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Drittes Kapitel.

Am folgenden Tage leistete Alice Miß Carews Aufforderung Folge. Für Lydia galten alle abschließenden Vereinbarungen stets schon für erledigt, sobald sie ihre Bereitwilligkeit zum Einverständnis einmal angedeutet hatte; und so sah sie auch jetzt die Annahme ihres Anerbietens als selbstverständlich an. Infolgedessen hielt Alice es für angebracht, Lydia daran zu erinnern, daß sie noch andere Persönlichkeiten in Betracht ziehen müsse.

»Ich würde schon gestern nicht gezögert haben,« sagte sie, »wenn es sich nicht um meine Mutter handelte. Es macht einen so herzlosen Eindruck, sie allein zu lassen.«

»Sie haben doch noch eine Schwester zu Hause, nicht wahr?«

»Gewiß. Nur ist sie nicht sehr kräftig, und meine Mutter braucht sehr viel Pflege.« Alice hielt einen Augenblick inne und setzte dann im gedämpfteren Tone hinzu: »Sie hat sich von der Aufregung bei meines Vaters Tode niemals erholen können.«

»Dann ist Ihr Vater also noch nicht lang tot?« fragte Lydia.

»Erst seit zwei Jahren,« erwiderte Alice kühl. »Ich weiß kaum, wie ich es meiner Mutter beibringen soll, daß ich mich von ihr trennen will.«

»Gehen Sie zu ihr und sagen Sie's ihr gleich heute, Alice. Sie brauchen nicht zu befürchten, ihr weh zu tun. Kummer von zweijähriger Dauer ist lediglich eine schlechte Angewohnheit.«

Alice fuhr empört in die Höhe. Der Schmerz ihrer Mutter war ihr heilig, und doch erkannte sie auf Grund der Erfahrungen, die sie selbst mit ihrer Mutter gemacht hatte, die Wahrheit, die in Lydias Bemerkung lag, und sie fühlte, daß sie schlechterdings unwiderlegbar war. Sie runzelte die Stirn; aber dies Stirnrunzeln ging unbemerkt verloren: Miß Carew sah sie nicht an. Dann erhob sie sich, schritt zur Tür, wandte sich noch einmal um und sagte:

»Sie kennen unsere Familienverhältnisse nicht. Ich will jetzt gehen und es meiner Mutter verständlich machen, daß sie mir ihre Zustimmung zum Hierbleiben erteilt.«

»Bitte, kommen Sie möglichst rechtzeitig zum Diner zurück,« entgegnete Lydia unbeirrt. »Ich will Sie mit meinem Vetter Lucian Webber bekannt machen. Ich habe gerade ein Telegramm von ihm erhalten. Er kommt mit Lord Worthington. Ich weiß nicht, ob Lord Worthington auch zum Diner da sein wird oder nicht. Er hat in Warren Lodge einen kränklichen Freund wohnen, und Lucian drückt sich nicht klar aus, ob er diesen oder mich besuchen wolle. Übrigens ist das an und für sich ganz gleichgültig: Lord Worthington ist lediglich ein junger Sportsman. Lucian ist ein kluger Mensch und wird sich eines Tages einen Namen machen; er ist Sekretär beim Kabinettsminister und hat sehr viel zu tun; während der Pfingstferien werden wir ihn wahrscheinlich öfter zu sehen bekommen. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie an der Tür stehen lasse und Sie zwinge, diese lange Geschichte anzuhören. Adieu.« Sie winkte ihr mit der Hand; und Alice hatte plötzlich die Empfindung, daß es unter Umständen möglich sein mußte, Miß Carew sehr lieb zu gewinnen.

Sie verbrachte mit ihrer Mutter einen recht traurigen Nachmittag. Mrs. Goffs Schicksal hatte darin bestanden, einen Mann zu heiraten, vor dem sie sich fürchtete, und der stets sehr unangenehme Saiten aufzog, wenn in seinem Haushalt oder an den Kindern die geringste Kleinigkeit vernachlässigt wurde. Da sie aus der Not eine Tugend machte, so erachtete man sie schließlich in Wiltstocken für das Muster einer guten Gattin und Mutter. Als Mr. Goff dann schließlich von einem Wagen überfahren und getötet wurde, blieb sie mit zwei Töchtern auf dem Halse fast mittellos zurück. In dieser traurigen Lage nahm sie ihre Zuflucht zum Schmerz und tat gar nichts. Ihre Töchter ordneten die Angelegenheiten ihres Vaters so gut sie konnten; sie zogen in ein billiges Haus und verschafften sich einen Mieter für das andere, in dem sie lange Jahre hindurch gelebt hatten. Janet, die ältere Schwester, die ihrer Veranlagung nach sehr lernbegierig war, ließ sich als Lehrerin in der neusten Richtung weiblicher Erziehungsweise nieder, deren Ruf sogar nach Wiltstocken gelangt war. Alice war außerstande, Mathematik und Ethik zu lehren; dafür gründete sie einen Tanzzirkel, gab Unterricht im Gesang und in einer Sprache, von der sie annahm, daß sie in Frankreich geläufig wäre, die aber Einwohnern jenes Landes, die auf ihren Reisen Wiltstocken berührten, völlig unverständlich blieb. Die beiden Schwestern hingen sehr aneinander und an ihrer Mutter. Alice, die sich der besonderen Zuneigung ihres gegen sich selbst sehr nachsichtigen Vaters erfreut hatte, bewahrte seinem Andenken eine gewisse freundliche Gesinnung, wenngleich sie sich des Wunsches nicht zu erwehren vermochte, daß seine Zuneigung wohl hätte stark genug sein können, um eine Versorgung für sie beiseite zu legen. Sie schämte sich auch bei der Erinnerung an seine Gewohnheit, sich bei Rennen, Regatten und anderen nationalen Festlichkeiten zu betrinken, wie er denn auch bei einem dieser Anlässe durch einen Unglücksfall sein Leben eingebüßt hatte.

