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Vierzehntes Kapitel.

Es waren noch nicht viel Tage ins Land gegangen, als für Cashel, gerade während er mit der Familie Skene beim Tee saß, ein Brief anlangte. Da er die Handschrift erkannte, stieg ihm eine dunkle Röte bis in die Schläfen.

»Ach du lieber Himmel,« sagte Fräulein Skene, die ihm zunächst Platz genommen hatte. »Lies doch vor!«

»Geh in den Mond!« rief Cashel, indem er das Schreiben hastig wegzog, als sie danach griff.

»Ärgere ihn doch nicht, Fan,« ermahnte Frau Skene besänftigend.

»Nicht um die Welt, das liebe gute Kind,« meinte Miß Skene, ihm zärtlich die Hand auf die Schulter legend. »Laß mich nur auf die Unterschrift gucken – damit ich sehe, von wem es ist. Darf ich, Herzenscashel?«

»Von niemand ist es,« entgegnete dieser. »Weg da! Wenn du mich nicht zufrieden läßt, werde ich dir's schon warm machen, wenn du das nächste Mal zu mir in die Stunde kommst!«

»Das möchte ich erst sehen,« erwiderte Fanny verächtlich. »Wer war heute obenauf, möchte ich bloß wissen?«

»Hat das Mädel ihm doch einen mit der rechten Hand unters Kinn versetzt, wie ich's besser nie gesehen habe!« lachte Skene mit rauher Heiterkeit.

Cashel entzog sich dem Bereiche Fannys, um den Brief zu lesen, der folgendermaßen lautete:

 

Regents Park.

Lieber Herr Cashel Byron!

Ich möchte gern ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und einer meiner Freundinnen in die Wege leiten. Sie ist morgen nachmittag um drei Uhr bei mir. Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie um diese Zeit vorsprechen wollten.

Ihre ergebene
Lydia Carew.

 

Eine lange Pause trat ein: kein Laut war im Zimmer vernehmbar, außer dem Ticken der Uhr und der mit Krabben beschäftigten Kautätigkeit des Exchampions.

»Hoffentlich gute Nachrichten, Cashel,« meinte Mrs. Skene schließlich mit etwas bebender Stimme.

»Gehenkt will ich werden, wenn ich's verstehe,« entgegnete Cashel. »Wissen Sie, was das heißen soll?« Damit überreichte er seiner Adoptivmutter den Brief. Skene hielt mit Kauen inne, um seine Frau lesen zu sehen – eine Kunstfertigkeit, die ihm als ein Wunder der Gelehrsamkeit erschien.

»Ich denke mir, die Dame, die sie erwähnt, ist sie selbst,« entschied Frau Skene nach einigem Nachdenken.

»Nein,« erwiderte Cashel kopfschüttelnd. »Sie sagt deutlich, was sie will.«

»Schon gut,« bemerkte Skene verschmitzt, »aber schreiben kann sie es nicht. Darin liegt ja eben der große Nachteil des Schreibens – man kann niemals genau das ausdrücken, was man meint. Ich habe noch niemals Propositionen unterschrieben, wo nicht hinterher irgendein Mißverständnis herausgekommen wäre. Und Propositionen sind die besten Schriftstücke, die es überhaupt gibt.«

»Bester, du gehst selbst hin und siehst zu, was es zu bedeuten hat,« riet Frau Skene.

»Richtig,« ergänzte Skene. »Geh hin, mein Junge, und setz' dich mit ihr auseinander.«

»Der Brief ist kurz und nicht besonders freundlich,« meinte Fanny. »Sie hätte doch wenigstens so höflich sein können, oben ihr Wappen anzubringen.«

»Was würdest du wohl darum geben, an ihrer Stelle zu sein?« fragte Cashel spöttelnd, indem er den Brief auffing, den sie ihm mißachtend zuwarf.

»Wäre ich an ihrer Stelle, ich hätte eine höhere Meinung von mir, als mich gerade dir an den Hals zu werfen.«

»Still, Fanny!« rief Frau Skene. »Du gehst zu weit. Ned – du solltest ihr mit deinem Lachen keinen Vorschub leisten!«

Am folgenden Tage zollte Cashel seiner Diät besondere Beachtung, machte sich einige Bewegung mit den Handschuhen, nahm ein Bad mit anschließender Abreibung und erschien pünktlich um drei Uhr in glänzender Kondition in Regents Park. In der Erwartung eines Wiedersehens mit Bashville war er höchlichst erstaunt, als ihm die Tür von einem weiblichen Dienstboten geöffnet wurde.

»Miß Carew zu Hause?«

»Jawohl, mein Herr,« entgegnete das Mädchen, das sich schnurstracks in ihn verliebte. »Herr Byron?«

»Der bin ich,« bestätigte Cashel. »Sagen Sie mal – ist sonst noch jemand da?«

»Nur eine Dame, gnädiger Herr.«

»Ei verflucht! Na, das läßt sich nicht ändern. Nur nicht gleich verzweifeln!«

Das Mädchen führte ihn zu einer Tür; als er eintrat, schloß sie sie leise, ohne ihn zu melden. Das Zimmer war eine Art Bildergalerie, die ihr Licht von oben erhielt. Am einen Ende saßen zwei Damen und wandten ihm den Rücken zu: Lydia und eine Frau, deren vornehme Haltung und elegantes Äußere bei einem weniger präokkupierten Manne die Erwartung auf die Bekanntschaft mit einer Schönheit erweckt hätte. Nachdem er mit unentwegt auf Lydia gerichteten Augen etwas weiter vorgeschritten war, vollzog sich an seinem ganzen Wesen eine plötzliche Veränderung; er blieb stehen und war tatsächlich im Begriff, die Flucht zu ergreifen, als die Damen, die seinen leichten Schritt hörten, sich umwandten und ihn damit auf seinen Platz gebannt hielten.

Während Lydia ihm ihre Hand hinhielt, hatte deren Besucherin den Ankömmling zunächst mit Gleichgültigkeit, dann mit ungläubigem Staunen gemustert. Dann rief sie plötzlich mit einem Gefühlsausbruch entzückten Wiedererkennens, wie ein Kind, das ein verlorenes Spielzeug findet, laut und vernehmlich:

»Mein Herzensjunge!« Mit der Anmut eines Schwanes schwebte sie auf Cashel zu und schloß ihn in ihre Arme.

Als Empfangsbestätigung dieses Zärtlichkeitsbeweises schob er seine etwas aus der Fassung gebrachten Züge über ihre Schulter, machte Lydia ein Zeichen, indem er seine Zunge seiner Backe näherte, und sagte:

»Das ist, was man so die Stimme der Natur nennt – und unverfälschte Ware!«

»Was für ein prächtiger Kerl du bist!« rief Mrs. Byron, wobei sie ihn ein wenig von sich abhielt, um ihn besser bewundern zu können. »Wie hübsch du aussiehst, du Schlingel!«

»Wie geht's, Miß Carew?« fragte er, indem er sich losmachte und Lydia zuwandte. »Lassen Sie sie nur – sie ist bloß meine Mutter – oder vielmehr meine Mama,« fügte er gleichsam verbessernd hinzu.

