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Viertes Kapitel.

Miß Carew saß am Ufer eines großen Teiches im Park, warf von Zeit zu Zeit ein paar Kieselsteine ins Wasser und beobachtete die Berührungspunkte der Kreise, die sie auf der ruhigen Fläche zogen. Alice, die etwas abseits auf einem Feldstuhl saß, zeichnete das Schloß ab, das auf einer Anhöhe im Südosten sichtbar war. Um sie herum erhob sich das waldige Land wie die Seiten eines Amphitheaters; die Bäume reichten nicht bis zum Rande des Wassers herab; ein breiter Streifen hellglänzenden Rasens und ein schmaler Kiesgürtel lagen dazwischen; und von diesem letzteren sammelte Lydia ihre Steinchen.

Da sie Schritte vernahm, wandte sie sich um und bemerkte Cashel Byron, der hinter Alice stand und offenbar nachhaltig mit ihrer Zeichnung beschäftigt war. Er hatte dieselbe Kleidung an, in der sie ihn das letztemal gesehen, nur daß er ein Paar mächtiger, schlüsselblumengelber Handschuhe und eine dunkelrote Krawatte trug. Alice drehte sich gleichfalls um und beäugte ihn mit hochmütiger Überraschung. Er aber blieb unbeirrt mit einem etwas albernen Hin- und Herwiegen des Körpers stehen. Sie warf noch einen Blick zu Lydia hinüber, um sich davon zu überzeugen, daß sie nicht allein war, wünschte ihm ein Gutenmorgen und nahm dann ihre Arbeit wieder auf.

»Komisches Gebäude,« bemerkte er nach einer Pause mit einem Hinweis auf das Schloß. »Sieht beinah chinesisch aus, nicht wahr?«

»Man hält es allgemein für ein sehr schönes Gebäude,« entgegnete Alice.

»O, das ist ja ganz Wurst, wofür es gehalten wird,« erwiderte Cashel. »Was es ist – von dem Gesichtspunkt aus muß man es betrachten!«

»Jedenfalls ist es eine Frage des Geschmacks,« entgegnete Alice etwas kühl.

»Herr Cashel Byron!«

Cashel fuhr zusammen und eilte ans Ufer.

»Wie geht's, Miß Carew?« sagte er. »Ich habe Sie gar nicht bemerkt, ehe Sie mich riefen.«

Sie sah ruhig zu ihm auf; und ihn verließ sein ganzer Mut, da er seiner kindischen Heuchelei überführt wurde.

»Von hier aus hat man einen prächtigen Blick auf das Schloß,« setzte er hinzu, um den Gesprächsstoff zu ändern. »Miß Goff und ich, wir sprachen gerade davon.«

»Ja. Gefällt es Ihnen?«

»Ganz ausnehmend gut. Ein herrliches Gebäude! Das muß jeder sagen.«

»Man hält es allgemein für liebenswürdig, mein Haus mir gegenüber zu loben und es bei anderen Leuten lächerlich zu machen. Nicht wahr – Sie sagen aber zu niemand: es ist ganz Wurst, wofür es gehalten wird?«

Cashel war nicht daran gewöhnt, bei einem Scharmützel den Kürzeren zu ziehen, und daher versagte ihm fast der Mut zum Antworten. Dann aber wurde seine Stimmung wieder vergnügter:

»Ich will Ihnen erklären, woher das kommt,« meinte er. »Insofern es sich darum handelt, das Haus zu skizzieren oder zu betrachten – insofern ist es eigentlich ziemlich chinesisch. Die Tatsache aber, daß Sie darin wohnen, läßt die ganze Sache in einem anderen Licht erscheinen – und das wollte ich damit sagen. Auf Ehre und Gewissen, das war es, was ich damit sagen wollte.«

Lydia lächelte; er aber konnte, da er zu ihr herniederblickte, über die Krone ihres üppigen roten Haares hinweg, das im Sonnenlicht zu flammen schien, ihr Lächeln nicht sehen. Das Hemmnis erfüllte ihn mit Unwillen: er wollte ihr Gesicht betrachten. Eine Weile zögerte er und dann ließ er sich vorsichtig neben ihr auf den Boden nieder – zaghaft, als stiege er in ein sehr heißes Bad.

»Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, wenn ich mich hierher setze,« meinte er schüchtern. »Es macht einen unhöflichen Eindruck, wenn ich so von hoch oben herunter zu Ihnen rede.«

Sie schüttelte verneinend den Kopf und warf zwei weitere Steinchen in den Teich. Ihm fiel nichts Neues ein, was er hätte sagen können; und da sie auch nichts sagte und mit ernster Miene die Kreise auf dem Wasser beobachtete, so begann er gleichfalls auf die Fläche zu starren. Einige Minuten lang saßen sie schweigend da und blickten unentwegt auf das Wasser; sie, als ob es Grund zu tiefem Nachdenken böte, er, als ob das Schauspiel ihn völlig verwirre. Schließlich unterbrach sie die Stille:

»Sind Sie jemals darüber klar geworden, was Schwingung ist?«

»Nein,« erklärte Cashel mit einem verständnislosen Blick auf sie.

»Ich freue mich, daß Sie das offen zugeben. Heutzutage führen wir alles auf Schwingung zurück. Licht, Schall, Empfindung – alles ist entweder Schwingung oder die Unterbrechung einer Schwingung. Sehen Sie einmal hin,« sagte sie, indem sie ein neues Paar Kieselsteinchen ins Wasser warf und auf die beiden Wirbel sich erweiternder Kreise hinwies, die einer in den anderen hinüber spielten. »Das Blinken eines Sternes und die Vibration einer Musiksaite – das ist dasselbe wie dies. Nur kann ich es mir in meinem eigenen Kopfe nicht so recht ausmalen. Ich möchte wissen, ob die Hunderte von Verfassern physikalischer Lehrbücher, die so fließend von Schwingungen reden, sich etwas mehr dabei denken können als ich selbst.«

»Nicht die Spur! Kein einziger von ihnen. Nicht halb soviel können sie sich dabei denken,« entgegnete Cashel vergnüglich, indem er gerade soviel von ihrer Rede beantwortete, wie er verstehen konnte.

»Vielleicht interessiert Sie dieser Gegenstand nicht?« wendete sie sich zu ihm.

»Ganz im Gegenteil – er interessiert mich mehr als irgendein anderer,« erwiderte er kühn.

»Soweit mein eigenes Interesse dafür in Frage kommt, kann ich wohl nicht ganz soviel behaupten. Mir ist gesagt worden, Sie wären ein Student, Herr Cashel Byron. Welches ist Ihr Lieblingsstudium – oder, da man im allgemeinen eine solche Frage nicht leicht zusammenfassend beantworten kann – womit beschäftigen Sie sich am meisten?«

Alice horchte gespannt.

Cashel wurde über und über rot und sah Lydia mit verbissenem Ausdruck an. »Ich übe eine Lehrtätigkeit aus,« erklärte er.

»Was für eine Lehrtätigkeit? Ich weiß, daß ich eigentlich fragen müßte, wo Sie sie ausüben. Dabei würde aber lediglich der Name irgendeiner Universität zum Vorschein kommen; und das würde mir keinerlei brauchbare Aufklärung verschaffen.«

»Ich unterrichte in der Wissenschaft,« ergänzte Cashel mit gedämpfter Stimme und einem Blick auf seine linke Faust; er balancierte sie vor sich in der Luft herum und hieb verstohlen auf sein gebeugtes Knie los, als ob es jemandes anderen Gesicht wäre.

»Naturwissenschaft oder Philosophie?« drang Lydia in ihn.

»Naturwissenschaft,« entgegnete Cashel. »Aber glauben Sie mir, es liegt viel mehr Philosophie und Sittenlehre in der Naturwissenschaft, als man gemeiniglich wohl denkt.