Als Alice sich vom Schlosse zu ihrer Mutter begab, hoffte sie, ihre Familie bei ihrer Rückkehr in geteilten Empfindungen der Freude über ihr Glück und der Trauer über ihren Verlust zurückzulassen; ihre Ansichten über Menschenwesen und Elterngefühle waren bis jetzt rein romantischer Art. Mrs. Goff aber wurde sofort neidisch auf den Luxus, den ihre Tochter nunmehr genießen sollte und überhäufte sie mit Vorwürfen über ihre Gefühllosigkeit, über den unkindlichen Eifer, ihre Mutter zu verlassen, und wegen ihrer eitlen Vergnügungssucht. Alice, die trotz eines hartnäckigen Empfindens für die Gesetze der Aufrichtigkeit ihrer Mutter oft während eines einzigen Nachmittags ein halbes Dutzend Lügen aufzubinden wußte, um ihr eine unangenehme Wahrheit zu ersparen, und die außerdem jegliche Andeutung des Sinnes, daß ihre Mutter mehr selbstsüchtig als engelsgleich wäre, als eine Infamie von sich gewiesen hätte – Alice also brach unverzüglich in Tränen aus und erklärte, daß sie nicht ins Schloß zurückkehren werde und daß nichts sie dazu hätte veranlassen können, die vergangene Nacht dort zu verbringen, wenn sie irgendwie auf den Gedanken verfallen wäre, diese ihre Handlungsweise könne zu Hause irgend welches Leid heraufbeschwören.

Hierüber wurde Mrs. Goff unruhig, wußte sie doch aus Erfahrung, daß Alice viel leichter zu raschen Entschlüssen zu treiben als hinterher davon abzubringen war. Die Furcht, sich in Wiltstocken den Vorwurf mutwilliger Behinderung der Interessen ihrer Töchter zuzuziehen und des Anteils an Miß Carews Reichtum und Gönnerschaft verlustig zu gehen, trug über ihren Neid den Sieg davon. Sie hielt Alice in ernsten Ausdrücken eine Predigt über ihr eigensinniges Wesen und befahl ihr – nicht nur auf Grund ihrer Pflichten gegen ihre Mutter, sondern vielmehr und in erster Linie nach Maßgabe ihrer Pflicht gegen Gott – Miß Carews Anerbieten in Dankbarkeit anzunehmen und auf die endgültige Festsetzung eines Gehalts zu dringen, sobald sie durch angemessenes Betragen ihre Anwesenheit im Schlosse unentbehrlich gemacht hätte. Als pflichtgetreue Tochter veranlaßte Alice ihre Mutter zu einem Rückzug auf das friedlichere Gebiet dringender Bitten, ja sogar zu Symptomen eines gewaltsamen Gefühlsausbruchs trauernder Beschwerde gegen den verstorbenen Mr. Goff, ehe sie sich endlich bereit erklärte, ihren Wünschen zu gehorchen.

Sie erklärte, so lange warten zu wollen, bis Janet, die in ihrer Lehrtätigkeit abwesend war, wieder nach Hause käme und ihr für ihr Fernbleiben während der vergangenen Nacht Verzeihung angedeihen ließe. (Mrs. Goff hatte nämlich fälschlich angedeutet, Janet wäre aufs tiefste verletzt gewesen und hätte bis in den hellen Morgen hinein weinend wach gelegen.)

Die Mutter sah nunmehr keinen anderen Ausweg, als Alice vor Janets Rückkehr zu entfernen, um nicht auf einer gehässigen Unwahrheit ertappt zu werden; sie griff daher aufs neue zu einer unwahren Andeutung, nämlich, daß Janet den Nachmittag bei Bekannten verbrächte, und erörterte hierauf nachdrücklich die Unhöflichkeit, Miß Carew so lange allein zu lassen. Schließlich verflüchtigte Alice durch einiges Waschen die Spuren ihrer Tränen und kehrte dann ins Schloß zurück; ihr war recht traurig zumute und sie suchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihrer Schwester die Szene, der sie gerade beigewohnt hatte, erspart geblieben war.

Als sie ins Schloß zurückgelangte, war Lucian Webber noch nicht angekommen. Miß Carew warf bei ihrem Eintreten einen forschenden Blick auf ihre melancholischen Züge, richtete jedoch keinerlei Fragen an sie. Bald darauf aber legte sie ihr Buch beiseite, dachte einen Augenblick nach und sagte dann:

»Es sind schon drei Jahre her, daß ich mir kein neues Kleid gekauft habe.« Alice blickte neugierig zu ihr auf. »Jetzt, wo Sie mir bei der Auswahl behilflich sein können, werde ich mich vielleicht zu der Extravaganz verstehen, meine ganze Garderobe zu erneuern. Es wäre mir lieb, wenn Sie diese Gelegenheit benutzen wollten, sich ebenfalls ein paar neue Sachen anzuschaffen. Sie werden ausfindig machen, daß man sich auf die Arbeit meiner Schneiderin, Madame Smith, vollkommen verlassen kann, wenn sie auch sehr teuer und unehrlich ist. Sobald wir von Wiltstocken genug haben, können wir nach Paris fahren und uns dort ausstaffieren lassen. Mittlerweile aber wollen wir unsere Zuflucht zu Madame Smith nehmen.«

»Ich kann mir keine teuren Kleider leisten,« meinte Alice.

»Ich würde Sie nicht auffordern, sich welche anzuschaffen, wenn Sie sich's nicht leisten könnten. Ich habe Sie davor gewarnt, daß ich Ihnen kostspielige Angewohnheiten beibringen würde.«

Alice zögerte. Sie besaß die ehrliche Neigung, bei allen Gelegenheiten so viel zu nehmen, wie sie kriegen konnte; sie hatte außerdem unter der Armut zu viel gelitten, um jetzt nicht eher ihrem Schicksal dankbar zu sein, als sich durch Miß Carews Wohltätigkeit erniedrigt zu fühlen. Bei dem Gedanken aber, daß sie in reicher Kleidung in einer der Equipagen des Schlosses spazieren fahren und dann Janet treffen sollte, die in einem billigen schwarzen Sergekleid und mit geflickten Handschuhen ihrem Tagewerk nachging, konnte Alice sich der Empfindung nicht erwehren, als ob sie sämtliche Vorwürfe ihrer Mutter verdiene. Indes trat es für sie ebenso klar zutage, daß ihre Weigerung keinerlei materiellen Vorteil für Janet in sich schließen würde, und so sagte sie denn:

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihrer Freundlichkeit in solch summarischer Weise zur Last fallen darf. Sie sind zu gut zu mir.«

»Ich werde noch heute abend an Madame Smith schreiben,« entgegnete Lydia.