»Wo kommst du denn her? Wo hast du gesteckt? Weißt du auch, daß ich dich sieben volle Jahre nicht gesehen habe, du entartetes Kind? Können Sie sich das vorstellen, Miß Carew, daß dieser Mensch mein Sohn ist? Gib mir noch einen Kuß, mein Herzensjunge,« bat sie mit einem zärtlichen Griff nach seinem Arm. »Was du für Muskeln hast!«

»Küsse nur zu, soviel dir's Spaß macht,« meinte Cashel, der mit seinem alten Schulbubentrotz kämpfte, wie er sich ihm gewaltsam wieder aufdrängte. »Ich hoffe es geht dir gut. Du siehst ja famos aus.«

»Jawohl,« entgegnete sie mit einem Anflug von Mißachtung für seine Unfähigkeit, sich in dieser packenden Szene zu ihrer Höhe emporzuschwingen. »Es geht mir auch tatsächlich famos. Deine Sprechweise ist gerade so verfeinert wie früher. Und warum trägst du denn das Haar so kurz? Du mußt es wachsen lassen, und –« »Ich will dir mal was sagen,« bemerkte Cashel, indem er zierlich ihre Hand erfaßte, die sie zu einem ordnenden Griff in seine Locken erhob. »Du läßt diese Geschichten jetzt sein, oder ich gehe augenblicklich aus dieser Tür und du bekommst mich weitere sieben Jahre nicht zu Gesicht! Du kannst dich entweder mit mir abfinden, wie du mich hier siehst – oder mich mir selbst überlassen. Solltest du aber besonderen Wert auf die Ursache meiner kurzen Haartracht legen, so findest du dergleichen in der Geschichte von Absalom. Weißt du jetzt Bescheid?«

Mrs. Byrons Haltung wurde einen Schatten kühler.

»Also wirklich!« seufzte sie. »Immer noch dasselbe, Cashel?«

»Immer noch dasselbe – auf beiden Seiten,« entgegnete er. »Ehe du drei Worte gesagt hattest, war's mir schon, als ob wir erst gestern voneinander gegangen wären.«

»Ich muß gestehen,« warf Lydia jetzt ein, »daß ich vom Erfolg meines Experiments eigentlich etwas befremdet bin. Ich habe dies Zusammentreffen absichtlich in die Wege geleitet. Die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden ließ mich die Wahrheit ahnen; und meine Vermutungen wurden mir von Herrn Byron durch eine Erzählung seiner Lebensgeschichte bestätigt.«

Mrs. Byrons Eitelkeit regte sich. »Sieht er mir ähnlich?« fragte sie mit einem forschenden Blick auf seine Züge. Er beachtete sie nicht und wandte sich mit unverhohlenem Ärger an Lydia:

»Deswegen also haben Sie mich kommen lassen?«

»Sind Sie enttäuscht?« fragte Lydia.

»Sehr froh ist er über das Wiedersehen offenbar nicht,« meinte Mrs. Byron wehmütig. »Er hat kein Herz.«

»Das wird jetzt eine Stunde lang so fortgehen,« bemerkte Cashel; dabei sah er Lydia an – augenscheinlich, weil er daran mehr Gefallen fand als an der Betrachtung seiner Mutter. »Das schadet auch nichts. Solange Sie nichts dagegen haben – mir soll's recht sein. Also, Mama – leg los!«

»Sie meinen wirklich, daß wir uns ähnlich sehen?« wiederholte Mrs. Byron, ohne sich um ihren Sohn zu kümmern. »Wahrhaftig – ich glaube es fast selbst. Nur ein ganz geringer –. Bist du verheiratet, Cashel?« sagte sie mit plötzlichem Mißtrauen.

»Ha, ha, ha!« brüllte dieser. »Nee! Aber ich hoffe, daß es eines Tages soweit kommen wird.« Er gestattete sich einen Seitenblick auf Lydia, die indes gerade Mrs. Byron aufs aufmerksamste zu beobachten schien.

»So. Jetzt erzähl mir alles! Was treibst du? Ich hoffe doch, Cashel, du bist nicht etwa zur Bühne gegangen?«

»Zur Bühne?« wiederholte er verächtlich. »Sehe ich denn so aus?«

»Gewiß nicht,« entgegnete seine Mutter etwas eigentümlich, »wenngleich du etwas ominös Beruflich-Künstlerhaftes an dir hast. Was hast du denn angefangen, nachdem du in so skandalöser Weise aus der dummen Schule da oben ausgebrochen bist? Womit verdienst du dir deinen Unterhalt? Verdienst du ihn überhaupt?«

»Ich nehme es wenigstens an – angesichts der Tatsache, daß ich noch am Leben bin. Wozu, meinst du denn, hätte ich mich nach der Art meiner Erziehung am besten geeignet? Vielleicht zum Straßenkehrer? Als ich von Panley fortlief, ging ich zur See.«

»Ausgesucht zur See! Du siehst aber gar nicht so aus. Und welchen Rang hast du dir in deinem Beruf erworben, wenn ich fragen darf?«

»Den obersten Rang. Das höchste der Gefühle,« entgegnete Cashel schnell.

»Herr Byron geht augenblicklich dem Seemannsberuf nicht mehr nach – noch ist er überhaupt längere Jahre dabei geblieben,« ergänzte Lydia.

Cashel sah halb hilfesuchend, halb widersprechend zu ihr hinüber.

»Er betreibt etwas ganz anderes,« fuhr sie mit ruhiger Hartnäckigkeit fort, »etwas ganz Überraschendes.«

»Können Sie denn das nicht für sich behalten?« rief Cashel. »Ich hätte Sie mir wirklich klüger gedacht. Was haben Sie davon, wenn sie jetzt ein großes Gezeter anfängt und mich zur Wut bringt? Wenn Sie's nicht aufstecken, drücke ich mich.«

»Was ist es denn nur um Gottes willen?« fragte Mrs. Byron. »Hast du irgendwie Schande über dich gebracht, Cashel?«

»Jetzt geht's los – habe ich's nicht gesagt? Ich halte ein gymnastisches Institut – das ist alles. Das ist wohl hoffentlich keine Schande, nicht wahr?«

»Ein gymnastisches Institut?« wiederholte seine Mutter mit hoheitsvollem Abscheu. »So ein Unsinn! Alle solche Sachen mußt du aufgeben, Cashel. Das ist sehr albern und sehr gewöhnlich. Dein lächerlicher Stolz hat dich natürlich davon abgehalten, mich um die Mittel zur Aufrechterhaltung der dir zukommenden Stellung anzugehen. Ich nehme an, ich muß dir wohl an die Hand gehen –«

»Wenn ich jemals einen roten Heller von dir nehme, so soll mich –« Er fing Lydias ängstlichen Blick auf und tat sich Zwang an. Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen, wich er einen Schritt zurück. »Nee,« sagte er, »das ist ja Wasser auf deine Mühle, wenn man mit dir heftig wird. So, jetzt versuch's mal, mich zu ärgern, wenn du kannst!«

»Ich sehe nicht den geringsten Grund zum Ärger,« bemerkte Mrs. Byron, da sie jetzt selbst ärgerlich war. »Dein Wesen scheint ja völlig unlenksam geworden zu sein – oder, besser gesagt, es ist so geblieben. Durch besondere Sanftmut hast du dich niemals hervorgetan.«

»Ach, nicht möglich!« erwiderte Cashel mit vergnüglicher Ironie. »Kein Grund zum Ärger? Auch nicht, wenn man mir sagt, ich wäre albern und gewöhnlich? Du bildest dir, glaube ich, weiß Gott ein, du redest noch zu deinem kleinen Cashel, zu dem Herzenskind, das du so fürchterlich lieb gehabt hast! Das ist aber nicht der Fall! Weißt du, mit wem du redest? So, Miß Carew, jetzt quietschen Sie los – mit dem Champion von Australien, den Vereinigten Staaten und England – Inhaber dreier silberner und eines goldenen Gürtels – Professor der Kunst des Faustkampfes für einen hohen Adel und ein verehrliches Bürgertum in London-W – für den ganzen Erdball aber gewöhnlicher Preisboxer, ohne Beschränkung hinsichtlich Gewicht und Farbe, nicht unter fünfhundert Pfund pari. Das ist Cashel Byron.«