»Sicherlich,« bestätigte Lydia ernst. »Wenngleich ich in der Physik oder Medizin keinerlei greifbare Kenntnisse besitze, kann ich die Wahrheit, die in Ihren Worten liegt, doch sehr gut ermessen. Vielleicht ist jegliche Wissenschaft, die sich im Grunde nicht von der Naturwissenschaft herleitet, nichts weiter als formale Unwissenheit. Ich habe viel über Physik und dergleichen gelesen und war oft in Versuchung, mit meinen eigenen Händen Experimente vorzunehmen – mir ein Laboratorium einzurichten – ja sogar das Skalpell zu schwingen. Das ist doch auch Ihre Ansicht, nicht wahr – wenn man in einer Kunstfertigkeit etwas leisten will, darf man sie nicht mit Glacéhandschuhen anfassen? Die Handschuhe muß man ablegen – was meinen Sie?«

Cashel sah sie forschend an. »Ein wahreres Wort haben Sie nie ausgesprochen,« sagte er. »Aber Sie können auch ein recht beachtenswerter Amateur werden, wenn Sie die Handschuhe ruhig anbehalten.«

»Ich niemals! Die vielen Menschen, die aus der Lektüre von Berichten über Versuche und Experimente irgend welchen Nutzen zu ziehen glauben – die täuschen sich selbst. Es ist ebenso unmöglich, sich eine Kunstfertigkeit vom Hörensagen anzueignen, als aus Sprichwörtern Lebensklugheit zu erlernen. Ach, es ist so leicht einer Reihe von Begründungen zu folgen – und so schwer, die Tatsachen zu erfassen, auf denen sie fußen! Unsere meistbekannten naturwissenschaftlichen Dozenten beglücken uns mit derartig glattpolierten Ketten von Deduktionen, daß es eine wahre Lust ist, sie von einem zum andern Ende durch die Finger gleiten zu lassen. Was sie aber zurücklassen, ist lediglich eine unbestimmte Erinnerung der von ihnen wachgerufenen Empfindung. Entschuldigen Sie, wenn ich mich so figürlich ausdrücke. Ich begreife natürlich, daß Sie auf der Gegenseite stehen – eine Reaktion Ihrerseits, glaube ich, gegen die schöngeistige Sprache und den feinen Stil. Ich bitte Sie aber, wenn ich wirklich einmal meine Absicht ausführe und ernsthaft wissenschaftlich arbeite, wollen Sie mir dann einige Stunden geben?«

»Je nun,« meinte Cashel mit einem unterdrückten Grinsen, »es wäre mir schon lieber, Sie wendeten sich an mich, als an irgendeinen andern Lehrer. Nur halte ich Sie nicht für recht geeignet. Da möchte ich eher mit Ihrer Freundin einen Versuch machen. Sie ist kräftiger und gerader gewachsen als neun von zehn Männern.«

»Sie legen also offenbar einen hohen Wert auf physische Befähigung? Das tue ich auch.«

»Lediglich vom Standpunkt der praktischen Betätigung aus,« erwiderte Cashel sachlich. »Man tut unrecht, wenn man Männer oder Frauen mit denselben Augen ansieht wie Pferde. Will man auf sie in einem Rennen oder Zweikampf wetten – nun gut, das ist ein Ding für sich. Sucht man aber einen Freund oder ein Liebchen, so steht die Sache anders.«

»Ganz richtig,« lächelte Lydia. »Sie wünschen, sich Miß Goff gegenüber keinerlei wärmerer Empfindungen verdächtig zu machen, als lediglich einer kritischen Würdigung ihrer Form und Kondition.«

»Stimmt auf den Kopf!« bestätigte Cashel voll Befriedigung. »Sie verstehen mich, Miß Carew! Es gibt Menschen auf der Welt, in die können Sie den lieben langen Tag lang hineinreden, und wenn's vorüber ist, sind sie nicht klüger als am Anfang. Zu der Sorte gehören Sie nicht.«