Alice stand im Begriff, ihre Weigerung in etwas schwächerer Form noch einmal zu wiederholen, als Mr. Webber gemeldet wurde.

Sie richtete sich in ihrer Haltung auf, um den Besucher zu empfangen. In Lydias Wesen trat keinerlei Veränderung ein. Lucian, dessen Benehmen mehr dem Miß Goffs als dem seiner Cousine glich, ließ die Zeremonie der Vorstellung mit einer gewissen Feierlichkeit über sich ergehen und wurde dann von Alice mit einem Zusatz von Geringschätzung begrüßt; wenn sie jetzt auch heimlich von Bewunderung hingerissen war, so setzte sie doch aus Gewohnheit Männern gegenüber stets eine fast tyrannische Miene auf.

In seiner an Alice gerichteten Anrede wies Mr. Webber auf die Tatsache hin, daß das Wetter etwas kühler wäre als am vorhergehenden Tage. In seiner für Lydia bestimmten Antwort bestätigte er deren Ansicht, daß die vom Führer der Oppositionspartei angekündigte Resolution einem Mißtrauensvotum gegen die Regierung gleichkäme. Er rechne mit Bestimmtheit auf die Majorität der Ministeriellen. Sonst habe er keine wichtigen Nachrichten. Er hätte die Eisenbahnfahrt zusammen mit Lord Worthington zurückgelegt, der nach Wiltstocken gekommen wäre, um den erholungsbedürftigen Herrn in Warren Lodge aufzusuchen. Worthington sei mit ihm dahin übereingekommen, den 7<sup>30</sup>-Zug zur gemeinsamen Rückfahrt nach London zu benutzen.

Als sie in den Speisesaal hinuntergingen, machte sich Alice ihre Erfahrungen vom Tage vorher zunutze, trat der Dienerschaft mit Selbstbewußtsein entgegen und beging keinerlei Verstöße. Da sie nichts von der Politik wußte, die den Grundstock von Lucians Unterhaltung ausmachte, so vermochte sie an der Konversation nicht teilzunehmen; sie saß schweigend da und bestätigte sich eine ihrer alten Ansichten, derzufolge es für eine Dame lächerlich und unfein wäre, über Dinge zu diskutieren, die in Zeitungen standen. Lucians vorsichtige und etwas dogmatische Redeweise machte einen gewaltigen Eindruck auf sie, und sie kam zu dem Schluß, daß er sicherlich alles wissen müsse. Lydia schien seinen Mitteilungen mit Interesse zu folgen, auf seine Meinung aber keinerlei Wert zu legen.

Gegen halb acht Uhr schlug Lydia einen gemeinsamen Gang zur Eisenbahnstation vor und begründete diese Promenade mit ihrem Wunsch, von Lord Worthington das Buchmachen zu erlernen. Lucian machte ein ernstes Gesicht, und Alice setzte eine empörte Miene auf, um ihm auf diese Weise kund zu tun, daß sie seine Ansichten über Sitte und Schicklichkeit teile. Keine dieser beiden Gefühlsdemonstrationen übten auf Lydia irgend welchen Einfluß aus. Sie schritt ihnen in die Halle vorauf, nahm ihren ungefütterten Strohhut und den weißen Wollschal von einem Ständer und ging unbehandschuht in den frischen Frühlingsabend hinaus. Alice war sprachlos über dies männliche Vorgehen; und da sie sich der zehn Minuten beraubt sah, mit denen sie aufs bestimmteste gerechnet hatte, um ihren Hut aufzustecken und sich zu einer öffentlichen Schaustellung geeignet herzurichten, so mußte sie jetzt mit wenig würdevoller Hast die Treppe hinauf und hinunter laufen. Als sie die anderen auf dem Rasenplatz einholte, sagte Lucian gerade:

»Worthington hat Angst vor Ihnen, Lydia – scheinbar unnötige Angst.«

»Warum hat er Angst?«

»Weil Sie so viel mehr wissen als er,« entgegnete Lucian, der diese Aufforderung zu einer längeren Auseinandersetzung mit Freuden begrüßte. »Vielleicht aber bringen Sie seiner Geschmacksrichtung mehr Sympathie entgegen, als er voraussetzt.«

»Ich habe ihn gern, denn ich habe die Bücher nicht gelesen, aus denen er seine Ansichten entlehnt hat. Zwar nach ihrer Frische zu urteilen, dürfte ich eigentlich nicht erstaunt sein zu lernen, daß er sie aus erster Hand hat von lebenden Menschen oder selbst aus eigener Beobachtung des Lebens. Ich will Ihnen lieber gleich erklären, Alice, daß Lord Worthington ein junger Mann ist, dessen Kalender sich mit dem Rennkalender deckt, und der sich für Favoriten und Außenseiter weit mehr interessiert, als Lucian für Premierminister und parteilose Radikale. Möchten Sie einmal nach Ascot, Alice?«

Alice antwortete, wie Lucian ihrer Meinung nach ihre Antwort erwartet hatte – daß sie niemals ein Rennen besucht habe und auch keinen besonderen Wunsch hege, ein Rennen zu sehen.

»Bis zum nächsten Jahr werden Sie Ihre Meinung noch rechtzeitig fürs Ascot-Meeting ändern. Ein Rennen interessiert jedermann – und das kann man von der Oper oder von der Academy nicht sagen.«

»Die Academy habe ich schon gesehen,« entgegnete Alice, die ein einziges Mal mit ihrem Vater in London gewesen war.

