarz, »vielleicht finden sich Verwandte?«

»Aber wenn sich keine finden?«

»Man muß mit ihr sprechen. Man sieht, sie sind arm. Der Portier sagte mir, sie haben sogar die Miete nicht bezahlen können. Jedenfalls werden sie doch irgendwelche Verwandte oder Bekannte haben.«

»Nun, davon später,« unterbrach ihn Augustinowitsch, der es nicht liebte, lange bei einem Gegenstand zu bleiben.

»Warte doch,« erwiderte Schwarz, »ich habe eine Idee. Bis setzt ist noch niemand erschienen, und es ist nicht möglich, daß dieses arme Mädchen nach seinem Tode allein bleiben kann. Sage mir, ist Frau Wisberg eine gute Frau?«

»Eine Heilige.«

»Ist sie ehrenwert und gutmütig?«

»Über alle Begriffe. Aber was hat das mit der Gräfin zu thun?«

»Ich denke, im Fall keine Verwandten erscheinen, die Gräfin ihrer Obhut anzuvertrauen.«

»Und der Prozeß?«

»Eben deshalb.«

In diesem Augenblick machte der Kranke eine Bewegung. Schwarz blickte rasch nach ihm hin und fuhr flüsternd fort: »Vor allem beunruhigt mich diese unbezahlte Miete, aber das alles wird sich schon machen. Vielleicht hinterläßt er doch noch etwas.«

»Ach, diese Hausbesitzer!« flüsterte Augustinowitsch. »Um nicht einzuschlafen, werde ich Dir etwas erzählen. Ich gestehe, ich habe niemals meine Miete bezahlt, und ich wurde schrecklich zornig, wenn man mich daran mahnte, aber ich konnte dennoch keinen finden, der nicht Geld haben wollte. Endlich gelang es mir doch. Ich wohnte im Hause eines alten einfältigen Beamten, der so dumm war wie ein Eselsohr. Einmal saß ich im Garten, und weil ich nichts Besseres zu thun hatte, begann ich die Sterne zu zählen. Es war im Sommer. Die Schönheit der Sternennacht versetzte mich in eine träumerische Stimmung. Da plötzlich kommt dieser Esel und verlangt mit dreisten Reden ganz einfach Zahlung der Miete. Da stand ich auf, machte eine feierliche Gebärde nach Ost und West und fragte ihn geheimnisvoll: ›Siehst Du diese Millionen großer Lichter?‹ – ›Ja,‹ erwiderte er, erschrocken über meine Frage, ›aber …‹ – ›Schweig,‹ fuhr ich in ernstem Tone fort, nahm den Hut ab, erhob die Augen zum Himmel, und mit einem Blick auf den versteinerten Hauswirt donnerte ich ihn an: ›Erbärmliches Staubkorn, was sind Deine fünf Rubel im Vergleich zu dieser Unendlichkeit?‹«

Ein dumpfes Stöhnen des Grafen unterbrach Augustinowitsch. Der Graf, dessen Gesicht wieder bläulich geworden war, krümmte sich, und seine Finger ergriffen krampfhaft die Bettdecke. Ein zweiter Schlag war gekommen.

Schwarz sprang auf und eilte zu dem Kranken. »Mache schnell einen Aderlaß,« sagte er zu Augustinowitsch.

Im Zimmer war es ganz still geworden. Zum Unglück erlosch in diesem Augenblick die Lampe, aber es gelang ihnen einen Aderlaß zu machen. Die Lanzette drang in den Arm ein, aber es kam kein Tropfen Blut.

»Es ist zu Ende, und alle Bemühungen sind vergebens,« sagte Schwarz tief aufseufzend.

»Er kam zur Welt, er lebte und ist gestorben,« sagte Augustinowitsch mit vollkommener Gleichgültigkeit, »wir haben das Unsrige gethan, und jetzt können wir uns schlafen legen.«


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