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Siebentes Kapitel.

Während Alices erster Londoner Saison beschäftigte sich die Gesellschaft ausgiebig mit dem Ausgang eines historischen Ereignisses häufiger Art. England hatte ein paar Jahre früher einem ansehnlichen Volke in Afrika ein Königreich gestohlen und bemächtigte sich der Person seines Monarchen. Die Eroberung erwies sich als nutzlos, beschwerlich und kostspielig; und nach zahlreichen Versuchen, die Ordnung im neuerworbenen Land wieder herzustellen auf Grund einiger unbrauchbarer Projekte, die dem Kolonialamt von einem bekannten Historiker, der einmal eine Reise nach Afrika gemacht hatte, und von den Generälen vorgeschlagen waren, die ihres ursprünglichen Allheilmittels, die Eingeborenen einfach umzubringen, allmählich müde wurden, da gewann es also den Anschein, als ob das vorteilhafteste Verfahren darin bestände, den König laufen zu lassen, und sich der wenig einträglichen Kriegsbeute zu entledigen, indem man sie ihm wieder zur Verfügung stellte. Damit aber der Eindruck, den Englands Mißachtung der Grenzen des Nachbars bei ihm erweckt hatte, durch einen Blick auf die ungeheure Bewaffnung und den heimatlichen Reichtum aufgehoben wurde, hielt man es für angezeigt, ihn erst einmal nach London zu bringen und ihm die Wunder der Stadt zu zeigen. Aber ach – als der afrikanische König anlangte, da gestaltete es der ihm anhaftende Mangel jeglicher englischer Voreingenommenheit äußerst schwierig, ihn zu amüsieren oder selbst ihm zu imponieren. Da er dem Gedanken, daß eine Handvoll Leute von einem Lande Besitz ergreifen und andere Menschen dafür zahlen machen konnten, wenn sie in ihrer Heimat leben und arbeiten wollten, völlig fremd gegenüber stand, so vermochte er es auch schlechterdings nicht zu begreifen, warum eine derartig verschwenderisch reiche Nation sich zumeist aus armen und wenig gemütlichen, unaufhörlich auf der Suche nach Reichtümern befindlichen Menschen zusammensetzen und zum großen Teile aus einer Menschenklasse bestehen sollte, die alle solchermaßen hervorgebrachten Reichtümer an sich raffte und verschleuderte, ohne deshalb im geringsten glücklicher zu erscheinen, als die bedauernswerten Arbeitstiere, auf deren Kosten sie lebten. Er vermochte sich allerhand seltsamer Befürchtungen nicht zu erwehren: zunächst war er um seine Gesundheit besorgt, insofern die rauchgeschwängerte, stickige Londoner Luft ihm bei denen, die sie einatmeten, Schwächlichkeit und Unehrenhaftigkeit hervorzubringen schien; ferner bangte ihn um sein Leben, als er erfuhr, daß in Europa zuweilen auf offener Straße auf Könige geschossen würde. Die Königin von England, der man noch die größte Sicherheit zusprach, war ein halbes dutzendmal der Gefahr mit knapper Not entronnen; und der Autokrat eines Kaiserreichs, das gewaltigere Dimensionen aufzuweisen hatte als alle übrigen europäischen Länder, dessen Vater in den Straßen seiner Residenz in Stücke gerissen worden war, der lebte inmitten einer Umzinglung von Soldaten, die jeden Fremden, der sich ihm – sei es sogar auf des Herrschers eigensten Wunsch – näherte, unerbittlich über den Haufen schossen; selbst dem niedrigsten seiner Diener flößte er das tiefste Mitleid ein.

Unter solchen Umständen konnte der afrikanische Potentat nur mit den größten Schwierigkeiten aus dem Hause herausgebracht werden; einzig und allein der Not gehorchend besuchte er das Woolwich Arsenal, von dessen Reichtum an Zerstörungswerkzeugen man voraussetzte, daß er hinfort sein Benehmen in einer Art, die günstig für die englische Oberherrschaft war, beeinflussen würde. Schließlich aber geriet das Kolonialamt, dem er ans Herz gelegt worden war, ans Ende seiner Weisheit und vermochte die nötigen Zerstreuungen nicht mehr ausfindig zu machen, um den König bis zu dem für seine Abreise bestimmten Zeitpunkt bei guter Laune zu erhalten. –

Am Dienstag, der der Abendunterhaltung bei Mrs. Hoskyn folgte, stattete Lucian Webber seiner Cousine in ihrem Hause in Regents Park einen Besuch ab und sagte im Verlaufe der Unterhaltung:

»Das Kolonialamt ist auf einen sehr guten Gedanken verfallen. Der König ist allem Anscheine nach eine Art Athlet und möchte gern sehen, was Londoner auf diesem Gebiete zu leisten in der Lage sind. Man will daher ein großes Kontrafechten für ihn veranstalten.«

»Was ist das – ein Kontrafechten?« fragte Lydia. »Ich habe nie eins gesehen. Dem Namen nach kann ich mir dabei nichts anderes als eine Balgerei mit Bajonetten denken.«

»Es ist eine Schaustellung in der Fechtkunst, in militärischem Drill, Turnen und dergleichen mehr.«

»Das möchte ich gern sehen,« meinte Lydia. »Kommen Sie mit, Alice?«

»Ist es denn für Damen üblich, solchen Schaustellungen beizuwohnen?« warf diese vorsichtig ein.

»In diesem Falle finden sich die Damen ein, um den Anblick des Königs zu genießen,« erklärte Lucian. »Die Olympian Gymnastic Society, die die Oberleitung über den zivilistischen Teil des Kontrafechtens übernommen hat, verspricht sich ein sogenanntes Blumenkorsopublikum.«

»Wollen Sie uns begleiten, Lucian?«

»Gewiß, falls ich mich freimachen kann. Wenn nicht, werde ich Worthington bitten, sich Ihnen anzuschließen. Er versteht mehr von diesen Dingen als ich.«

»Dann muß er uns unter allen Umständen begleiten!« sagte Lydia.

»Ich begreife Ihre Vorliebe für Lord Worthington nicht,« bemerkte Alice. »Seine Manieren sind ja sehr gut; aber es steckt nichts in ihm. Außerdem ist er so fürchterlich jung. Seine Unterhaltung geht mir auf die Nerven. Er hat schon angefangen, mit mir über die Godwood-Rennen zu reden.«

»Er wird sich schon aus seiner übermäßigen Sportliebhaberei herausmausern,« meinte Lucian.