»Nicht möglich,« meinte Lydia. »Waren Sie auch in der National Gallery?«

»In der National Gallery? Ich glaube nicht. Wenigstens habe ich es vergessen.«

»Ich kenne viele Personen, die niemals eine Academy übergehen, und die doch nicht wissen, wo die National Gallery ist. Haben Ihnen die Bilder gefallen?«

»Aber natürlich – sehr.«

»Sie werden Ascot viel amüsanter finden.«

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen,« wandte sich Lucian an Alice, »daß es die Lieblingslaune meiner Cousine ist, eine Abneigung gegen die Kunst zur Schau zu tragen, an der sie tatsächlich leidenschaftlich hängt – und auch gegen die Literatur, in der sie außerordentlich belesen ist.«

»Lieber Vetter Lucian,« meinte Lydia, »sollten Sie jemals aus den politischen Bahnen geworfen und in Ihren Ambitionen Enttäuschungen ausgesetzt werden, so bietet sich Ihnen Gelegenheit, von der Kunst und Literatur zu leben. Alsdann werde ich Ihre Ansichten über deren Zulänglichkeit, insofern sie Ihr tägliches Brot ausmachen, achten. Einstweilen haben Sie sie nur als eine Art Sauce gekostet.«

»Mißvergnügt – wie gewöhnlich?« fragte Lucian.

»Die einzige Meinung, die Sie sich über mich bilden können – wie gewöhnlich,« entgegnete Lydia mit geduldiger Ungeduld, als sie ins Stationsgebäude eintraten.

Der Zug – drei Personenwagen und ein Gepäckwagen – wartete auf dem Perron. Die Maschine summte gehorsam vor sich hin; der Lokomotivführer und der Heizer lehnten sich über die Brüstung; der letztere, ein junger Mann, begaffte eifrig zwei Herren, die vor einem Wagen erster Klasse standen, während der Lokomotivführer an seiner Neugier mit der nachdenklichen Gemessenheit des älteren Mannes teilnahm.

Von den beiden Persönlichkeiten, die solchermaßen beobachtet wurden, war der eine ein kugelköpfiger kleiner Herr von ungefähr fünfundzwanzig Jahren im Nachmittagskostüm hauptstädtischer Mode. Im zweiten erkannte Lydia sofort den Hermes vom Tage vorher – trotz eines Strohhutes, einer kanariengelben Krawatte, und eines Anzuges mit zierlichem schwarz und weißem Schachbrettmuster und einem karmoisinroten Seidentaschentuch, das aus der Brusttasche des Rockes hervor quoll. Seine Hände wurden weder von einem Stock, noch von einem Schirm behindert. Er hielt sich sehr schmuck und bewegte seine Glieder wunderbar im Gleichgewicht, als ob er die Gesetze der Schwerkraft überwunden hätte; sein Gesichtsausdruck war selbstzufrieden und gutlaunig. Aber – ach! Lydia fühlte es augenblicklich, daß irgendwo an diesem hübschen, kraftvollen, leichtgemuten jungen Mann ein ›Aber‹ vorhanden war.

»Da steht ja Lord Worthington,« sagte sie mit einer Gebärde auf den Herrn mit dem Kugelkopf. »Der andere kann aber unmöglich sein erholungsbedürftiger Freund sein.«

»Das ist der Mann, der in Warren Lodge wohnt,« entgegnete Alice. »Ich kenne ihn seiner Erscheinung nach.«

»Welche keineswegs auf eine genesungsuchende Persönlichkeit schließen läßt,« fügte Lucian mit einem forschenden Blick auf den Fremden hinzu.

Sie hatten sich jetzt den beiden genähert und konnten Lord Worthingtons Worte hören, als dieser die Coupétür öffnete, um einzusteigen:

»Nun machen Sie keine Dummheiten und pflegen Sie sich ordentlich! Denken Sie daran! Wenn es eine Sekunde länger dauert als fünfzehn Minuten, dann bin ich um fünfhundert Pfund leichter.«

Hermes schlang seine Arme um die Schultern des jungen Lord, und nickte ihm mutwillig zu. Dann sagte er mit gutem Akzent und einwandfreier Aussprache – aber mit einem gewissen rauhen Unterton in der Stimme und lauter, als englische Gentlemen im allgemeinen sprechen:

»Ihr Geld ist so sicher, als ob es auf der Münze wäre, alter Junge.«

Nach Alices Meinung war der Fremde offenbar ein intimer Freund Lord Worthingtons. Sie entschloß sich, ihrem Benehmen ihm gegenüber, falls er ihr vorgestellt wurde, besondere Sorgfalt zu schenken.

»Lord Worthington!« rief Lydia.

Er fuhr zusammen, drehte sich um und kletterte hastig vom Trittbrett des Wagens herunter; dabei sagte er mit einiger Verwirrung:

»Na, Miß Carew, was machen Sie Gutes? Prachtvolle Gegend und prachtvolles Wetter – muß Ihnen kolossal gut bekommen. Reichlich freie Zeit zum Studieren, hoffe ich.«

»Danke schön: ich studiere jetzt überhaupt nicht. Ich möchte gerne, daß Sie ein Buch für mich machten in Ascot.«

Er lachte und schüttelte den Kopf. »Ich schäme mich wegen meiner gewöhnlichen Neigungen,« sagte er; »aber ich habe nicht so viel Verstand, um mich in Ihrem zurechtzufinden – nicht wahr?«

Miß Carew sagte mit leiser Stimme: »Wenn Ihr Freund mein Hausgenosse ist, stellen Sie ihn mir vor.«

Lord Worthington überlegte. Er sah Lucian an und sagte zuletzt:

»Wünschen Sie es wirklich?«

»Selbstverständlich,« antwortete Lydia, »ist denn irgendein besonderer Grund vorhanden …«

»O nein, nicht der geringste – da Sie es ja wünschen,« erwiderte er schnell; seine Augen zwinkerten durchtrieben, als er sich seinem Begleiter zuwandte, der neben der Coupétür stand und Lydia bewunderte, während er selbst von dem Lokomotivheizer bewundert wurde.

»Mr. Cashel Byron – Miß Carew.«

Mr. Cashel Byron errötete leicht beim Lüften seines Strohhutes; alles in allem aber benahm er sich wie eine hervorragende Persönlichkeit, die keinerlei Stolz besitzt. Da er aber offenbar nichts für sich zu sagen hatte, beeilte sich Lord Worthington, um ein Stillschweigen zu vermeiden, das Gespräch auf die Ascotrennen zu bringen. Lydia hörte ihm scheinbar aufmerksam zu, während sie ihre neue Bekanntschaft eingehend musterte.