Mrs. Byron sank staunend in sich zusammen. Nach einer Weile raffte sie sich auf und sagte: »Ach Cashel – wie konntest du!« Dann näherte sie sich ihm und fragte: »Soll das heißen, daß du hingehst und mit diesen riesenhaften, wilden Menschen kämpfst?«

»Jawohl. Den Goldgürtel kannst du haben und im König Johann tragen, wenn du meinst, daß er dir gut steht.«

»Und daß du diese Leute schlägst?«

»Jawohl. Frage nur Miß Carew, wie Billy Paradise aussah, nachdem ich ihn eine Stunde lang in Bearbeitung hatte.«

»Du wundersames Kind! Welch eine Beschäftigung! Und alles das hast du unter deinem eigenen Namen vollbracht?«

»Natürlich. Ich schäme mich dessen nicht. Oft habe ich mich gefragt, ob du meinen Namen vielleicht in den Zeitungen gelesen hättest.«

»Ich lese nie Zeitungen. Du mußt aber doch von meiner Rückkehr nach England gehört haben. Warum hast du mich nicht aufgesucht?«

»Ich wußte nicht, ob es dir angenehm wäre,« entgegnete er unsicher und ihren Augen ausweichend. »Nanu!« rief er, als er sich durch einen Blick auf Lydia eine Art Erfrischung bereiten wollte. »Sie hat sich ja dünne gemacht!«

»Sie tut recht, uns unter solchen Umständen allein zu lassen. Und nun sage mir, warum mein Herzensjunge daran zweifeln kann, daß seine leibliche Mutter sich nicht nach ihm gesehnt hat.«

»Warum, weiß ich selbst nicht,« entgegnete er mit wehmütiger Unterwerfung unter ihre Zärtlichkeitsausbrüche. »Aber er hat es nun einmal getan.«

»Wie gefühllos du bist! Wußtest du denn nicht, daß du immer mein inniggeliebter Augapfel gewesen bist – mein einziges Kind, mein Ein und Alles?«

Cashel, der neben ihr auf der Ottomane saß, stöhnte und rückte unruhig hin und her, erwiderte aber nichts.

»Freust du dich, mich wiederzusehen?«

»Ja,« sagte Cashel trübselig, »es scheint wenigstens so. Ich – heiliger Bimbam!« rief er mit plötzlicher Lebhaftigkeit. »Vielleicht, daß du mir bei dieser Geschichte unter die Arme greifen kannst. Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Hör mal, Mama: ich bin augenblicklich in einer großen Klemme und ich glaube, du kannst mir helfen, wenn du willst.«

Mrs. Byron maß ihn mit einem satirischen Blick. »Sicherlich will ich dir helfen,« entgegnete sie voll Güte, »soweit ich dazu in der Lage bin – mein Herzensjunge. Was ich besitze gehört dir.«

Cashel scharrte ungeduldig mit den Füßen auf dem Boden und sprang dann in die Höhe. Nach einer Pause, während der er einen aufsteigenden Protest der Empörung herunterzuschlucken schien, sagte er:

»Über den Geldpunkt kannst du dich ein für allemal beruhigen. Ich brauche nichts dergleichen.«

»Ich freue mich, daß du so unabhängig bist, Cashel.«

»Ich auch.«

»So sei doch ein bißchen liebenswürdiger.«

»Ich bin schon liebenswürdig genug!« rief er verzweifelt. »Du willst mich aber nicht anhören.«

»Mein Herzensjunge,« begütigte Mrs. Byron reuevoll. »Worum handelt es sich denn?«

»Also,« begann Cashel, etwas weicher gestimmt, »also – es handelt sich – ich will Miß Carew heiraten – das ist alles.«

»Du, Miß Carew heiraten?« Mrs. Byrons ganze Zärtlichkeit war dahin; ihre Stimme klang scharf und mißachtend: »Weißt du denn, du törichter Mensch, daß –«

»Ich weiß es alles auswendig,« unterbrach er entschlossen. »Was sie ist – und was ich bin – und den ganzen Rest. Ich will sie heiraten – und, was noch mehr ist, ich werde sie heiraten, und sollte ich jedem Laffen in London vorher den Hals umdrehen. Du kannst mir also helfen oder auch nicht – ganz, wie es dir beliebt. Willst du aber nicht, so brauchst du mich auch nie wieder deinen Herzensjungen zu taufen. Dixi!«

In diesem Augenblick begab Adelaide Gisborne sich für alle Zeiten ihm gegenüber ihrer oberhoheitlichen Rechte. Eine ganze Weile hindurch saß sie schweigend mit einem Ausdruck unvergleichlicher Milde in den Zügen da. Dann ergriff sie das Wort:

»Offen gesagt, ich sehe gar nicht ein, warum du sie nicht heiraten solltest. Es wäre eine sehr passende Partie für dich.«

»Jawohl – aber eine verflixt schlechte für sie.«

»Das sehe ich wirklich nicht ein, Cashel. Wenn dein Onkel stirbt, wirst du, wie ich annehme, die Besitzungen in Dorsetshire erben.«

»Ich soll Besitzungen erben? Meinst du das im Ernst?«

»Natürlich. Der alte Bingley Byron – so widerwärtig er auch sonst sein mag – kann auch nicht ewig leben.«

»Wer in drei Teufels Namen ist Bingley Byron – und was hat er mit mir zu schaffen?«

»Dein Onkel ist er. Lieber Cashel, du mußt doch wirklich einmal über diese Dinge nachdenken. Bist du denn nie auf den Einfall gekommen, daß du auch Verwandte haben mußt – genau so wie andere Menschen?«

»Du hast mir niemals etwas von ihnen gesagt. Nein, da soll mich doch wirklich gleich – aber – aber – ich meine – angenommen er ist tatsächlich mein Onkel, bin ich denn sein gesetzlicher Erbe?«

»Ja. Walford Byron, außer deinem Vater der einzige Bruder, ist schon vor Jahren, als du noch bei Doktor Moncrief warst, gestorben und hat keine Söhne hinterlassen. Bingley ist Junggeselle.«

»Aber,« warf Cashel vorsichtig ein, »werden wir nicht vielleicht Scherereien haben wegen meiner – wie soll ich sagen –«

»Mein liebes Kind, ich begreife gar nicht, was du denkst und sprichst? Deine Ansprüche sind so klar wie irgend etwas.«

»Ich meine nämlich,« brachte Cashel errötend hervor, »eine Menge Leute wollten immer wissen, daß du überhaupt nicht verheiratet gewesen wärst.«

»Was?« rief Mrs. Byron empört. »O – das kann kein Mensch wagen! Unmöglich! Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«

»Ich habe gar nicht daran gedacht,« entschuldigte er sich heftig. »Damals war ich zu jung, um mich daran zu kehren. Und jetzt ist es ja egal. Mein Vater ist tot, nicht wahr?«

»Er starb, als du noch ein Baby warst. Du hast mich oft ärgerlich gemacht, armer, kleiner, unschuldiger Kerl, wenn du mich an ihn erinnertest. Sprich mir nicht von ihm!«

»Wenn du's nicht wünschest – nicht. Nur eins, Mama. War er ein Gentleman?«

»Natürlich! Welche Frage!«

»Dann bin ich also ebensogut, wie irgendeiner von den feinen Kerls, die sich für ihresgleichen halten. Sie hat einen Vetter bei der Regierung: einen Bengel, der sich für den Minister des Innern ausgibt, wahrscheinlich in einem großen Saal auf einem Sessel sitzt und das Publikum anschnauzt. Bin ich ebensoviel wie er?«

»Du gehörst mütterlicherseits zu den allerbesten Kreisen, Cashel. Die Byrons sind zwar nur bürgerlich, aber eine der ältesten eingesessenen Gutsbesitzerfamilien in ganz England.«

Bei Cashel zeigten sich Anflüge von Erregung. »Wie hoch beläuft sich das jährliche Einkommen?« fragte er.