»Was Sie sagen!« rief Lydia. »Und wo wird er sich hineinmausern?«

»Vielleicht in einen etwas vernünftigeren Menschen,« entgegnete Lucian würdevoll.

»Hoffentlich!« erwiderte Lydia. »Mir ist aber ein Mann, der sich für Sport interessiert, lieber als ein Gentleman, der an nichts Interesse findet.«

»Von diesem Gesichtspunkt aus ließe sich ohne Zweifel allerhand über diesen Gegenstand reden. Deshalb ist es noch immer nicht unumgänglich notwendig, daß Lord Worthington seine ganze Energie an Pferderennen verschwendet. Ich darf wohl annehmen, daß Sie das politische Leben, für das er durch seine soziale Stellung besonders geeignet ist, nicht seiner Aufmerksamkeit für unwürdig erachten.«

»Sicherlich nicht. Parteimanöver sind sowohl anregend als auch unterhaltlich. Sind sie aber mehr wert als Pferderennen? Jockeys und Bereiter verstehen wenigstens ihr Geschäft – Parlamentsmitglieder nicht. Ist es denn gar so verführerisch, sich auf einer Bank herumzudrücken – selbst auf der Ministerbank – und dilettantenhaften Auseinandersetzungen über Dinge zuzuhören, die schon seit hundert Jahren zur Befriedigung aller derer, die sich ernstlich mit ihnen beschäftigt haben, geregelt worden sind?«

»Sie verstehen die Pflichten einer Regierung nicht, Lydia. Sie kommen auch niemals auf den Gegenstand zu sprechen, ohne mich nicht in meiner Meinung zu bestärken, daß Frauen von Natur außerstande sind, sie zu verstehen.«

»Diese Ihre Ansicht ist für Sie selbstverständlich, Lucian. Ihnen ist das Unterhaus das Endziel aller Existenz. Für mich bedeutet es lediglich eine Ansammlung unzulänglich unterrichteter Herren, die jegliche Angelegenheit, mit der sie sich befassen, verpfuscht haben – von der ersten Budgetberatung bis zur letzten Landakte; und die außerdem in höchst anmaßender Weise behaupten, daß ich nicht gut genug bin, mit ihnen auf einer Bank zu sitzen.«

»Lydia!« rief Lucian unwillig. »Sie wissen, daß ich Frauen in ihrer Sphäre achte –«

»Dann geben Sie ihnen eine andere Sphäre, und sie werden sich vielleicht auch in dieser Ihre Achtung erwerben. Ich muß zu meinem Leidwesen gestehen, daß die Männer sich in der ihnen eigenen Sphäre meine Achtung bis jetzt noch nicht erworben haben. Lassen wir's aber hiermit fürs erste genug sein. Ehe ich ausgehe, habe ich noch einige Anordnungen zu treffen, die für mich von dringlicherer Wichtigkeit sind als die Bekehrung eines guten Politikers zu einem schlechten Philosophen.«

Hiermit verließ sie das Zimmer. Lucian nahm Platz und wandte seine Aufmerksamkeit Alicen zu, die noch immer genug von ihrer nervösen Unsicherheit an sich hatte, um ihre Schultern aufzurichten und sich eine möglichst würdevolle Haltung zu geben. Er hatte hiergegen nichts einzuwenden: ein gewisses Maß von Steifheit im Benehmen sagte seinem Geschmack zu.

»Hoffentlich,« sagte er, »hat meine Cousine es noch nicht vermocht, Sie zu einer Annahme ihrer etwas eigenartigen Anschauungen zu bewegen?«

»Nein,« entgegnete Alice. »Allerdings handelt es sich bei ihr um einen Ausnahmefall. Sie ist so wunderbar und vielseitig gebildet! Im allgemeinen bin ich nicht der Meinung, daß Frauen überhaupt Anschauungen haben sollen. Gewiß, es gibt bestimmte Grundbegriffe, die jede Dame aufrecht erhält: zum Beispiel den, daß der Katholizismus verkehrt ist. Aber dergleichen kann man wohl kaum als Anschauung bezeichnen. Es wäre sogar im höchsten Grade verwerflich, wenn man es tun wollte, da es sich doch um eine der geheiligtsten Wahrheiten handelt. Was ich vielmehr sagen will, ist, daß Frauen keine politische Agitation betreiben sollten.«

»Ich verstehe Sie und stimme Ihnen völlig bei. Lydia ist, wie Sie richtig bemerken, ein Ausnahmefall. Sie hat viel im Ausland gelebt; ihr Vater war ein seltsamer Mann. Selbst die klarsten Köpfe eignen sich ganz ungewöhnliche Vorurteile an, wenn sie dem unmittelbaren Einfluß englischen Lebens und englischer Denkweise entzogen werden. Es ist eigentlich sehr zu bedauern, daß soviel Verstandeskraft und derartig ausgedehnte Kenntnisse durch die gefahrbringende Unabhängigkeit, wie großer Reichtum sie mit sich bringt, im üblen Sinne bestärkt werden sollten. Vorzugsstellungen solcher Art erfordern gewisse Verpflichtungen derjenigen Gesellschaftsklasse gegenüber, die sie hervorgebracht hat – Verpflichtungen, gegen die Lydia sich nicht nur gleichgültig, sondern schlechtweg feindselig verhält.«

»Ich mische mich niemals in ihre Ideen – auf diesem Gebiete. Um sie zu verstehen, bin ich zu unwissend. Zudem ist Miß Carew in ihrer Großmut mir gegenüber geradezu unvergleichlich gewesen. Dabei scheint sie es nicht einmal zu wissen, daß sie großmütig ist. Ich schulde ihr mehr, als ich ihr jemals vergelten kann.« Und dann fügte sie mehr für sich selbst hinzu: »Jedenfalls bin ich nicht undankbar.«

In diesem Augenblick erschien Miß Carew; sie trug einen langen grauen Mantel und einen ungarnierten Filzhut; in der Hand hielt sie ein Futteral mit Schreibutensilien.

»Ich gehe ins Britische Museum, um zu lesen,« sagte sie.

»Zu Fuß – und allein?« fragte Lucian mit einem Blick auf ihre Kleidung.