Jetzt, da der gesellschaftliche Zwang den früheren Ausdruck humorvoller Gutmütigkeit aus seinen Zügen verscheucht hatte, trug er etwas seltsam Furchtgebietendes zur Schau, das sie mit einer Empfindung unbezeichenbaren Wohlgefallens erfüllte. Derselbe Eindruck latenter Gefährlichkeit machte sich, wenn auch in weniger angenehmer Form, bei Lucian geltend, der dem Fremden fast die gleichen Gefühle entgegenbrachte, wie sie sich seiner allenfalls in der Nähe eines großen Hundes von zweifelhaftem Temperament bemächtigt hätten.

Lydia schien es, als ob Mr. Byron auf den ersten Blick kein besonderes Wohlgefallen an ihrem Vetter fände; er schielte ihn von der Seite an, wobei er ihn allerdings verstohlen musterte. Bald wurde die kleine Gruppe durch den Zugführer getrennt, der die Passagiere aufforderte, ihre Sitze einzunehmen. Man wechselte die üblichen Abschiedsworte; Lord Worthington rief Cashel Byron noch ein ›Seien Sie recht vernünftig‹ zu, und dieser antwortete fast ungeduldig mit einem furchtsamen Blick auf Miß Carew:

»Schon gut, schon gut – haben Sie nur keine Angst, Herr.« Dann fuhr der Zug ab, und er blieb mit den beiden Damen auf dem Perron zurück.

»Wir gehen jetzt in den Park zurück, Herr Cashel Byron,« sagte Lydia.

»Ich auch,« entgegnete er. »Vielleicht …« Hier versagten seine Kräfte, und er blickte zu Alice hinüber, um Lydias Augen auszuweichen. Dann verließen sie zusammen die Station.

Eine Weile schritten sie in Schweigen dahin: Alice starrte geradeaus vor sich hin und erinnerte sich mit aufkeimendem Mißtrauen der Tatsache, daß der Fremde Lord Worthington soeben mit dem etwas servilen ›Herr‹ angeredet hatte, während Lydia seinen leichten Schritt und seinen gleichmäßigen Gang beobachtete und in seinen etwas verwirrten Zügen zu lesen versuchte.

»Ich habe Sie gestern Abend im Park gesehen,« sagte er. »Zuerst dachte ich. Sie wären ein Geist. Der alte Mellish – mein Diener, meine ich – hat Sie auch gesehen. Daran merkte ich, daß Sie ein Wesen von Fleisch und Blut waren.«

»Merkwürdig,« meinte Lydia, »ich bildete mir zuerst dasselbe ein.«

»Was Sie sagen – Sie auch?« rief er mit einem fragenden Blick. Währenddessen schenkte er seinen Schritten nicht die genügende Beachtung; er stolperte und raffte sich mit einem unterdrückten Fluch wieder zusammen. Dann wurde er über und über rot und gestattete sich die Bemerkung, daß es ein sehr warmer Abend wäre.

Miß Goff, an die er sich gewandt, stimmte ihm bei. »Ich hoffe,« setzte sie hinzu, »daß es Ihnen wieder besser geht.«

Er starrte sie verwundert an. Nach einiger Überlegung gelangte er zu dem Schluß, daß ihre Bemerkung sich wohl auf sein Stolpern beziehen müsse, und so sagte er dann:

»Danke schön – ich habe mir nicht weh getan.«

»Lord Worthington hat uns schon von Ihnen erzählt,« meinte Lydia.

Er blieb plötzlich stehen; offenbar war er aufs peinlichste berührt. Sie aber setzte eilig in versöhnlichem Tone hinzu:

»Er hat uns erzählt, daß Sie zur Wiederherstellung Ihrer Gesundheit hierher gekommen wären – das ist alles.«

Cashels etwas verzerrte Züge glätteten sich zu einem wunderlichen Lächeln. Dann ging er weiter. Gleich darauf wurde er aber wieder mißtrauisch und fragte beklommen:

»Sonst hat er Ihnen also nichts von mir erzählt?«

Alice maß ihn mit einem hochmütigen Gesichtsausdruck. Lydia entgegnete:

»Nein, sonst nichts.«

»Ich dachte, Sie hätten vielleicht meinen Namen schon irgendwo nennen hören,« drang er weiter in sie.

»Wohl möglich. Nur kann ich mich für den Augenblick nicht erinnern, in welchem Zusammenhange. Wieso? Kennen Sie vielleicht jemand von meiner Bekanntschaft?«

»O nein – nur Lord Worthington.«

»Hieraus muß ich wohl entnehmen, daß Sie eine berühmte Persönlichkeit sind, und daß ich das Unglück habe, hiervon keine Kenntnis zu besitzen, Herr Cashel Byron? Verhält es sich so?«

»Keinen Schimmer!« entgegnete er hastig. »Ich sehe nicht den geringsten Grund, warum Sie jemals von mir gehört haben sollten. Nichtsdestoweniger bin ich Ihnen für Ihre liebenswürdige Erkundigung sehr verbunden,« setzte er mit einem Seitenblick auf Alice hinzu. »Ich fühle mich jetzt vollkommen wohl. Danke bestens. Das Landleben hat mich wieder ganz in Ordnung gebracht.«

Alice, in der über die Persönlichkeit des Herrn Byron allerhand Zweifel aufzusteigen begannen, lächelte ihn heuchlerisch an und setzte sich etwas in Positur. Ihr Wesen berührte ihn unangenehm, und er wandte sich von ihr ab; dabei war er so wenig imstande, seine wahren Gefühle zu verbergen, daß Miß Carew, die ihn unentwegt beobachtete, sofort seine Gedanken erriet und mit unverhohlener Freude erkannte, daß er bei ihr Tröstung suchte. Er sah forschend zu ihr hinüber, als ob er nun seinerseits ihre Gedanken zu erraten suchte, die sich indes mit der untergehenden Sonne zu beschäftigen oder in ähnlich schönen und geheimnisvollen Regionen zu wandern schienen. Eins aber sah er ganz deutlich: auf ihren Zügen war kein Reflex des Zornes der Miß Goff ersichtlich.