»Das weiß ich nicht genau. Dein Vater war stets in Kalamitäten; und sein Vater auch. Bingley ist aber ein Geizhals. Vielleicht also fünftausend Pfund jährlich.«

»Das ist eine unabhängige Stellung. Das genügt. Sie hat's ja gesagt, sie könnte es von einem Mann nicht beanspruchen, daß er ebenso bodenlos reich ist wie sie.«

»Das hat sie gesagt? Dann hast du die Frage also schon mit ihr erörtert?«

Cashel wollte gerade antworten, als das Mädchen eintrat, um ihnen mitzuteilen, daß Miß Carew im Bibliothekzimmer wäre und bäte, sie dort aufzusuchen, sobald sie nichts Besseres zu tun hätten. Kaum waren sie wieder allein, als er eifrig das Wort ergriff:

»Es wäre mir lieb, Mama, wenn du jetzt nach Hause gingest, und ich sie im Bibliothekzimmer allein abfassen könnte. Sage mir, wo du wohnst. Ich werde dann abends kommen und dir alles erzählen. Vorausgesetzt natürlich, daß du nichts dagegen hast.«

»Was könnte ich denn dagegen haben, mein Herzensjunge. Bist du auch sicher, daß du dir durch übergroße Eile deine Aussichten nicht verdirbst? Sie hat keinen Grund zur Überstürzung, Cashel – und sie weiß es.«

»Ich bin totensicher, daß der Zeitpunkt jetzt für mich gekommen ist – jetzt oder nie. Mir sagt's immer mein Instinkt, wenn ich loslegen und den Gang zum Abschluß bringen muß. Da hast du deinen Mantel.«

»So eilt es dir, deine arme alte Mutter loszuwerden, Cashel?«

»Redensarten! Du bist nicht alt! Dies eine Mal nimmst du es mir auch nicht übel, wenn ich dich zu gehen bitte, nicht wahr?«

Sie lächelte ihn liebevoll an, nahm ihren Mantel und hielt ihm ihre Wange zum Kusse hin. Diese ungewohnte Gebärde brachte ihn in Verwirrung: er wich einen Schritt zurück und nahm unwillkürlich eine Haltung der Selbstverteidigung an, als ob er einem pugilistischen Problem gegenüberstände. Dann raffte er sich aber sofort zusammen, küßte sie und geleitete sie ungeduldig zur Haustür, die er leise hinter ihr schloß, um sie allein der Suche nach ihrem Wagen zu überlassen. Dann schlich er hinauf in die Bibliothek; er fand Lydia lesend.

»Sie ist fort,« begann er.

Lydia legte das Buch beiseite und blickte zu ihm auf. Sie sah, was nun kommen mußte und senkte die Augen, um eine gewaltsame Regung der Angst zu verbergen. Dann sagte sie mit einem Aufwand gemessener Strenge, die sie viel Mühe kostete: »Ich hoffe, Sie haben sich nicht gezankt.«

»Gott soll mich bewahren! Wir haben uns geküßt wie Turteltauben. In den Zwischenpausen seift sie einen ein, daß man sie gegen seinen eigenen Willen fast lieb haben könnte. Sie ist dann fortgegangen, weil ich sie darum ersucht habe.«

»Und warum fordern Sie meine Gäste zum Fortgehen auf?«

»Weil ich mit Ihnen allein sein will. Tuen Sie nur nicht so, als ob Sie mich nicht verständen. Sie hat mir einen Haufen Sachen über mich selbst erzählt, die unsere Angelegenheit ganz bedeutend umkrempeln. Meine Abstammung ist erstklassig. Ich bin der einzige Erbe einer Gutsbesitzerfamilie, die mit Wilhelm dem Eroberer herübergekommen ist. Ich kriege auch ein sehr anständiges Einkommen. Jetzt kann ich mir's leisten, dem ollen Webber Gewicht abzugeben.«

»Und?« fragte Lydia ernst.

»Und,« fuhr Cashel unbeirrt fort, »der einzige Nutzen von dem ganzen Plunder besteht für mich darin, daß ich heiraten kann, wenn ich will. Jetzt wird nicht mehr geboxt und Unterricht erteilt!«

»Und werden Sie, wenn Sie verheiratet sind, mit Ihrer Frau ebenso zärtlich sein wie mit Ihrer Mutter?«

Cashels ganze gehobene Stimmung fiel in sich zusammen. »Das wußte ich, daß Sie das denken würden,« sagte er. »Es geht mir immer so mit ihr – ich kann mir nicht helfen. Ich bin nicht imstande, eine Frau wie sie geht und steht zu lieben – nur weil sie zufälligerweise meine Mutter ist. Und ich will auch niemand zu Gefallen aus meinem Herzen eine Mördergrube machen. Wenn sie dabei ist, stehe ich immer wie ein alberner Tölpel oder wie ein brutaler Mensch da. Bin ich jemals mit Ihnen so gewesen?«

»Oh ja. Ausgenommen,« fügte sie hinzu, »daß Sie mir gegenüber nie offenkundige Abneigung zur Schau getragen haben.«

»Sehen Sie wohl! Ausgenommen! Das ist ein sehr wichtiges Ausgenommen. Ich hege aber gar keine Abneigung gegen sie. Blut ist dicker als Wasser – und ich habe etwas für sie übrig, nur kann ich mich mit ihrem Getue nicht abfinden. Bei Ihnen ist das ganz anders – wie das ist, kann ich nicht erklären, weil ich mich auf Gefühlssachen nicht gut verstehe – nicht, daß es überhaupt mit dem Gefühl etwas zu tun hätte – übrigens meine ich das auch gar nicht – aber – in gewissem Sinne können Sie mich doch ganz gut leiden, nicht wahr?«

»Jawohl – in gewissem Sinne kann ich Sie ganz gut leiden.«

»Schön. Wollen Sie mich also nicht heiraten?« fragte er beklommen. »Ich bin kein solcher Hanswurst, wie Sie denken. Nach einiger Zeit werden Sie mich schon lieber haben.«

Lydia wurde sehr bleich.

»Haben Sie auch in Betracht gezogen,« sagte sie, »daß Sie in Zukunft ein unbeschäftigter Mann sein werden – und ich immer eine beschäftigte Frau mit allerhand Arbeit im Kopfe, die Ihnen vielleicht sehr dumm scheint?«

»Ich werde nicht müßig sein. Es gibt mancherlei außer Boxen, was ich machen kann. Wir werden schon miteinander gut auskommen – keine Angst. Leute, die sich lieb haben, kennen keine Meinungsverschiedenheiten; und Leute, die sich hassen, keine Gemütlichkeit. Ich werde Augen und Ohren offen halten, um Sie glücklich zu machen. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich Sie bei Ihrem Latein und Griechisch störe. Ich erwarte nicht, daß Sie mir Ihre ganze Lebensweise aufopfern sollen. Warum auch? Jedes Ding hat seinen Grund und Zweck. So lange Sie mein sind und niemandes sonst, will ich zufrieden sein. Und ich gehöre Ihnen und keinem andern Menschen. Was kommt dabei heraus, wenn man ein halbes Dutzend Möglichkeiten ins Auge faßt, die dann doch niemals eintreten? Lassen Sie uns den Versuch machen! Sie sind viel zu gutmütig, als daß Sie jemals widerwärtig werden könnten.«

»Es wäre ein sehr ungleicher Handel,« sagte sie zweifelnd. »Sie müßten Ihre Beschäftigung aufgeben – und ich brauchte nur auf meine recht wenig zweckdienliche Freiheit zu verzichten.«

»Ich schwöre, niemals wieder zu boxen – und Sie schwören einfach gar nichts. Wenn das kein leichter Vertrag ist, dann weiß ich's nicht besser.«

»Leicht für mich – ja. Aber für Sie?«

»Kümmern Sie sich nicht um mich. Sie tun, was Ihnen beliebt; und ich tue, was Ihnen beliebt. Sie sind eine gewissenhafte Person; ich weiß daher, daß alles, was Sie wollen, immer das Beste ist. Ich bin der Geschicktere von uns beiden, Sie die Klügere. Na, wollen Sie?«

Lydia blickte sich im Zimmer um, als ob sie nach einer Möglichkeit der Rettung suche. Cashel wartete in banger Spannung. Eine lange Pause trat ein.