»Jawohl. Wenn man mich am Laufen verhindert, so beraubt man mich meines Wohlbefindens. Hindert man mich daran, allein zu gehen, und zwar wohin ich will und wann ich will, so nimmt man mir meine persönliche Freiheit – man vernichtet damit tatsächlich die Magna Charta. In diesem Falle bestehe ich aber gar nicht auf dem Alleinsein. Wenn Sie, ohne zuviel Zeit zu verlieren, über Regents Park und Gower Street in Ihr Bureau zurückgelangen können, so soll mir Ihre Begleitung sehr willkommen sein.«

Lucian bemäntelte seinen Eifer, dem Anerbieten nachzukommen, indem er ostentativ nach seiner Uhr sah und über seine Obliegenheiten nachzudenken vorgab. Schließlich erklärte er sich mit Vergnügen zu ihrer Begleitung bereit.

Es war ein schöner Sommernachmittag; zahlreiche Menschen ergingen sich im Park. Lucian fühlte sich alsbald durch die Aufmerksamkeit, die seine Cousine auf ihre Person lenkte, etwas unangenehm berührt. Trotz des schwarzen Filzhutes leuchtete ihr Haar wie Feuer in der Sonne. Die Frauen starrten sie mit unsympathischer Neugier an und wendeten sich im Vorübergehen um, um ihre Kleidung einer Prüfung zu unterziehen. Die Männer nahmen zu allerhand Winkelzügen ihre Zuflucht, um sich einen ausgiebigen Überblick zu verschaffen, ohne dabei ihre Absichten in unhöflicher Form kenntlich werden zu lassen. Einige törichte Jünglinge blieben mit offenem Munde stehen; einige etwas frechere lächelten sogar. Lucian hätte ihnen allen ohne Unterschied am liebsten eins versetzt. Er machte den Vorschlag, von der Promenadenstraße abzubiegen und einen Richtweg über den Rasen einzuschlagen.

Als sie aus dem Schatten der Bäume heraustraten, überkam ihn die unbestimmte Empfindung, als ob das klare Wetter und die Schönheit des Parks dem Augenblick einen Zug ins Romantische verliehen und daß die Worte, mit denen er das Verhältnis zu seiner Cousine zu einem engeren und herzlicheren zu gestalten hoffte, nunmehr wohl gut angebracht sein würden. Ohne aber eigentlich zu wissen, warum, begann er sofort über die Erhaltungskosten öffentlicher Parks zu sprechen, deren Einzelheiten auf dem Gebiete seines beruflichen Wissens lagen.

Lydia, die sich bereitwillig für mehr oder weniger alles zu interessieren pflegte, erachtete diesen Gesprächsstoff bei einer zufälligen Nachmittagsunterhaltung für äußerst angebracht und verfolgte ihn, bis sie von den Rasenplätzen auf den Euston Road gelangten, wo das Geräusch des Verkehrs sie zu zeitweiligem Schweigen zwang. Sobald sie aus dem Getöse in die ehrsame Stille von Gower Street einbogen, sagte er unvermittelt:

»Einer der Nachteile großen Reichtums in Händen einer Frau besteht darin, daß sie eigentlich niemals sicher sein kann –« Hier ließen ihn seine Gedanken plötzlich im Stich. Er stockte, doch vermochte er seine Fassung in solchem Maße zu bewahren, daß es fast aussah, als ob er eine vollendete Rede gehalten hätte und jetzt von deren Erfolg sehr befriedigt wäre.

»Wollen Sie damit sagen, daß sie niemals der Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs auf solchen Reichtum sicher sein kann? Dieser Gedanke pflegte mich ehedem auch zu beunruhigen – aber das ist jetzt nicht mehr der Fall.«

»Nein doch!« entgegnete Lucian. »Ich wollte damit auf die Uneigennützigkeit Ihrer Freunde hinweisen.«

»Auch die beunruhigt mich nicht. Ich suche gar nicht nach völlig uneigennützigen Freunden, weil ich sie doch nur unter Idioten oder Nachtwandlern finden könnte. Diejenigen, deren Interessen niedrigerer Art sind, vermögen mir ihre Beweggründe auf die Dauer nicht zu verbergen. Was den Rest angeht, so bin ich nicht unvernünftig genug, mich der Tatsache zu widersetzen, daß bei der Abschätzung des Wertes meiner Freundschaft mein Reichtum in gebührender Höhe in Rechnung gestellt wird.«

»Sie glauben also nicht an die Existenz solcher Menschen, denen Sie ebenso lieb wären, wenn Sie in Armut lebten?«

»Diese Leute würden mir nur deshalb die Armut wünschen, um mich sich selbst näher zu bringen – und dafür wäre ich ihnen keineswegs dankbar. Ich lege großen Wert auf die Hochachtung, die mein Reichtum mir einträgt, Lucian. Hierin liegt das einzige Gegengewicht gegen den Neid, den er hervorruft.«

»Sie weigern sich also, an die Uneigennützigkeit eines Mannes zu glauben, der – der –«

»Der mich heiraten möchte? Oh nein – ganz im Gegenteil: ich bin die letzte, der es um den Glauben zu tun wäre, daß ein Mann mein Geld meiner Person vorziehen könnte. Ist er unabhängig und halbwegs in der Lage, seinen Platz in der Welt ohne meine Hilfe zu behaupten, so würde ich ihn verachten, falls er aus Furcht vor Mißdeutung sich mir zu nähern zögerte. Ich denke, ein Mann kann es niemals ganz ehrlich meinen, wenn er nicht über dieser Furcht steht. Hätte er aber keinen Beruf, kein Geld und kein anderes Ziel, als auf meine Kosten zu leben, so würde ich ihn als Abenteurer ansehen und demgemäß behandeln – es sei denn, daß ich mich in ihn verliebte.«

»Daß Sie sich in ihn verliebten?«

»Dieser Umstand würde – angenommen, daß dergleichen überhaupt vorkommt – einen verändernden Einfluß auf meine Empfindungen ausüben, keineswegs aber auf meine Entschließungen. Einen Abenteurer würde ich unter keinen Umständen heiraten. Von einer irregeleiteten Leidenschaft könnte ich mich heilen – von einem schlechten Ehemann nicht.«

Lucian hatte nichts zu erwidern; er ging mit langen, unregelmäßigen Schritten weiter, indem er düster aufs Pflaster hinunterblickte, als ob es dort ein tiefsinniges Rätsel zu lösen gälte, und von Zeit zu Zeit mit dem Stocke gegen die Steine stieß. Schließlich sah er auf und sagte:

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir einen kleinen Umweg machen und um Bedford Square herum gehen? Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Sie leistete seinem Wunsche schweigend Folge; er ergriff das Wort erst von neuem, als sie eine Längsseite des freien Platzes bereits hinter sich hatten.