»Sie haben mich also wirklich für einen Geist gehalten?« fragte er.

»Jawohl, zuerst dachte ich, Sie wären eine Statue!«

»Eine Statue?«

»Sie scheinen das nicht sehr schmeichelhaft zu finden!«

»Ich finde es nicht besonders schmeichelhaft, wenn man für ein Stück Stein gehalten wird,« entgegnete er fast wehmütig.

Das war nun der Mann, den sie fälschlich für das herrlichste Abbild männlicher Kraft und Schönheit auf der Welt gehalten hatte, auf den jemals ihr Auge gefallen war. Und jetzt erwies er sich jeglicher künstlerischen Kultur in solchem Maße bar, daß er eine Statue für ein geschmackloses Stück Stein hielt.

»Ich glaube, ich habe gestern widerrechtlich fremdes Gebiet betreten,« meinte sie. »Es geschah aber völlig unabsichtlich. Ich hatte mich verirrt. Ich bin eigentlich noch verhältnismäßig fremd hier und kann mich in meinem Park noch nicht ganz zurecht finden.«

»Ach, das ist ja ganz egal!« meinte Cashel impulsiv. »Kommen Sie nur so oft Sie wollen. Mellish bildet sich ein, wenn einer ein Stück von mir zu sehen bekäme, dann kriegte er selbst keine langen Odds mehr. Sie müssen nämlich wissen, er möchte die Leute gern bei dem Glauben erhalten, daß ich …« Cashel unterbrach sich selbst und fügte in höchster Verwirrung hinzu: »Mellish ist total verrückt – da liegt der Hund begraben.«

Alice warf Lydia einen vielsagenden Blick zu. Sie hatte bereits anderweitig die Vermutung ausgesprochen, daß bei den Mietern von Warren Lodge offenbar geistige Umnachtung den wahren Grund der Abschließung bildete. Cashel sah den Augenaufschlag, wandte sich ihr zu und fing ihren Blick ab. Dann sagte er mit einem Versuch konversationeller Unbefangenheit:

»Wie vertreiben sich denn die jungen Damen auf dem Lande die Zeit? Spielen Sie jemals Billard?«

»Nein!« protestierte Alice empört. Ihrer Meinung nach lag dieser Frage die Vermutung zugrunde, daß sie allenfalls imstande wäre, ihre Abende in den oberen Zimmern eines Gasthofs zu verbringen. Zu ihrer großen Verwunderung entgegnete Lydia folgendes:

»Ich spiele Billard – aber nur sehr wenig. Ich kann diesem Spiel nicht genügend Interesse abgewinnen, um mir irgend welche Fertigkeiten darin anzueignen. Als ich Sie gestern sah, waren Sie, wenn ich nicht irre, zum Lawn-Tennis-Spielen ausgerüstet? Miß Goff ist eine berühmte Tennis-Spielerin. Sie hat vergangenes Jahr den australischen Champion geschlagen.«

Allem Anscheine nach hatte Byron doch etwas von einem liebenswürdigen Courmacher an sich; wenigstens trug er angesichts dieser Heldentat das denkbar größte Erstaunen zur Schau.

»Den australischen Champion?« wiederholte er. »Was hat denn der Mann – ach, Sie meinen die Tennis-Meisterschafts-Spielerin! Ach, natürlich, natürlich! Wie dem auch sei, Miß Goff, ich beglückwünsche Sie. Nicht jeder Amateur kann sich rühmen, einem berufsmäßigen Champion die Zähne gezeigt zu haben.«

Alice empfand die mögliche Bezichtigung des Eigenlobes wie eine Beleidigung und war sich völlig darüber klar, daß seine nicht dialektreine Sprechweise im höchsten Grade gewöhnlich klang – wie es auch sonst allenfalls mit dem Billardspielen stehen mochte. Sie richtete sich daher noch hochmütiger in die Höhe und faßte den Entschluß, ihn, falls er sie noch einmal anreden sollte, deutlich abfallen zu lassen. Er redete sie aber nicht an, da sie gerade zu einer schmalen Eisenpforte in der Parkmauer gelangten, bei der Lydia stehen blieb.

»Darf ich Ihnen die Tür öffnen?« fragte Cashel.

Sie gab ihm den Schlüssel. Er ergriff einen der Riegel der Pforte mit der linken Hand und bückte sich, als ob er ins Schlüsselloch gucken wollte; schließlich aber hielt er die Tür mit hinlänglicher Anmut offen.

Alice war im Begriff mit einer kühlen Verbeugung einzutreten, als sie sah, wie Miß Carew Herrn Cashel die Hand reichte. Was Lydia auch tun mochte – es hatte stets den Anschein, als ob es das einzig Richtige wäre. Er ergriff ihre Hand furchtsam, schüttelte sie fast unmerklich und wagte Lydia dabei nicht anzusehen. Alice hielt ihm mit einer steifen Bewegung die Fingerspitzen hin. Cashel trat unverzüglich mit dem rechten Fuß einen Schritt vor und umspannte ihre Finger mit der wuchtigsten Masse von Knöchelgelenken, die sie jemals zu fühlen bekommen hatte. Mit einem forschenden Blick auf diese bedeutsame Faust sah Alice, daß sie dunkel, fast schwarz verfärbt war. Dann schritt sie durch die Öffnung, während Lydia ihr folgte und sich dann noch einmal zurückdrehte, um sie zu schließen. Während sie die Pforte zuschob, ergriff Cashel, der draußen stand, einen der Riegel und zog. Sie überließ ihm die endgültige Schließung der Tür und beglückte ihn mit einem Dankeslächeln, als sie sich zum Gehen wandte; im selben Augenblick aber faßte auch er den Mut, sie voll zu betrachten.

Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich ihrer, als sie solchermaßen in einer ihr völlig neuen und so seltsamen Art angesehen wurde. Sie verlor ein ganz klein wenig von ihrer Fassung – allerdings nicht soviel wie Cashel, der dessenungeachtet seine Augen nicht von ihr abzuwenden vermochte.

»Halten Sie diesen Mann für einen Gentleman?« fragte Alice, während sie den Obstgarten durchschritten.