»Daran kann es doch nicht liegen,« meinte er in geradezu rührendem Tone, »daß Sie Angst vor mir haben, weil ich ein Preisboxer war?«

»Vor Ihnen Angst? Nein! Angst vor mir selbst, Angst vor der Zukunft, Angst um Ihretwillen! Wie dem auch sei – mein Entschluß ist längst gefaßt. Als ich das Zusammentreffen mit Ihrer Mutter in die Wege leitete, nahm ich mir vor, Sie zu heiraten, falls Sie mich noch einmal fragen sollten.«

Sie erhob sich ruhig und wartete. Die rauhe Kühnheit des Boxerringes fiel gleichsam wie ein Gewand von ihm herab: er wurde über und über rot und wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Sie wußte es ebensowenig. Ohne es zu wollen, näherte sie sich ihm und hob ihre Augen zu ihm auf. Er war fast wie geblendet vor lauter Verwirrung. Zögernd schlug er seine Arme um sie und küßte sie. Und da riß sie sich plötzlich aus seinen Armen los – sie umklammerte die Aufschläge seines Rockes fest mit ihren Händen und lehnte sich zurück, bis sie mit ihrer ganzen Schwere an ihm herniederhing.

»Cashel,« flüsterte sie, »ich glaube, wir sind das kindischste Brautpaar auf der ganzen Welt – wir haben keine Ahnung, wie man sich dabei benimmt. Hast du mich denn wirklich lieb?«

Mehr als ein gepreßtes ›Ja‹ vermochte er nicht hervorzubringen. Hilflos und verlegen starrte er sie an. Seine Ratlosigkeit war fast peinlich; und doch war Lydia klug genug, sich darüber zu freuen, da sie ihn in untrüglicher Weise als einen völligen Neuling in Dingen der Liebe erkannte, wie sie ja selbst ein unbeschriebenes Blatt war. Er kam aus seiner Schüchternheit nicht heraus und suchte offenbar derartig sehnlichst nach einer Gelegenheit, sich zu entfernen, daß sie ihn schließlich selbst bat, sie eine Weile sich selbst zu überlassen. Doch verspürte sie die Enttäuschung wie einen leichten Stich am Herzen, als er sich unverzüglich dazu bereit erklärte.

Kaum hatte er dem Hause den Rücken gekehrt, als er sich eiligst nach der von seiner Mutter aufgegebenen Adresse begab: ein mächtiges Gebäude in Westminster, das in herrschaftliche Wohnungen eingeteilt war und zu dessen siebentem Stockwerk er in einem Aufzug hinaufgelangte. Als er aus dem Lift heraustrat, sah er Lucian Webber vor ihm einen langen Korridor hinunterschreiten.

Einem plötzlichen Impulse folgend ging er ihm nach und holte ihn gerade ein, als er in ein Zimmer eintreten wollte. Da Lucian bemerkte, daß jemand seinen Bemühungen, die Tür zu schließen, Widerstand entgegensetzte, so blickte er sich um, erkannte Cashel, wurde kreidebleich, zog sich hastig ins Zimmer zurück, suchte hinter einem Schreibtisch Schutz und riß einen Revolver aus einer Lade. Erstaunt und erschreckt wich Cashel zurück und hob seinen rechten Arm, als ob er einen Schlag abwehren wollte.

»Halt da!« rief er. »Legen Sie das verdammte Ding weg – wollen Sie wohl! Wenn nicht, rufe ich um Hilfe.«

»Sobald Sie einen Schritt näher kommen, schieße ich,« entgegnete Lucian erregt. »Ich werde's Ihnen beibringen, daß Ihre mittelalterliche Brutalität gegen die Waffen machtlos ist, die die Wissenschaft der zivilisierten Menschheit in die Hände legt. Scheren Sie sich aus meiner Wohnung hinaus! Ich habe keine Angst vor Ihnen. Ich habe aber keine Lust, mich durch Ihre Gegenwart behelligen zu lasten.«

»Verfluchte Unverschämtheit!« erwiderte Cashel. »Ist das eine Manier, einen Menschen zu empfangen, der Ihnen einen freundschaftlichen Besuch abstatten will?«

»Jetzt auf einmal freundschaftlich – zweifellos, nachdem Sie sehen, daß ich nicht wehrlos bin.«

Cashel pfiff durch die Zähne. »Aha,« sagte er, »Sie dachten, ich käme, um Sie zu versohlen? Haha! Das nennen Sie Wissenschaft oder dergleichen – jemand die Pistole unter die Nase zu halten? Abzufeuern wagen Sie nicht – Sie wissen schon warum. Legen Sie das Instrument lieber beiseite, sonst geht es Ihnen womöglich noch aus Versehen los. Ich fühle mich immer ungemütlich, wenn ich Kinder und Narren mit Feuerwaffen hantieren sehe. Ich wollte Ihnen nämlich nur anzeigen, daß ich Ihre Cousine heiraten werde.«

Lucians Gesichtszüge veränderten sich. Er glaubte ihm. Und doch widersprach er halsstarrig: »Ich bezweifle die Stichhaltigkeit dieser Anzeige. Sie lügen!«

Das war für Cashel zuviel. »So. Ich sage es Ihnen noch einmal,« wiederholte er in drohendem Tone, »daß Ihre Cousine mit mir verlobt ist. Nennen Sie mich jetzt einen Lügner und schlagen Sie mir ins Gesicht, wenn Sie's wagen!« Dann zog er ein Lederportefeuille aus der Tasche, entnahm ihm eine Banknote und sagte: »Sehen Sie mal her! Ich gebe Ihnen diese Zwanzig-Pfund-Note, wenn Sie ein einziges Mal nach mir schlagen.« Er legte die Hände auf den Rücken und stellte sich knapp vor Lucian hin, der, halb übel vor Wut und halb gelähmt von einer Empfindung, die er nicht als Furcht anerkennen wollte, sich gewaltsam dazu zwang, nicht vom Platz zu weichen. Cashel hielt ihm seine Backe einladend hin und forderte ihn mit unheilvollem Grinsen auf: »Nur gerade darauf los, Brüderchen. Bedenken Sie doch – zwanzig Pfund!«

Lucian hätte in diesem Augenblick seine ganze politische und gesellschaftliche Zukunft für die Kraft und Geschicklichkeit seines Gegners hingegeben. Er sah nur ein einziges Mittel, sich Cashels quälenden Hohn und den Selbstvorwurf der Feigheit vom Leibe zu schaffen; sein Ehrenkodex, wie er ihn auf einer englischen öffentlichen Schule gelernt hatte, war seinem eigensten Wesen nach derselbe, wie der des Preisboxers. Mit wahrer Verzweiflung ballte er die Faust und schlug zu. Der Hieb ging ins Leere verloren; Lucian stolperte vornüber gegen Cashel, der dröhnend auflachte, seinem Angreifer begütigend auf die Schulter klopfte und dazu sagte:

»Gut gemacht, mein Junge. Ich dachte. Sie würden kneifen. Sie haben aber Courage bewiesen und sich die Stakes ehrlich verdient. Ich werde es Lydia erzählen, daß Sie mit mir für zwanzig Pfund geboxt und nach dem Umfange Ihrer Leistungen gewonnen haben. Sind Sie nicht stolz auf Ihren Gang mit dem Champion?«

»Mein Herr –« begann Lucian. Es folgte aber nichts Zusammenhängendes.