»Wenn ich's mir recht überlege, Lydia, so ist dies eigentlich weder Zeit noch Ort für eine wichtige Mitteilung. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie umsonst von Ihrem ursprünglichen Weg abgebracht habe.«

»Dergleichen Dinge liebe ich nicht, Lucian. Wichtige Mitteilungen scheinen – in diesem Falle wenigstens – schädlich auf gute Manieren zu wirken. Wenn Sie mir etwas Vernünftiges zu sagen haben, so ist der jetzige Zeitpunkt sehr passend und Bedford Square eine so geeignete Örtlichkeit, wie Sie sie zu diesem Zwecke wohl kaum besser ausfindig machen können. Andernfalls geben Sie offen zu, daß Sie es vorziehen, Ihre Mitteilung ungesagt zu lassen. Schieben Sie sie aber nicht auf. Schweigsames Hintermbergehalten ist immer verkehrt – sogar auf der Ministerbank. Mir gegenüber ist es doppelt verkehrt, da ich eine angeborene Abneigung dagegen besitze.«

»Jawohl, jawohl,« entgegnete er hastig. »Geben Sie mir nur einen Augenblick Zeit – bis der Schutzmann vorüber ist.«

Der Hüter des Gesetzes zog gemächlich an ihnen vorbei, indem er kräftig mit den Hacken auf die Fliesen auftrat und den einen weißen Handschuh auf die Innenfläche der unbekleideten Hand aufschlagen ließ.

»Also, Lydia, die Sache liegt nämlich so – es wird mir außerordentlich schwer –«

»Was ist denn los?« fragte Lydia, nachdem sie umsonst auf nähere Einzelheiten gewartet hatte. »Zweimal sind Sie jetzt glücklich stecken geblieben.« Eine erneute Pause trat ein. Mit einem raschen, halb ungläubigen Seitenblick setzte sie dann hinzu: »Wollen Sie sich vielleicht verheiraten? Ist dies das Geheimnis, das Ihre sonst so geübte Zunge lähmt?«

»Nicht ohne daß Sie an der Zeremonie teilnehmen!«

»Äußerst galant. Ich erkenne sogar einen Anflug von Humor, der mir angesichts meiner über Sie gesammelten Erfahrungen neu erscheint. Aber was haben Sie mir nun eigentlich zu sagen, Lucian? Offen gestanden – Ihr Zögern wird allmählich lächerlich.«

»Jedenfalls haben Sie mir die Wege nicht geebnet, Lydia. Vielleicht empfinden Sie auch eine echt weibliche, intuitive Vorahnung meiner Absichten und versuchen mich mit Vorbedacht zu entmutigen.«

»Nicht im geringsten. Auf Intuitionen – weibliche oder sonstige – verstehe ich mich nicht sonderlich gut. Mein Wort darauf– wenn Sie jetzt nicht sofort mit der Sprache herauskommen, so verfüge ich mich eilends in mein Museum.«

»Ich kann die geeignete Ausdrucksweise nicht finden,« stammelte Lucian in qualvoller Bestürzung. »Ich bin gewiß, Sie unterschieben meinen – Sie setzen keinerlei unlautere Motive bei meinen Huldigungen voraus – Huldigungen ist allerdings eine völlig sinnlose Bezeichnung. Ich weiß nur zu gut, daß – von den allgemein üblichen Gesichtspunkten aus gesehen – nur recht wenig vorhanden ist, was Sie allenfalls reizen könnte, Ihr Leben mit dem meinen zu verbinden. Indes –«

Die unvermittelte Veränderung in Lydias Zügen zeigte ihm, daß er genug gesagt hatte. »Darauf war ich wirklich nicht gefaßt,« meinte sie nach einigem Schweigen, das ihm etwas zu lang deuchte. »Was wir beobachten, scheint so ungeheuer belanglos, bis wir schließlich den Faden in die Hand bekommen, an dem wir es aufreihen können. Sie müssen sich das noch einmal überlegen, Lucian! Das Verhältnis, wie es gegenwärtig zwischen uns besteht, ist das beste, das unsere verschiedenartige Charakterveranlagung gestattet. Warum wollen Sie hierin eine Veränderung eintreten lassen?«

»Weil ich es enger und dauernder gestalten möchte. Eine andere Veränderung will ich nicht herbeiführen.«

»Sie laufen aber Gefahr, es durch die von Ihnen vorgeschlagene Methode völlig zu zerstören,« erwiderte Lydia mit gemessener Festigkeit. »Wir würden nicht gut miteinander auskommen. Zwischen uns bestehen Meinungsverschiedenheiten, die fast an einen Zwiespalt der Lebensauffassung heranreichen.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein! Ihre Ansichten oder Begriffe werden in England von keiner politischen Partei vertreten; demzufolge sind sie in der Praxis wirkungslos und können mit den meinigen auch nicht kollidieren. Außerdem berühren die Verschiedenheiten nicht das Gebiet des Persönlichen.«

»Eine politische Partei solcher Art könnte sich aber schon eine Woche nach unserer Heirat bilden – ich glaube sogar, daß sie sich lange vor unserm Tode sicherlich bilden wird. Und dann, fürchte ich, würden unsere Meinungsverschiedenheiten das Gebiet des Persönlichen mehr als nachhaltig berühren.«

Er begann seine Schritte zu beschleunigen, als er jetzt antwortete: »Es ist wirklich zu absurd, das, was Sie Ihre Ansichten nennen, zwischen uns als Scheidewand aufzurichten. Sie haben gar keine Ansichten, Lydia. Die unausführbaren Grillen, mit denen Sie um sich zu werfen belieben, werden in England nicht als stichhaltige politische Überzeugungen anerkannt.«

Lydia entgegnete nichts. Sie wartete einen Augenblick in nachdenklichem Schweigen und fragte dann:

»Warum heiraten Sie nicht Alice Goff?«

»Ich pfeife auf Alice Goff!«

»Wie leicht es doch ist, den wahren Menschen unter dem äußerlichen Fournierblatt bloßzulegen, wenn man ein wenig an seinen Gefühlen herumhobelt,« meinte Lydia lachend. »Ich habe aber völlig im Ernst gesprochen, Lucian. Alice ist energisch, ehrgeizig und in Prinzipienfragen von einer geradezu halsstarrigen Strenge. Ich glaube, sie würde Sie bei jedem Schritt Ihrer Laufbahn zielbewußt unterstützen. Zudem verfügt sie auch über physische Robustheit. Unser Studenten- und Gelehrtenmaterial kann einen Zuschuß in dieser Hinsicht brauchen.«

»Meinen verbindlichsten Dank für den Hinweis; nur hege ich zufälligerweise nicht den Wunsch, Fräulein Goff zu heiraten.«

»Ich ersuche Sie, den Vorschlag in Betracht zu ziehen. Einstweilen haben Sie noch nicht genügend Zeit gehabt, neue Pläne ins Auge zu fassen.«

»Neue Pläne? Sie weisen mich also endgültig ab – ohne einen Augenblick zu überlegen?«

»Endgültig, Lucian. Läßt Sie Ihr Instinkt es nicht durchfühlen, daß eine Ehe mit mir ein Mißgriff wäre?«

»Nein – nicht daß ich wüßte.«

»Dann verlassen Sie sich auf meinen, der in dieser Frage keine falsche Note anschlägt – wie sich Ihr Leib- und Magenblatt auszudrücken pflegt.«

»Hier handelt es sich aber um eine Gefühlsfrage,« warf er mit gepreßter Stimme ein.