»Wie soll ich das so ohne weiteres sagen können? Wir haben ihn ja kaum kennen gelernt. Was meinen Sie denn?«

»Einem Gentleman haftet immer ein gewisses Etwas an, das man unverzüglich instinktiv erkennt.«

»So – es haftet ihnen immer etwas an? Das ist mir nie aufgefallen.«

»Ach, nicht möglich?« entgegnete Alice verwundert; eine unbestimmte Furcht beschlich sie, als ob ihr höherstehendes Auffassungsvermögen für Vornehmheit in gewisser Hinsicht vielleicht der Ausfluß ihrer im Verhältnis zu Miß Carew niedereren gesellschaftlichen Stellung war. »Ich dachte, man könnte das immer auf den Kopf zusagen.«

»Möglich,« entgegnete Lydia. »Ich für mein Teil habe bei allen Klassen dieselben Veränderlichkeiten im Benehmen bemerkt. Manche Menschen besitzen, ganz gleich welcher Art das Genre ihrer Sippe sein mag, eine angeborne Vornehmheit und eine Anmut in den Manieren …«

»Das meine ich ja gerade,« warf Alice ein.

»Aber Sie finden dergleichen ebenso oft bei Schauspielern, Zigeunern und keltischen oder ausländischen Bauern, als bei vornehmen Damen und Herren. Bei den meisten Leuten kann man ungefähr das Richtige raten – bei Herrn Cashel Byron aber nicht. Interessieren Sie sich vielleicht für ihn?«

»Ich?« rief Alice mit Grandezza. »Nicht im geringsten!«

»Ich – ja. Mich interessiert er. Ich vermag an der Menschheit selten etwas Neues zu erblicken, – und er ist sicherlich ein sehr eigenartiger Mann.«

»Ich wollte damit sagen,« meinte Alice etwas betroffen, »daß ich ihm kein besonderes Interesse entgegenbringe.«

Lydia machte sich über den genauen Grad des bei Alice vorhandenen Interesses keine Gedanken; sie nickte nur mit dem Kopf und sagte dann weiter: »Er kann sehr gut – wie Sie offenbar voraussetzen – ein Mann niederer Herkunft sein, der ein Stück menschlichen Lebens zu sehen bekommen hat, oder auch ein Gentleman, der nicht an die Gesellschaft gewöhnt ist; besonders das letztere. Ich kann mich nach keiner Seite hin entscheiden.«

»Er hat aber eine sehr rauhe Sprechweise, und sein Dialekt ist geradezu abscheulich. Seine Hände sind hart und ganz schwarz. Haben Sie das bemerkt?«

»Ich habe alles bemerkt. Und ich meine, er würde sich mit Sorgfalt vor minderwertiger Sprechweise hüten, wenn er ein Mann niederer Herkunft wäre. Parvenüs sind im allgemeinen in Dingen der Sprache sehr genau; sie durchbrechen sehr selten die feststehenden Gesetze der Gesellschaft, während er jede von ihnen durchbricht. Bei einigen seiner Worte ist seine Aussprache derartig deutlich, daß ich einmal sogar der Ansicht zuneigte, er wäre vielleicht ein Schauspieler. Doch ist seine Aussprache nicht gleichmäßig deutlich. Ich bin fest davon überzeugt, daß er irgendeinen Lebensberuf hat. Er sieht nicht aus wie ein Müßiggänger. Ich habe alle landläufigen Berufsarten in Betracht gezogen – er paßt aber zu keiner einzigen. Vielleicht ist es gerade dieser Umstand, der ihn so interessant macht. Man kann aus ihm nicht klug werden.«

»Eine Art gesellschaftlicher Stellung muß er aber haben. Mit Lord Worthington ging er sehr familiär um.«

»Lord Worthington ist ein Sportsman und daher mit allen möglichen Leuten auf vertrautem Fuß.«

»Das schon. Nur würde er es sicherlich keinem Jockey oder irgend jemand dieser Klasse gestatten, ihm den Arm um die Schultern zu legen, wie es Mr. Byron getan hat.«

»Ganz recht,« entgegnete Lydia nachdenklich. »Wie dem auch sei,« setzte sie dann mit einem Lächeln, das ihr Stirnrunzeln verscheuchte, hinzu, »für einen kränklichen Studenten halte ich ihn nicht.«

»Ich werde Ihnen sagen, was es ist,« warf Alice plötzlich ein. »Er ist der Begleiter und Aufseher des Mannes, mit dem er zusammen wohnt. Erinnern Sie sich noch, wie er gesagt hat: Mellish ist total verrückt?«

»Das kann sein,« erwiderte Lydia. »Auf alle Fälle haben wir jemand, über den wir reden können, und das ist auf dem Lande schon ein bedeutender häuslicher Komfort.«

Sie waren zum Schlosse gelangt. Lydia zögerte noch einen Augenblick auf der Terrasse. Die hohen Schornsteine im Tudorstil auf dem Dache von Warren Lodge hoben sich deutlich gegen die mächtige Purpurwolke ab, hinter der die Sonne versank. Lydia lächelte, als ob ein eigenartiger Gedanke sie beschäftige; einen Moment richtete sie ihre Augen auf den schwarzen Marmorägypter, der seinen Blick unentwegt zum Himmel gerichtet hielt; dann folgte sie Alice ins Haus. –

Später, als es schon dunkel war, saß Cashel in der geräumigen Küche des Landhauses und dachte nach. Sein Begleiter hatte sich seines Rockes entledigt, stand rauchend am Feuer und beobachtete einen Tiegel, in dem etwas brodelte. Nach einem forschenden Blick auf die Uhr unterbrach er das Schweigen.