»Jetzt setzen Sie sich ein Viertelstündchen ruhig hin und trinken Sie keinen Alkohol. Dann sind Sie wieder obenauf. Hinterher werden Sie sich freuen, daß Sie Courage gezeigt haben. Guten Abend also fürs erste. Ich weiß schon, wie Ihnen zumute ist – und daher verschwinde ich lieber. Pulvern Sie sich aber unter keinen Umständen mit Wein auf. – Davon wird Ihnen nur noch schlechter. Tata!«

Als Cashel sich entfernt hatte, sank Lucian in einem Sessel zusammen; ein erneutes Auflodern der Leidenschaften und Eifersüchteleien kam über ihn, denen er sich ebenso entwachsen gedeucht hatte wie den Schulbubenjacken, zu deren Zeiten er solche Regungen ehedem empfunden. An die hundert Mal ging er die soeben verlebte Szene wieder durch – nicht, wie sie sich zugetragen hatte, wenngleich die Erinnerung daran ihn mit jedem Augenblick aufs neue schmerzte, sondern, wie sie sich vielleicht zugetragen haben könnte, wenn er und nicht Cashel der stärkere gewesen wäre. Vergebens versuchte er zu einer etwas niedrigeren Basis der Betrachtung herabzusteigen und sich vor sich selbst mit dem Mut zu brüsten, der ihn zum Wagnis des Zuschlagens getrieben hatte. Er vermochte seinem innerlichen Bewußtsein nicht zu entgehen, daß Furcht und Haß ihn zu einem Paroxysmus der Wut gerade dem Manne gegenüber getrieben hatten, dem er ein Exempel würdevoller Selbstbeherrschung hätte statuieren müssen. Ein betäubender Wirrwarr seiner Gedanken, der durch den nervösen Chok ungewohnter, gewaltsamer körperlicher Überanstrengung gleichzeitig beschleunigt und womöglich noch erhöht wurde, brachte ihn ganz außer Fassung. Er brauchte Anteilnahme, eine Zufluchtsstätte, eine Gelegenheit, sich wieder zurechtzufinden, indem er gleichsam alles noch einmal und dann in richtiger Form durchmachte. Ehe eine Stunde verstrichen war, befand er sich auf dem Wege nach Regents Park.

Lydia hielt sich, als er anlangte, mit einem Buche in ihrem Boudoir auf. Er war kein scharfsichtiger Beobachter und so konnte er auch keine Veränderung an ihr wahrnehmen. Sie schien so ruhig wie immer; sie hielt die Augenlider halb geschlossen; und die Berührung ihrer Hand übte dieselbe bezwingende Gewalt auf ihn aus, wie sie es stets getan hatte. Wenngleich er seit dem Tage, an dem sie ihn in Bedford Square abwies, keine Hoffnung mehr auf ihren Besitz in seinem Innern genährt hatte, so überkam ihn doch ein Gefühl unerträglichen Verlustes, da er sie zum erstenmal als die Anverlobte eines andern sah – und was für eines andern!

»Lydia!« begann er; er versuchte einen heftigen Ton anzuschlagen, doch mißlang es ihm, die konventionelle Zuvorkommenheit abzuschütteln, die er sich gleichsam zur zweiten Natur gemacht hatte. »Mir ist etwas zu Ohren gekommen, was mich mit unaussprechlichem Schmerz erfüllt. Ist es wahr?«

»Die Boten reiten schnell,« erwiderte sie. »Ja – es ist wahr.« Sie sprach mit ruhiger Gemessenheit und so freundlich, daß ihm beim Versuche einer Entgegnung die Worte in der Kehle stecken blieben.

»Dann, Lydia, sind Sie die Trägerin der Hauptrolle in einer fürchterlicheren Tragödie, als ich sie jemals von der Bühne herab habe sich abspielen sehen.«

»Es ist seltsam, nicht wahr?« sagte sie mit einem Lächeln über sein Bemühen, eindrucksvoll zu wirken.

»Seltsam? Über alle Maßen jammervoll! Ich glaube, ich darf es wohl so nennen. Und Sie sitzen da und lesen so unbesorgt, als ob nichts geschehen wäre.«

Wortlos reichte sie ihm das Buch.

»Ivanhoe!« sagte er. »Ein Roman!«

»Jawohl. Erinnern Sie sich noch – es war, ehe Sie mich genauer kannten– da sagten Sie, Scotts Romane wären die einzigen, die Sie in Damenhänden zu sehen wünschten?«

»Das werde ich wohl gesagt haben. Jetzt kann ich aber nicht von Literatur –«

»Ich lenke Sie keineswegs von dem ab, worüber Sie jetzt zu reden beabsichtigen. Ich wollte Ihnen gerade erklären, daß mir Ivanhoe zufällig in die Hände fiel, als ich vor einer halben Stunde nach – ich gestehe es ein – nach etwas recht Romantischem zum Lesen suchte. Ivanhoe war ein Preiskämpfer – die erste Hälfte des Buchs enthält die Beschreibung eines Preiskampfes. Ich dachte gerade im stillen, ob vielleicht ein Schriftsteller des vierundzwanzigsten Jahrhunderts die Heldentaten meines Gatten aufstöbern und ihn der Welt als eine Art englischen Cid des neunzehnten Säkulums darreichen wird – mit der ganzen Gloriole der Altertümlichkeit seiner Abenteuer.«

Lucian machte eine Gebärde der Ungeduld: »Ich habe es niemals begreifen können, wie es möglich ist, daß ein Weib Ihrer Begabung gewohnheitsmäßig bei perversen und absurden Ideen beharrt. O Lydia, soll das das Ende aller Ihrer Talente und Kenntnisse sein? Verzeihen Sie mir, wenn ich eine Saite von unliebsamem Klang berühre – aber diese Ehe erscheint mir derartig widernatürlich, daß ich unumwunden reden muß. Ihr Vater machte Sie zu einer der reichsten und gebildetsten Frauen Europas. Würde er dem Schritt, den Sie jetzt vorhaben, seine Zustimmung verleihen?«

»Mir will es scheinen, als hätte er mich ausdrücklich zu einem Ende dieser Art erzogen. Wen sollte ich denn nach Ihrer Ansicht heiraten?«

»Ohne Zweifel sind nur wenig Männer Ihrer würdig, Lydia. Dieser Mann aber am wenigsten von allen. Selbst wenn er ein Künstler, ein Dichter, oder irgendein Genie wäre – ich könnte den Gedanken daran noch ertragen. Ich hege wahrlich in diesem Punkte keine Klassenvorurteile. Aber ein – ich will mich bemühen, nichts zu sagen, wovon Sie nicht gerechterweise zugeben müssen, daß es zu klar und deutlich ist, um übersehen werden zu können – ein Mann der niederen Stände, der einen Beruf betreibt, wie ihn selbst diese niederen Stände verachten – ein Mann, der ungebildet ist und roh, der in diesem Augenblick vom Gesetz eine entehrende Strafe zu erwarten hat! Ist es denn möglich, daß Sie alles das in Betracht gezogen haben?«

»Nicht allzu eingehend. Diese Dinge sind nicht dazu angetan, mich nachhaltig zu beschäftigen. Hinsichtlich des einen Punktes jedoch kann ich Sie trösten. Ich habe Cashel von jeher als einen Gentleman anerkannt – nach dem Sinne, den Sie dem Worte beilegen. Jetzt stellt es sich heraus, daß er es wirklich ist, und zwar einer in hervorragender Stellung. Was nun diese Sache mit dem Gesetz angeht, so habe ich mit Lord Worthington und auch mit den Rechtsanwälten gesprochen, die die Angelegenheit in Händen haben. Sie sind der festen Überzeugung, daß angesichts der Tatsache, daß die Polizei nicht über stichhaltige Beweise verfügt, vom Verteidiger eine Rechtfertigung eingebracht werden kann, die ihn vor der Gefängnisstrafe bewahrt.«

»Eine solche Rechtfertigung gibt es nicht,« entgegnete Lucian ärgerlich.