»Was Sie sagen!« entgegnete sie nicht ohne Interesse. »Das überrascht mich an Ihnen, Lucian. Bisher hatte ich in Ihrem Benehmen keine der bei Verliebten üblichen Extravaganzen bemerkt.«

»Und Sie haben mich in recht unliebsamer Weise überrascht, Lydia. Ich bin jetzt zwar nicht der Meinung, daß ich jemals viel Aussicht auf Erfolg besessen habe – doch dachte ich, meine Ernüchterung würde sich wenigstens in etwas milderer Form vollziehen.«

»War ich unfreundlich?«

»Ich beklage mich ja nicht.«

»Meine Worte waren unglücklich gewählt, aber nicht bös gemeint, Lucian. Und außerdem – die Kunstkniffe, mit denen Freunde ihre gegenseitigen Gefühle zu schonen bemüht sind, bedeuten lediglich kleinliche Unaufrichtigkeiten. Ich bin offen mit Ihnen. Wäre es Ihnen lieber, ich handelte anders?«

»Sicherlich nicht! Ich habe kein Recht, beleidigt zu sein.«

»Nicht das geringste. Jetzt fügen Sie, bitte, dem formellen Zugeständnis die aufrichtige Versicherung hinzu, daß Sie nicht beleidigt sind.«

»Ich versichere Ihnen, ich bin es nicht,« bestätigte Lucian mit wehmütiger Resignation.

Inzwischen waren sie bis Charlotte Street gelangt; Lydia brachte die Auseinandersetzung zu einem unausgesprochenen Abschluß, indem sie sich dem Museum zuwandte und über gleichgültige Dinge zu sprechen begann. An der Ecke von Russell Street bestieg er eine Droschke und fuhr davon; in tiefer Niedergeschlagenheit nahm er ein Lächeln und ein Winken der Hand in Empfang, mit dem sie ihn zu trösten suchte.

Lydia begab sich in die Nationalbibliothek, wo sie Lucian völlig vergaß. Die Reaktion nach seinem unvermittelten, überraschenden Antrag wartete ihrer noch; einstweilen aber spürte sie nichts dergleichen; sie arbeitete ununterbrochen, bis die Bibliothek geschlossen wurde, und sie aufbrechen mußte. Da sie mehrere Stunden still gesessen hatte, und da es noch hell war, nahm sie keine Droschke – sie ging nicht einmal geraden Wegs nach Hause. Ein Antiquar in Soho hatte, wie sie erfahren, ein seltenes Buch zu verkaufen, das sie zu erwerben wünschte; und sie hielt die Gelegenheit für sehr passend, sich auf die Suche nach diesem Buchhändler zu machen.

Im ganzen westlichen Europa gab es wohl keine Hauptstadt, die sie nicht besser kannte als London. Sie hatte den Eindruck, als ob Soho eine Gegend voll ruhiger Straßen und Plätze sei, wie Bloomsbury. Ihr Irrtum wurde bald offenbar. Aber sie fühlte kein Unbehagen in den engen Durchfahrten, denn sie war frei von dem Klassenvorurteil, daß das arme Volk notwendigerweise raubgierig sein müsse, obgleich sie sich manchmal wunderte, warum es nicht so war. Sie kam auch wohlbehalten bis nach Great Pulteney Street, aber dann ging sie einen falschen Weg und verlor sich in einem Labyrinth von Höfen, wo ein paar Arbeiter, eine große Zahl Arbeiterfrauen und Mütter und unzählige Arbeiterkinder den Sommerabend mit Schwätzen und Spielen verbrachten. Sie erklärte einer von den Frauen ihre Verlegenheit, und diese gab ihr einen kleinen Jungen als Führer mit. Die Straße, auf die sie der Knabe führte, war fast ganz verlassen. Der einzige Laden, der zu gedeihen schien, war eine Kneipe, vor der ein paar junge Strolche um Geld spielten.

Als Lydias Führer ihr den Weg gewiesen, wollte er wieder zu seinen Spielkameraden zurückkehren. Lydia überreichte ihm zum Dank die kleinste in ihrer Börse auffindbare Münze, die sich als ein Schilling erwies. In der Begeisterung über den Besitz dessen, was ihm wie ein Vermögen erschien, gab der Kleine einen markerschütternden Jubelschrei von sich und rannte davon, um das Geldstück einer Horde von Knaben zu zeigen, die gerade um die Ecke des Wirtshauses sichtbar wurden.

In seiner Hast lief er schnurstracks mit aller Macht gegen einen kraftvoll gebauten jungen Mann, der zu einer der sich gewohnheitsmäßig vor Kneipen aufhaltenden Gruppen Müßiger gehörte und den Jungen umstieß und beschimpfte. Der Kleine antwortete mit Ausdrücken leidenschaftlicher Entgegnung und brach dann, überwältigt von Schmerzen, in Tränen aus.

Als Lydia sich näherte, stand das Kind schluchzend gerade auf ihrem Weg; sie streichelte ihm teilnahmsvoll den Kopf und erinnerte ihn an die Unsumme Geldes, die er nunmehr auszugeben in der Lage wäre. Er schien sich zu trösten und rieb sich schweigsam die Augen mit seinen Knöcheln; der junge Mann aber, der einen scharfen Tritt gegen den Fuß erhalten hatte, erboste sich über Lydias Ungerechtigkeit, weil sie dem offenkundigen Missetäter die eigentlich ihm selbst zukommende Teilnahme angedeihen ließ; er schritt drohend auf sie zu und fragte mit einem unverschämten Fluch, ob er denn vielleicht dem Kinde habe etwas antun wollen. Und da er sich ihr gegenüber der Anwendung jeglicher anstößiger Bezeichnungen begeben hatte, so schmeichelte er sich in ehrlicher Überzeugung, mit wohlwollender Nachsicht für Lydias Geschlecht und persönliche Reize eine glänzende Kombination von Galanterie und männlichem Feuergeist zur Ausdrucksform gewählt zu haben.