»Ich frage mich, ob es uns denn jemals gelingt, unsere Gedanken anderen völlig verständlich zu machen. Ein Gedanke muß sich eine neue Form aneignen, um sich in den Geist des andern einzufügen. Sie, Herr Professor, müssen im Verlauf Ihres Unterrichts oder Ihrer Vorlesungen ganz besondere Erfahrungen über die Unübertragbarkeit der Ideen gesammelt haben.«

Cashel blickte verlegen aufs Wasser und sagte dann mit leiser Stimme: »Sie können mich ja natürlich nennen, wie es Ihnen beliebt. Aber – wenn es Ihnen gleich bleibt – dann möchte ich eigentlich ebenso gern, Sie sagten nicht ›Herr Professor‹.«

»Ich habe soviel in Ländern gelebt, wo die Leute darauf rechnen, bei allen Gelegenheiten mit den belanglosesten Titeln angeredet zu werden, daß ich wohl etwas Nachsicht in Anspruch nehmen darf, wenn ich mir in diesem Punkte habe einen Verstoß zuschulden kommen lassen. Ich danke Ihnen für Ihre freimütige Berichtigung. Ich muß mir wohl aber überhaupt einen Vorwurf machen, weil ich mit Ihnen über Wissenschaft diskutiere. Lord Worthington hat uns gesagt, Sie wären mit dem ausdrücklichen Zweck einer Flucht vor aller Wissenschaft in diese Gegend gekommen – um sich nach einem Übermaß von Arbeit wieder zu erholen.«

»Ach, das hat gar nichts zu sagen,« entgegnete Cashel.

»Ich habe nicht so viel Unheil angerichtet, daß ich mir's gar zu sehr zu Herzen zu nehmen brauchte. Aber ich werde mir keine neuen Übergriffe zuschulden kommen lassen. Wollen wir uns, um den Gesprächsstoff zu wechseln, Miß Goffs Skizze ansehen?«

Miß Carew hatte diesen Vorschlag kaum zum Ausdruck gebracht, als auch Cashel sie schon in ganz geschäftsmäßiger Art und Weise und ohne den geringsten Anflug von Galanterie mit großem Geschick in die Höhe hob und auf die Füße stellte.

Diese unerwartete Aufmerksamkeit jagte ihr einen heftigen Schrecken ein, dem dann ein leiser Schauer keineswegs unangenehmer Art folgte.

Mit einem leichten Erröten auf den Wangen wandte sie sich ihm zu:

»Danke schön. Bitte, tun Sie das aber nicht wieder. Es macht einen etwas beschämenden Eindruck, wenn man wie ein kleines Kind hochgehoben wird. Sie sind aber sehr stark!«

»Um ein Federgewicht wie Sie in die Höhe zu heben, braucht man nicht besonders stark zu sein. Ich würde Sie ungefähr auf hundert Pfund schätzen. Aber es gehört viel Kunst dazu, solche Sachen ordentlich zu machen. Ich habe mehr als einmal einen Mann von wenigstens hundertundsechsundneunzig Pfund tragen und dabei so ruhig halten müssen, als ob er im Bett läge.«

»So, so,« meinte Lydia. »Sie haben also offenbar auch im Krankenhause praktiziert. Oft genug habe ich die Geschicklichkeit bewundert, mit der geschulte Krankenpflegerinnen ihre Patienten behandeln.«

Cashel folgte ihr, ohne ein Wort zu sagen, bis zu der Stelle, an der Alice saß.

»Ich weiß, es ist furchtbar kindisch von mir,« sagte diese plötzlich. »Aber ich kann nie zeichnen, wenn jemand zusieht.«

»Sie bilden sich natürlich immer ein, daß jeder sich mit Ihrer Arbeit beschäftigt,« meinte Cashel in ermutigendem Tone. »Das machen Amateure immer so. Tatsache aber ist, daß sich außer Ihnen selbst kein Mensch um Sie kümmert. Erlauben Sie mal,« fügte er hinzu, indem er die Zeichnung zur Hand nahm und sich daran machte, sie mit Muße zu prüfen.