»Vielleicht auch nicht. Soweit ich daraus klug werden kann, sind es eigentlich mehr erschwerende Umstände eines Vergehens als eine Rechtfertigung. Wenn sie ihn aber ins Gefängnis stecken, so ändert das nichts an der Sachlage. Er kann sich mit der Gewißheit trösten, daß ich ihn sofort heirate, wenn er wieder freikommt.«

Lucians Gesicht wurde beträchtlich länger. Er ließ die Diskussion fallen und sagte etwas unvermittelt: »Ich kann nicht annehmen, daß Sie sich würden täuschen lassen. Wenn er ein Gentleman ist, so ändert das allerdings die ganze Sachlage.«

»Lucian,« entgegnete Lydia ernst, »wollen Sie mir glauben, daß es tatsächlich die Sachlage für mich verändert hat? Es gibt, wie ich sehr wohl weiß, eine Basis, von der aus seine bisherige Tätigkeit als ein erdrückendes Moment erscheint; aber auf dieser Basis stehen wir nunmehr ebensowenig wie er selbst. Die Kenntnis seines gesellschaftlichen Ranges kann hinsichtlich des relativ Schwerwiegenden an keinem der Faustschläge, die er jemals ausgeteilt hat, etwas verändern. Und doch haben Sie selbst soeben zugegeben, daß diese Entdeckung die ganze Sachlage ummodelt. Nicht das Preisboxen als solches also war es, wogegen Sie etwas einzuwenden hatten: es diente lediglich als Vorwand. Ihre tatsächliche Abneigung richtete sich gegen die Gesellschaftsklasse, der Preisboxer angehören. Und so bringe ich denn, mein lieber Vetter Lucian, soweit Ihre Gedanken von dieser Welt sind, alle Ihre Einwände zum Schweigen, indem ich Sie hiermit endgültig davon überzeuge, daß ich Sie in keine angeheiratete Verwandtschaft mit Schlächtern, Maurern oder sonstigen Vertretern der verschiedenen Gewerbe bringe, aus denen Cashels Beruf, wie Sie mir solches zur Warnung dienen ließen, gemeiniglich seinen Bedarf deckt. Bitte, noch einen Augenblick! Ich will Ihnen auch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie wünschen mir anzudeuten, daß mein Freund Lucian, soweit dessen Gedanken nicht von dieser Welt sind, bei dieser ganzen Angelegenheit noch anders und weit mehr beteiligt ist, insofern er es mit eigenen Augen ansehen muß, wie der Phönix moderner Kultur sich einem seiner unwürdigen Mann an den Hals wirft.«

»Das ist es allerdings, was ich sagen wollte – nur, daß Sie es etwas zu bescheiden ausdrücken. Es handelt sich darum, daß ein Phönix – nicht nur moderner Kultur, sondern auch natürlicher Begabung und jeglichen glücklichen Zusammentreffens aller Erscheinungsformen erhöhter Verfeinerung – sich an einen Mann wegwirft, der durch seine Neigungen und Beschäftigungen außerstand gesetzt wird, dies Ausnahmewesen zu verstehen oder in den Kreis einzutreten, in dem es sich bewegt.«

»Hören Sie mich jetzt geduldig an, Lucian. Ich will Ihnen dies Mysterium zu erklären versuchen und es dem Rest der Welt anheimstellen, mich mißzuverstehen und zu mißdeuten, wie es ihm beliebt. – Zunächst werden Sie mir zugeben, daß sogar ein Phönix heiraten muß, falls er das Werk der Aufklärung an seine Kinder weiterzugeben beabsichtigt. Der beste Weg, den ein solcher weiblicher Phönix einschlagen könnte, bestünde darin, einen andern Phönix zu heiraten. Da sie aber – ach armes Mädchen – nicht einmal ihr eigenes, geschweige denn ein fremdes Phönixtum genügend zu schätzen imstande ist, so zieht sie in höchst perverser Form einen gewöhnlichen Sterblichen vor. Wer soll nun dieser Sterbliche sein? Mit nichten ihr Vetter Lucian! Aufsteigende politische Sterne müssen hilfsbereite und hilfsfähige Ehefrauen haben mit Begabung für weibliche Politik und mit dem Talent des Besuchens und Empfangens – alles Eigenschaften, die mit Phönixtum unvereinbar sind. Mit nichten auch, wie Sie soeben in Erwähnung gezogen, ein Mann der Druckerschwärze! Der Phönix hat hiervon sein Teilchen vorwegbekommen, da er einem solchen Manne gegenüber die Rolle des Handlangers zu spielen übernahm, und verspürt keine Lust, das Experiment zu wiederholen. Die pathologische Selbstbetrachtung und unwissende Selbstberäucherung von Poeten, Romanschreibern und ihresgleichen hängt ihr längst zum Halse heraus. Soweit Künstler in Frage kommen, sind alle guten bereits verehelicht; und seit der Zeit, wo die übrigen in hunderten von Büchern es haben nachlesen können, daß sie die gottbegnadetsten und gottähnlichsten aller Menschen sind, werden auch diese fast so unerträglich wie ihre literarischen Schmeichler.

Nein, Lucian – das Phönixweibchen hat mit der Arbeit seiner Kinderjahre seine Schuld bei Literatur und Kunst beglichen. Es will sich in Zukunft so gut es kann zu seinem Nutzen und zu seiner Kurzweil mit beiden befassen; in ihren Werkstätten aber will es sich nicht mehr plagen. Sie sagen nun, es hätte wenigstens jemanden mit den Gewohnheiten eines Kavaliers heiraten können. Die Kavaliere aber, die ihm bekannt wurden, sind entweder Kunstdilettanten – und demzufolge im Besitze des Egoismus der Berufenen ohne deren Können; oder sie sind Männer des Amüsements, beziehungsweise Tänzer, Tennisverehrer, Schlächter oder Spieler. Von den großen Nullen schließlich will ich gar nicht erst reden. In den Augen eines Phönix ist sogar die Arena – alias der Ring – eine bessere Charakterschule als der Salon; und ein Preisboxer ist ein Held im Vergleich zu dem Jammerkerl, der eine Meute Hunde auf ein Stück Wild hetzt.

Denken Sie sich also jetzt, daß dies arme Phönixweibchen plötzlich einem Mann begegnet, der sich niemals im Leben der Selbstanalyse schuldig gemacht hat – der klagte, wenn er traurig war, und jubelte, wenn er sich freute, ganz wie ein Kind und ganz anders als ein moderner Mann – der ehrlich ist und mutig, stark und schön! – Sie reißen die Augen auf, nicht wahr, Lucian? Sie wollen Cashels Äußerem nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen? Er zählt fünfundzwanzig Jahre – und doch hat er noch keine einzige Furche im Gesicht. Seine Züge sind weder gedankenvoll, noch poetisch, noch matt, noch zweifelnd, noch alt, noch selbstzufrieden – wie es meine vielleicht sind. Die Züge eines heidnischen Gottes, dem ewige Jugend zu eigen ist: da ich nun einmal heiraten muß, wäre ich ja wahnsinnig, wenn ich mir einen solchen Mann entgehen lassen wollte.«

»Sie sind so wahnsinnig, wie nur irgend möglich!« rief Lucian, sich voll Schrecken und Zorn erhebend. »Das ist Verblendung! Sie sehen ebensowenig den wahren Mann, wie ich ihn sehe, als daß Sie –«