Sie brachte seiner Ritterlichkeit nicht das erhoffte Verständnis entgegen, wich zurück und ging auf den Fahrdamm, um an ihm vorbeizugelangen. In seiner Empörung über diesen Versuch offenkundiger Mißachtung vertrat er ihr den Weg und war gerade im Begriff, seine Frage in erhöhtem Nachdruck zu wiederholen, als plötzlich ein Stoß in die Magengrube ein heftiges inneres Übelbefinden bei ihm hervorrief und außerdem sein Gleichgewicht in derartig nachhaltiger Weise ins Schwanken brachte, daß er fast rücklings über den Bordstein gestolpert wäre. Als er sich wieder etwas gesammelt hatte, sah er einen auffallend gekleideten jungen Mann vor sich stehen, der ihn folgendermaßen anredete:

»Ist das die Art und Weise zu Damen zu sprechen, Sie? Ist die Straße vielleicht nicht breit genug für zwei? Haben Sie gar kein Benehmen am Leibe?«

»Und wer sind denn Sie? Wozu mischen Sie sich in Dinge, die Sie nichts angehen?« entgegnete der andere mit herausfordernder Frechheit.

»Nur ruhig Blut,« meinte Cashel Byron in ermahnendem Tone. »Sie tun besser, Ihr ungewaschenes Maul zu halten, wenn Ihnen Ihre Zähne darin lieb sind. Wer ich bin, das kann Ihnen einstweilen ja gleichgültig sein.«

Lydia, die eine Auseinandersetzung voraussah und wegen der drohenden Haltung des Mannes einige Unruhe empfand, entschloß sich in kluger Vorsicht, eilig zu verschwinden und einen Schutzmann zu Cashels Unterstützung herbeizusenden. Als sie sich jedoch zum Gehen wendete, erkannte sie zu ihrem Schrecken, daß sich bereits ein Menschenauflauf gebildet hatte und sie selbst zu der ihr völlig neuen Rolle einer Zuschauerin im inneren Ringe eines offenbar in der Entwicklung begriffenen Straßenfaustkampfes bestimmt war.

Jetzt wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine leidenschaftliche Kundgebung ihres Belästigers wieder den Streitenden zugelenkt. Cashel schien ernstlich beunruhigt; er wich ohne Rücksicht auf die Zehen der Zuschauer hastig einen Schritt zurück, wehrte den anderen mit ausgebreiteter Hand ab und rief dabei:

»Ich sage Ihnen, Sie lassen mich besser in Frieden! Ich will mit Ihnen nichts zu schaffen haben. Bandeln Sie mit mir lieber nicht an – ich rate's Ihnen!«

»Sie wollen mit mir nichts zu schaffen haben? Oho! Warum denn nicht? Weil Sie nicht Manns genug sind – darum! Was denken Sie sich denn dabei, wenn Sie hier so ohne weiteres einem mit Ihrer Faust in den Brotkorb langen und sich dann womöglich drücken möchten? Meinen Sie vielleicht, ich habe Angst vor Ihnen, weil Sie eine Samtjacke tragen?«

»Mir soll's recht sein,« erwiderte Cashel nachgiebig. »Lassen wir's dabei beruhen, daß ich für Sie nicht Manns genug bin. Der Vorfall ist erledigt. Sind Sie nun zufrieden?«

Der andere aber, dem der Kamm gewaltig geschwollen war, erklärte unter zahlreichen Flüchen, er werde dafür sorgen, daß es Cashel übel und wehe werde und – wenn er es so haben wollte – auch der jungen Dame, auf die er mit recht unziemlichen Ausdrücken hinwies. Die Menge jubelte ihm zu und feuerte ihn zum ›Draufgehen‹ an.

»Meinetwegen,« sagte Cashel finster. »Versuchen Sie aber hinterher nicht, die Sache so hinzustellen, als ob ich Ihnen einen Streit aufgezwungen hätte. Und jetzt,« setzte er mit einem grimmigen Wechsel in der Stimme hinzu, der Lydia erbeben machte und ihre Befürchtungen auf Rechnung seines Gegners hinüberschob, »und jetzt werden Sie sich bald wünschen, Sie hätten sich lieber die Zunge abgebissen, als die Äußerung getan, die Sie sich soeben erlaubt haben. So – nun halten Sie die Ohren steif!«

»Oh, ich werde meine Ohren schon steif halten,« entgegnete der junge Mann herausfordernd. »Legen Sie nur los!«

Cashel beobachtete die Haltung seines Gegners mit unaussprechlicher Geringschätzung. »Sie werden's schon merken, wenn ich loslege – und zwar an der Berührung mit dem Pflaster. Behalten Sie lieber Ihren Rock an. Dann fallen Sie weicher.«

Der unkommentmäßige Kämpe gab seine Mißachtung dieses Ratschlags durch eine eilige Entledigung seiner Oberkleider kund. Ein Schauer unbeschreiblicher Spannung ging durch die Menge. Die Inhaber schlechter Plätze drängten vor; die anderen, die den Innenring ausmachten, schoben sich rückwärts, um Raum für die Kämpfer zu schaffen.

Lydia, die an einer allgemein begehrten Stelle in Cashels Nähe stand, hoffte aus dem Haufen hinausgedrängt zu werden; ihre Kräfte gaben nach und sie fürchtete eine Ohnmacht. Ein schmucker Schlächtergeselle aber, der sich an ihre Seite hindurchgezwängt hatte, war der Ansicht, daß ihr ein Ehrenplatz in der Vorderreihe zukäme, und sprach ihr freundlich zu, sich nicht zu ängstigen.

In diesem Augenblick war es Lydia, als ginge eine plötzliche Bewegung durch die Reihe von Gesichtern vor ihr. Um nicht umzusinken, schob sie ihren Arm in den des Schlächters; dieser fühlte sich weidlich geschmeichelt, zog sie nahe an sich heran und hielt sie auf diese Weise wirkungsvoll aufrecht. Sein Beistand erwies sich als sehr willkommen, da er notwendig war.