»Ich muß Sie bitten, Mr. Byron, mir meine Skizze zurückzugeben!« rief sie mit zorngeröteten Wangen.

Er wendete sich verwundert und nach einer Erklärung suchend zu Lydia, wahrend Alice ihre Arbeit ergriff und sie in ihre Mappe packte.

»Es wird recht warm,« meinte Lydia. »Wollen wir wieder ins Schloß gehen?«

»Ich glaube, es wäre wirklich besser,« entgegnete Alice, die vor Erregung bebend eilig von dannen ging und Lydia mit Cashel zurückließ.

»Donner und Doria, was habe ich denn getan?«

»Sie haben mit unverkennbarer Aufrichtigkeit eine etwas unüberlegte Bemerkung gemacht.«

»Ich wollte sie nur ein bißchen aufmuntern. Sie muß meine Worte mißverstanden haben.«

»Ich glaube kaum. Oder meinen Sie vielleicht, daß es jungen Damen angenehm ist, wenn man ihnen sagt, sie hätten keinerlei Grund für ihr etwas komisches Selbstbewußtsein?«

»Das soll ich gesagt haben? Ich schwöre Ihnen das Blaue vom Himmel herunter, daß ich nichts dergleichen gesagt habe.«

»Sie sind allerdings in der Wahl Ihrer Worte anders vorgegangen. Hingegen haben Sie ihr versichert, daß sie sich gegen Zuschauer beim Zeichnen nicht zu sträuben brauche, insofern niemand etwas an ihrer Zeichnung gelegen wäre.«

»Na – wenn sie das übel nimmt, dann muß sie eine dumme Gans sein! Manche Leute können es nicht vertragen, wenn man ihnen die kleinste Kleinigkeit sagt. Aber solch überempfindlicher Unsinn wird ihnen bald genug ausgebleut.«

»Haben Sie Schwestern, Herr Cashel Byron?«

»Nein. Warum?«

»Oder eine Mutter?«

»Eine Mutter, ja – aber ich habe sie schon seit Jahren nicht gesehen. Ich mache mir auch nicht sonderlich viel daraus, wenn ich sie nie zu sehen bekomme. Sie ist schuld daran, wenn das aus mir geworden ist, was ich jetzt bin.«

»Sie sind also mit Ihrem Beruf nicht zufrieden?«

»Nein – das habe ich damit nicht gemeint. Ich sage immer die albernsten Sachen.«

»Jawohl. Und es liegt an Ihrer Unkenntnis eines Geschlechtes, das daran gewöhnt ist, seine Albernheiten respektiert zu sehen. Es wird Ihnen schwer fallen, mit meiner Freundin ein gutes Einvernehmen herzustellen, wenn Sie in Zukunft sich nicht eine etwas genauere Kenntnis weiblichen Wesens aneignen.«

»Wenn's auf sie ankommt, so werde ich mein Unrecht nicht zugeben, solange ich nicht im Unrecht bin. Wahrheit bleibt Wahrheit!«

»Nicht einmal, um Miß Goff gefällig zu sein?«

»Nicht einmal, um Ihnen gefällig zu sein! Sie würden hinterher nur doppelt schlecht von mir denken.«

»Vollkommen wahr und vollkommen recht,« entgegnete Lydia mit unverhohlener Herzlichkeit. »Adieu, Mr. Cashel Byron – ich muß jetzt zu Miß Goff.«

»Ich denke mir, Sie werden sich schließlich doch auf ihre Seite stellen, wenn sie wegen meiner Worte eine Pieke auf mich behält.«

»Eine Pieke? Was ist das? Eine Art Groll?«

»Ja, etwas dergleichen.«

»Das ist wohl koloniale Ausdrucksform?« forschte Lydia mit der Miene eines Philologen weiter.