»Zeit, in die Klappe zu gehen!«

»Zeit, zum Teufel zu gehen,« entgegnete Cashel. »Ich gehe aus!«

»Jawohl, Sie gehen aus und erkälten sich. So lange ich etwas davon weiß, gehen Sie nicht aus.«

»Na, dann machen Sie nur, daß Sie in Ihr Bett kommen. Dann wissen Sie nichts davon. Ich will noch eine kleine Promenade unternehmen.«

»Wenn Sie heute abend den Fuß vor die Tür setzen, dann ist Lord Worthington seine fünfhundert Pfund los. Sie können mit keinem Menschen in fünfzehn Minuten fertig werden, wenn Sie sich in der Nachtluft herumtreiben. Wahrscheinlich wird man dann mit Ihnen fertig werden.«

»Wollen Sie zwei zu eins setzen, daß ich die Nacht auf dem Rasen schlafe und den Fliegenden Holländer hinterher in der ersten Runde abfertige?«

»Nu kommen Sie nur schön!« bat Mellish schmeichelnd. »Seien Sie vernünftig, ich rate Ihnen zum guten.«

»Angenommen, ich wollte nicht zum guten beraten werden – was dann? Reichen Sie mir mal die Zitrone her. Sie brauchen keine Predigt anzufangen: ich werde die Zitrone schon nicht aufessen.«

»Der Kuckuck soll mich holen, wenn er sich nicht die Hände mit der Zitrone abreibt!« rief Mellish, nachdem er Cashel eine Zeitlang beobachtet hatte. »Großer Gott, Sie wahnsinniger Hanswurst, von Zitronen werden Ihre Hände nicht härter! Habe ich mir nicht genug Mühe mit Ihren Händen gegeben?«

»Ich will meine Hände weißer machen,« erwiderte Cashel ungeduldig, indem er die Frucht ins Feuer warf. »Aber es nützt nichts! Mit solchen Fäusten kann ich doch nicht herumlaufen. Morgen fahre ich nach London und kaufe mir ein Paar Handschuhe.«

»Was – wirkliche Handschuhe – Handschuhe zum Tragen?«

»Sie verrücktes altes Mondkalb,« rief Cashel, indem er aufstand und seinen Hut aufsetzte, »meinen Sie vielleicht, daß ich mir ein paar Boxerhandschuhe kaufen will? Vielleicht bilden Sie sich noch ein, daß Sie mir damit etwas beibringen können? Haha! Übrigens, was ich noch sagen wollte – eins werden Sie sich gefälligst hinter die Ohren schreiben, Mellish – lassen Sie's hier nirgends durchsickern, daß ich ein Boxer bin – haben Sie mich verstanden?«

»Ich soll etwas durchsickern lassen?« entgegnete Mellish empört. »Ist so etwas denkbar? Ich frage Sie, Cashel Byron, ist so etwas denkbar?«

»Denkbar oder nicht denkbar – Sie haben es einfach nicht zu tun! Sie könnten sich mit irgend jemand in den Schloßstallungen in ein Gespräch einlassen. Die Leute sind sehr freigebig mit Spirituosen, wenn sie Tips dafür bekommen können.«

Mellish sah Cashel vorwurfsvoll an, und dieser wandte sich zur Tür. Seine Bewegung verwandelte den Unwillen in Besorgnis. Er erneuerte seine Ermahnungen hinsichtlich des Wahnsinns, sich in die Nachtluft hinauszuwagen und zitierte eine Unzahl von Beispielen von Pugilisten, die infolge der Nichtachtung der Ratschläge ihrer Trainer Niederlagen erlitten hätten. Cashel kleidete seinen Unglauben an diese Anekdoten durch kurze und sehr persönliche Ausdrücke in Worte; schließlich mußte Mellish sich damit zufrieden geben, eine halbe Stunde als die äußerste Grenze für die Dauer des Spazierganges zu bewilligen.

»Vielleicht komme ich in einer halben Stunde zurück,« entgegnete Cashel. »Vielleicht komme ich auch nicht.«

»Na, dann will ich Ihnen etwas sagen,« meinte Mellish. »Über ein paar Minuten mehr oder weniger brauchen sich zwei alte Freunde wie wir nicht herumzuzanken. Ich glaube, mir könnte ein kleiner Spaziergang auch ganz gut tun – ich werde Sie begleiten.«

»Ich will gehängt werden, wenn Sie mich begleiten!« sagte Cashel. »So – jetzt lassen Sie mich hinaus und halten Sie's Maul! Ich wage mich nicht aus dem Park heraus. Es liegt keineswegs in meiner Absicht, mir im Dorf eine vergnügte Nacht zu machen – davor haben Sie nämlich Angst. Ich kenne Sie, Sie alter Schwindler! Wenn Sie mir jetzt nicht aus dem Wege gehen, so setze ich Sie aufs Feuer.«

»Aber die Pflicht, Cashel, die Pflicht!« drängte Mellish in überzeugendem Tone. »Jeder Mensch muß seine Pflicht tun. Bedenken Sie doch Ihre Pflichten gegen Ihre Wetter …«

»Wollen Sie mir jetzt aus dem Wege gehen – oder muß ich Sie mir aus dem Wege bringen?« rief Cashel mit drohend aufsteigender Röte.

Mellish wich zu seinem Stuhl zurück, versenkte sein Haupt in die Hände und begann zu weinen.

»Ich will lieber ein Hund sein als ein Trainer,« schluchzte er. »Ach, das ist ein Fluch – wochenlang mit einem Boxer eingeschlossen! Während der ersten zwei Tage sind sie so süß wie Sirup, und dann kommt die Widerhaarigkeit heraus. Die reine Hölle ist es mit ihrer Launenhaftigkeit!«

Infolge einer Regung aufkeimender Reue wurde Cashel noch wütender; er ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Dann schritt er geradeswegs zum Schlosse und starrte fast eine halbe Stunde lang auf die Fenster, wobei er sich in unaufhörlicher Bewegung erhielt, um eine Erkältung zu vermeiden. Endlich verkündete eine außerordentlich hell klingende Glocke auf einem der Minarette die Zeit. Für Cashel, der an den unfreundlichen Mißton der gewöhnlichen Glocken gewöhnt war, schien dieser Klang aus einem Märchenland zu ihm herüber zu tönen. Langsam kehrte er nach Warren Lodge zurück und sah seinen Trainer rauchend und in gespannter Erwartung seiner Rückkehr harrend in der offenen Tür stehen. Cashel wies alles versöhnliche Entgegenkommen mit einer hochmütigen Zurückhaltung von sich, die für Herrn Mellish allerdings weit ehrfurchtgebietender aber auch viel unliebsamer war als seine frühere ruchlose Familiarität. Dann begab er sich gedankenvoll zur Ruhe.


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