Währenddessen stand Cashel unbeweglich da und betrachtete mit unentwegter Geringschätzung das Gebaren seines Gegners, der inmitten ermutigender Zurufe wie ›Vorwärts, Teddy!‹ und ›Gib's ihm, Teddy!‹ oder sonstiger deutlicher Andeutungen die Ärmel seines verfärbten Hemdes aufrollte. Aber Teddys Begeisterung schien deutlich nachzulassen: als er vortrat, geschah es mit dem Vorgefühl nahender Vernichtung. Er wagte es nicht, sich auf den Feind zu stürzen, dessen Augen ihm auf den Grund seiner Unzulänglichkeit zu dringen deuchten. Als er schließlich einen Hieb versuchte, erreichte er sein Ziel nicht, wie Cashel es erwartet zu haben schien; wenigstens rührte er sich nicht vom Fleck. Gelächter und ungeduldiges Gemurmel ging durch die Menge.

»Ihr wartet wohl, bis die Polizei kommt und euch trennt?« schrie der Schlächter. »Heraus aus dem Loch und an die Arbeit!«

Der Hinweis auf die Möglichkeit, daß die Schutzleute ihn allenfalls seiner Beute berauben konnten, schien auf Cashel Eindruck zu machen. Er trat einen Schritt vor. Die Erregung der Menge erreichte ihren Höhepunkt; ein kleiner Mann neben Lydia verübte vor Freude einen Luftsprung und brüllte: »Vorwärts, Cashel Byron!«

Bei diesen Worten malte sich bleiches Entsetzen auf Teddys Zügen. Er machte keinen Versuch, seinen Zustand zu verbergen.

»Das wäre nicht fair,« rief er, indem er möglichst weit zurückwich. »Ich gebe klein bei. Machen Sie Schluß, Meister. Sie sind mir über.«

Seine Kameraden aber stießen ihn mit mitleidslosem Hohngelächter auf Cashel zu, der sich ihm unbeirrt näherte. Teddy sank auf die Kniee nieder. »Was kann ein Mensch denn mehr tun, als sagen, daß er genug hat?« flehte er. »Seien Sie echt-englisch, Meister – und schlagen Sie auf keinen Mann, der schon ›unten‹ ist.«

»Unten!« wiederholte Cashel. »Wie lange willst du unten bleiben, wenn's mir paßt, dich hochzunehmen?« Er setzte das Wort in die Tat um und ergriff Teddy mit der linken Hand, hob ihn auf die Füße, legte den völlig Hilflosen übers Knie und hielt ihm die rechte Faust wie einen Hammer über das nach oben gekehrte Gesicht. »So,« sagte er, »jetzt bist du nicht ›unten‹. Was hast du noch zu deinem Heil zu sagen, ehe ich dir deine Visage in deinen Hals hineinramme?«

»Tun Sie's nicht, Herr,« ächzte Teddy jappend. »Ich hab's nicht bös gemeint. Woher konnte ich's denn ahnen, daß die junge Dame Ihr Schatz ist.« Er versuchte, sich loszuwinden; sein Gesicht färbte sich dunkel. »Lassen Sie mich, Meister,« stöhnte er fast unverständlich. »Sie er– erwürgen mich.«

»Bitte, lassen Sie ihn laufen,« sagte Lydia, indem sie sich dem Schlächter entzog und Cashel am Arm ergriff.

Cashel zuckte plötzlich zusammen und löste die Umklammerung; Teddy rollte auf den Boden nieder. Dann erhob er sich, schob seine Hände in die Ärmel und entfernte sich, indem er sich bemühte, seiner Schande durch ein dickköpfiges Grinsen gleichsam öffentlich Trotz zu bieten. Cashel bot Lydia schweigend den Arm; sie erachtete es für das beste, dem Orte mit möglichst wenig Worten den Rücken zu kehren, und nahm das Anerbieten an; als sie sich dem Schlächter zuwandte, um ihm zu danken, errötete dieser verschämt und verlor die Sprache. Der kleine Mann aber, der durch seinen Ausruf dem Zweikampf ein so jähes Ende bereitet hatte, schwang jetzt begeistert seinen Hut und schrie:

»Der britische Löwe – hurra! Cashel Byron – hoch, hoch, hoch!«

Cashel fuhr ihn etwas barsch an: »Erlauben Sie sich nicht allzuviel Freiheiten mit anderer Leute Namen – Sie könnten sich sonst vielleicht Unannehmlichkeiten zuziehen.«

Der kleine Mann zog sich eilig zurück; die Menge stimmte jedoch in einen dreifachen Hochruf für Cashel ein, der jetzt mit Lydia am Arm das Weite suchte – durch ein Spalier fragwürdig aussehender Mädchen, Rowdys von Teddys Schlage, weißbeschürzter Ladeninhaber, die den Ladentisch um des Straßenkampfes willen im Stiche gelassen hatten, und einiger Kommis mit bleichen Gesichtern, die in Ehrfurcht zu dem Preisboxer und mit Verwunderung auf die vornehme Erscheinung seiner Begleiterin hinüberstarrten. Den zwei Davoneilenden folgte eine doppelte Reihe Straßenjungen, die mit ernst auf Cashel gerichteten Augen zu beiden Seiten auf dem Trottoir dahinschritten, während er Lydia auf der Mitte der schmalen Straße hinwegführte. Keiner von ihnen verlegte sich auf Purzelbäume oder Gejohle. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf ihren Heros gerichtet, und sie gerieten, während sie vor sich hin trabten, mit allem in Kollision, was ihnen in den Weg kam. Schließlich blieb Cashel stehen. Im selben Augenblick machten auch die Jungen halt. Er zog eine Anzahl Kupfermünzen aus seiner Tasche, ließ sie eine Weile in der Hand klimpern und wandte sich dann in längerer Rede an sie:

»Jungs!«

Totenstille trat ein.

»Jungs! Wißt ihr, was ich tun muß, um mich immer bei Kräften zu erhalten?«

Die bisher unentwegt auf ihn gerichteten Augen begannen unruhig umherzuwandern.

»Ich muß täglich einen kleinen Knaben zum Abendessen verspeisen – kurz bevor ich zu Bett gehe. Bis jetzt bin ich mir noch nicht schlüssig geworden, welcher von euch meinem Geschmack am besten zusagt. Wer aber noch einen einzigen Schritt weiter geht – den esse ich ganz bestimmt auf. Macht also, daß ihr fortkommt!« Dabei warf er die Münzen möglichst weit. Es gab ein großes Geschrei und Gestrampel – und Cashel konnte seinen Weg mit Lydia ohne Geleit fortsetzen.