»Als daß Sie mich sehen, wie ich denen erscheine, die mich verabscheuen, Lucian. Woher wissen Sie denn, daß das, was Sie sehen, auch der wahre Mann ist?«

»Ich sehe ihn, wie ihn jeder außer Ihnen sieht. Daraus ergibt sich ja Ihre Verblendung. Sie selbst wissen es – Sie müssen es wissen – daß Sie, soweit die Angelegenheit in Frage kommt, Ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen haben.«

»Ich bin Ihnen nunmehr mit Begründungen an die Hand gegangen, Lucian. Ich erkläre mich jetzt zu Erörterungen bereit.«

»Erörterungen! Begründungen! Meinen Sie denn, Ihr Wahnsinn sei deshalb weniger Wahnsinn, weil Sie Begründungen dafür finden können? Rationeller Wahnsinn ist der schlimmste Wahnsinn, weil er eine Waffe gegen die Vernunft besitzt.«

Jetzt öffnete Lydia ihre Augen zum erstenmal während der ganzen Unterhaltung zu ihrer vollen Größe. »Lucian,« sagte sie voll Entzücken, »Sie entwickeln sich. Ich glaube, dies ist das klügste, was ich Sie jemals habe sagen hören. Außerdem ist es auch wahr – furchtbar wahr.«

Er nahm verzweiflungsvoll wieder Platz. »Sie würden dies nicht so bereitwillig zugeben, wenn Sie ihm den geringsten Einfluß auf sich zugestehen wollten. Selbst wenn alle Ihre Begründungen stichhaltig wären – was könnten sie beweisen? Wenn Sie die Lebensbetätigungen der Gentlemen tatsächlich mißachten, ist das ein Grund, die eines Preisboxers hochzuschätzen? Besitzt der Ring irgendwelchen höheren Wert, weil Sie vorgeben können, den Salon geringer zu bewerten – Sie halten nämlich in Wirklichkeit nicht an dieser monströsen Ansicht fest. Ach, wie würden Sie sich über Ihre eigene Sophistik lustig machen, wenn Sie sich dazu bewegen könnten, sich bestehenden sozialen Satzungen anzupassen!«

»Lieber Lucian, wir treiben schon wieder rationeller Haarspalterei in die Arme. Indes ist das wohl meine eigene Schuld. Ich habe mit einer sachgemäßen Beweisführung begonnen und bin dann in echt weiblicher Weise zu einer Lobpreisung meines Angebeteten abgeschweift. Denken Sie nur ja nicht, daß ich meine Wahl als etwas Besseres hinstellen will, als eine Wahl des kleineren von zwei Übeln. Ich bin der festen Überzeugung, daß die menschliche Gesellschaft aus Cashel etwas mehr hätte machen müssen, als einen Preisboxer; leider aber blieb dem armen Kerl kein anderer Ausweg. Früher einmal habe ich ihn einen Raufbold genannt – ich ziehe den Ausdruck jetzt nicht zurück. Ich hoffe aber, daß Sie ihm seine Raufboldigkeit vergeben werden, wie Sie einem Soldaten seine Morde verzeihen und einem Rechtsanwalt seine Lügen. Wenn Sie die übrigen Menschen aburteilen – und ich sage aus vollem Herzen: je eher, desto besser – dann sprechen Sie auch über ihn das Urteil; vorher aber nicht. Zudem, mein lieber Lucian, ist es mit der Preisboxerei ein für allemal vorbei; er beabsichtigt nicht, es fortzusetzen. Was nun das persönliche Zueinanderpassen betrifft, so bin ich eine Verehrerin der Vererbungstheorie: da mein Körper schwächlich und mein Gehirn krankhaft tätig ist, so halte ich meinen Zug zu einem körperlich starken und geistig unbeeinträchtigten Manne für sehr vertrauenerweckend. Das können Sie wohl verstehen: es ist ein Lehrsatz des Rassenveredlungsproblems.«

»Ich weiß, daß Sie alles ausführen, wozu Sie sich einmal entschlossen haben,« meinte Lucian untröstlich.

»Und Sie werden sich, so gut es geht, damit abfinden, nicht wahr?«

»Das gute oder schlechte Abfinden liegt nicht bei mir. Ich kann mich lediglich ins Unvermeidliche fügen.«

»Keineswegs. Sie können es verschlimmern, indem Sie sich abstoßend gegen Cashel benehmen, und durch freundschaftliches Wesen verbessern.«

»Ich will Ihnen lieber gleich alles sagen,« entgegnete er rasch. »Ich habe ihn seitdem – seitdem –« Lydia nickte aufmunternd. »Ich habe seine Absicht mißverstanden, als er unangemeldet in mein Zimmer kam. Er hatte sich den Eintritt sozusagen erzwungen. Es entspann sich ein Wortwechsel. Zuletzt hänselte er mich bis zur Unerträglichkeit und bot mir – in sehr charakteristischer Weise – zwanzig Pfund an, wenn ich ihn schlagen wollte. Zu meiner Schande muß ich gestehen – ich habe es dann auch getan.«

»Sie haben es getan?« rief Lydia kreidebleich. »Und was geschah dann?«

»Ich hätte eigentlich sagen sollen – ich versuchte es zu tun. Er wich mir aus – oder ich hieb vorbei. Dann gab er mir das Geld und entfernte sich, offenbar mit einer sehr hohen Meinung von mir. Er ließ mir eine sehr niedrige von mir selbst.«

»Was? Er hat nicht wiedergeschlagen?« Lydia bekam etwas Farbe. »Oh Lucian – er hat Sie mit Ihren eigenen Waffen geschlagen. Im Grunde genommen sind Sie ja der Preisboxer. Und Sie mißgönnen ihm die Überlegenheit in seiner Kunst, um deretwillen Sie ihn verdammen, weil er sich frei zu ihr bekennt?«

»Ich tat unrecht, Lydia – aber ich mißgönnte ihm Sie! Ich weiß, daß ich vorschnell war, und ich werde mich bei ihm entschuldigen. Ich wollte, es wäre überhaupt alles anders gekommen.«

»Das war nicht möglich. Ich glaube fast. Sie werden es sogar jetzt noch nachträglich zugeben, daß alles ganz gut gekommen ist. Nunmehr, da wir den Phönix zur Zufriedenheit untergebracht haben, werde ich Ihnen einen Brief von Alice Goff vorlesen, der ein ganz neues Licht auf ihren Charakter wirft. Seit Juni habe ich sie nicht gesehen, und es will mir scheinen, als ob sie in der Zwischenzeit um drei Jahre reifer geworden sei. Hören Sie nur dies, zum Beispiel –«

Und so leitete die Unterhaltung zu Alice über.

Als Lucian in seine Wohnung zurückgekehrt war, schrieb er folgendes an Cashel Byron und warf den Brief noch vor dem Schlafengehen in den Kasten:

 

›Geehrter Herr!

Beifolgend erhalten Sie eine Banknote, die Sie heute abend bei mir haben liegen lassen. Ich fühle mich verpflichtet, mein Bedauern über das Geschehene auszudrücken und Ihnen die Versicherung abzugeben, daß der Grund dafür in einer verkehrten Auffassung des Zweckes Ihres Erscheinens zu suchen ist. Eine nervöse Überreizung als Folge angestrengter geistiger Beschäftigung und andauernder Nachtarbeit während der letzten Sitzungsperiode muß mir als Entschuldigung dienen. Ich erhoffe das Vergnügen, Sie bald wiederzusehen und Ihnen dann persönlich meine Glückwünsche zu Ihrer bevorstehenden Heirat übermitteln zu können.

Inzwischen verbleibe ich, geehrter Herr,

Ihr ganz ergebener
Lucian Webber.‹


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