Sie hatte sich die Vertreibung ihres Gefolges zunutze gemacht, um sich von Cashels Arm zu lösen. Seitdem sie sich für Teddy ins Mittel gelegt hatte, sprach sie jetzt zum erstenmal wieder zu ihm.

»Es tut mir sehr leid, Herr Cashel Byron, daß ich Ihnen soviel Mühe bereitet habe. Meinen verbindlichsten Dank für Ihr Dazwischentreten und Ihren Schutz – aber ich befand mich in keiner ernstlichen Gefahr. Ich hätte gern ein paar ungezogene Worte über mich ergehen lassen, um einen Tumult zu vermeiden.«

»Da haben wir's!« rief Cashel. »Ihnen wäre es natürlich lieber, ich hätte mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert und mich nicht eingemischt. Der arme Kerl tut Ihnen womöglich noch leid, weil ich so schlecht mit ihm umgegangen bin – vielleicht nicht? Das ist echte Weiberart!«

»Von alledem habe ich kein Wort gesagt.«

»Ich wüßte nicht, was Sie sonst damit meinen könnten. Mir macht's auch kein Vergnügen, mich für nichts und wieder nichts mit hergelaufenen Leuten auf der Straße herumzubalgen: auf die Weise verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt nicht. Und jetzt, wo ich es um Ihretwillen doch getan habe, teilen Sie mir gütigst mit, daß ich mich besser ruhig verhalten hätte.«

»Vielleicht bin ich nicht im Recht. Ich begreife noch immer nicht völlig, was eigentlich geschehen ist. Sie kamen ja, als ob Sie vom Himmel heruntergefallen wären.«

»Aha! Als Sie mich so an Ihrer Seite sahen, da waren Sie doch froh, nicht wahr – trotz allem Ihren Gerede. Na, heraus mit der Sprache! Waren Sie froh, als Sie mich sahen?«

»Sehr, sehr froh – ich will's gestehen. Was war das aber für eine Zauberkraft, mit der Sie den Mann plötzlich bändigten? War es denn unumgänglich notwendig, daß Sie sich erst Ihre Hände beschmutzten und ihn am Halse packten?«

»Das war eine Genugtuung für mich – und außerdem hatte er's verdient.«

»Sicherlich eine sehr bescheidene Genugtuung! Haben Sie es bemerkt, wie jemand aus der Menge Ihren Namen rief und der andere darüber fürchterlich erschrak?«

»Wirklich? Komisch, nicht wahr? Sie sagten aber soeben, ich wäre Ihnen wie vom Himmel heruntergefallen erschienen. Ich ging ja schon fast fünf Minuten lang hinter Ihnen her! Was sagen Sie nun? Wenn ich mir eine Frage erlauben darf – wie kommen Sie dazu, mit einem kleinen Knaben zu derartig vorgerückter Stunde in Soho umherzuwandern?«

Lydia erklärte ihm alles. Bis sie geendigt hatte, war es fast dunkel geworden. Als sie auf die Oxford Street gelangten, erging es ihr wie Lucian am Nachmittag in Regents Park: sie bemerkte, daß ihr Begleiter ein Gegenstand der Neugierde war für viele von den jungen Menschen, die sich auf der Straße herumtrieben.

»Alice wird glauben, ich bin verloren gegangen,« sagte sie und winkte einen Kutscher herbei. »Leben Sie wohl – und herzlichen Dank. Freitags bin ich stets zu Hause. Ich werde mich sehr freuen, wenn Sie mich aufsuchen wollen.«

Lydia reichte ihm eine Visitenkarte. Er nahm sie, las sie, sah auf die Rückseite, um sich zu überzeugen, ob dort auch etwas zu lesen stünde, und sagte schließlich in zweifelndem Tone:

»Da sind wohl immer sehr viel Menschen?«

»Ja – Sie treffen zahlreiche Leute.«

»Hm! Darf ich Sie nicht jetzt nach Haus begleiten? Ich will auch ganz gewiß nicht weiter als bis zur Pforte.«

Lydia lächelte. »Ihre Begleitung wäre mir sehr willkommen,« meinte sie. »Ich bin jetzt aber außer aller Gefahr und danke bestens. Ich brauche Sie nicht weiter zu bemühen.«

»Was aber, wenn der Kutscher Sie mit einer doppelten Taxe übers Ohr hauen will – denken Sie doch nur?« drang Cashel in sie. »Ich habe selbst in Kilburn zu tun – und Ihr Haus liegt gerade auf meinem Weg. Mein Ehrenwort, ich habe dort zu tun,« wiederholte er in der Befürchtung ihres Zweifels. »Ich gehe jeden Dienstag abend in den Cestus-Klub.«

»Ich bin hungrig und möchte schnellstens nach Haus,« erwiderte Lydia. »Wenn ich am Leben bleiben soll, so muß ich gehen – wenn ich länger zögere, ist es mein Tod. Kommen Sie also meinetwegen mit! Jedenfalls aber wollen wir uns sofort auf den Weg machen.«

Sie stieg in den Wagen; Cashel folgte und machte eine ihr nicht völlig verständliche Bemerkung des Sinnes, daß es bereits zu dunkel wäre, als daß er von irgend jemand erkannt werden könnte. Während der Fahrt, die bald beendet war, sprachen sie nur wenig. Als der Wagen vor dem Hause hielt, stand Bashville in der offenen Tür.

Cashel entstieg dem Gefährt, und der Diener blickte ihn mit Interesse und Verwunderung an. Als dann auch Lydia sichtbar wurde, zeigte er sich derartig verblüfft, daß er mit offenem Munde stehen blieb, wenngleich er daran gewöhnt war, mit Ausnahme seiner Obliegenheiten allen Dingen gegenüber Gleichgültigkeit zu simulieren und jene so automatisch wie nur irgend möglich zu verrichten.

Cashel verabschiedete sich mit einem Händedruck von Lydia. Während sie eintrat, fragte sie Bashville, ob Miß Goff zu Hause wäre. Zu ihrer größten Verwunderung beachtete er sie überhaupt gar nicht, sondern starrte nur dem davonfahrenden Wagen nach. Sie wiederholte ihre Erkundigung.

»Madam,« stammelte er, indem er sich plötzlich zusammenraffte, »Miß Goff haben bereits viermal gefragt.«

Mit Beruhigung sah Lydia sich der peinlichen Vermutung enthoben, daß ihr sonst so tadelloser Diener zu tief ins Glas geguckt haben könnte; sie dankte ihm und stieg die Treppe hinauf.


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