»Ja. Ich glaube, ich habe den Ausdruck so in den Kolonien aufgeschnappt.« Dann setzte er etwas reuevoll hinzu: »Ich denke mir, ich sollte in der Unterhaltung mit Ihnen keinen Dialekt gebrauchen. Ich bitte sehr um Entschuldigung.«

»Das stört mich gar nicht. Im Gegenteil, es interessiert mich. Zum Beispiel habe ich grade daran gemerkt, daß Sie in Australien gewesen sind?«

»Ja, ich war dort. Aber sind Sie mir auch nicht böse, weil ich Miß Goff geärgert habe?«

»Durchaus nicht. Ich fühle ihr ihren Ärger über die äußere Form Ihres Tadels nach, wenngleich ich ihren Unwillen über die Sache selbst nicht teile – das ist alles.«

»Ich kann aber beim besten Willen nicht herauskriegen, was denn eigentlich in meinen Worten enthalten sein soll, daß man solchen Krach deswegen machen kann. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir immer einen kleinen Rippenstoß geben wollten, sobald Sie merken, daß ich mich albern benehme. Dann halte ich gleich dicht und frage auch nicht mehr.«

»Wir wollen uns also dahin einigen, daß mein Rippenstoß folgendes bedeutet: Halten Sie dicht, Mr. Cashel Byron, Sie benehmen sich albern!«

»Stimmt ganz genau. Sie verstehen mich wenigstens. Habe ich's Ihnen nicht gleich gesagt?«

»Ich fürchte nur,« entgegnete Lydia mit einem herzlichen Lachen auf ihren Zügen, »daß ich die Überwachung Ihrer Manieren nicht übernehmen kann, ehe wir nicht etwas näher bekannt geworden sind.«

Er schien tief enttäuscht. Dann umwölkte sich seine Stirn und er sagte:

»Wenn Sie es für eine Zumutung halten …«

»Allerdings halte ich es für eine Zumutung,« unterbrach sie ihn neckisch. »Habe ich nicht genügend auf mein eigenes Benehmen aufzupassen? Wie sollte ich auch noch freiwillig die Sorge für einen so starken Mann und einen gelehrten Professor übernehmen?«

»Himmeldonnerwetter,« rief Cashel in plötzlicher Erregung, »Sie können mir sagen, was Sie wollen. Sie haben 'ne Art und Weise an sich, den Dingen ein besonderes Aussehen zu geben, daß es fast Vergnügen macht, sich von Ihnen über die Schnauze fahren zu lassen. Und wenn ich der Gentleman wäre, der ich sein müßte, und nicht ein armseliger Teufel von einem berufsmäßigen Box–« Er sammelte sich plötzlich und wurde ganz bleich. Eine Pause trat ein.

»Gestatten Sie, daß ich Sie an etwas erinnere,« meinte Lydia mit gemessener Ruhe, wenngleich sie beim Beginn seines Gefühlsausbruchs etwas erbleicht war. »Wir werden jetzt beide anderswo erwartet: ich von Miß Goff – und Sie von Ihrem Diener, der uns seit einigen Minuten umkreist und angsterfüllt zu Ihnen herübersieht.«

Cashel wandte sich wütend um und sah Mellish nicht weit entfernt am Wege stehen und ihn mit düsterer Miene betrachten. Lydia machte sich den Augenblick zunutze, um das Weite zu suchen. Während sie sich entfernte, konnte sie hören, wie die beiden mit lauter Stimme aneinander gerieten; doch vermochte sie ihre Worte nicht zu unterscheiden. Ein Umstand, der als glücklich bezeichnet werden darf: die Sprache, die sie führten, war gewöhnlich.

Lydia fand Alice in der Bibliothek; sie saß steif und aufrecht in einem Stuhl, der jeden gutgelaunten Menschen zum bequemen Zurücklehnen verführt hätte. Lydia nahm schweigend Platz. Als Alice zu ihr hinübersah, bemerkte sie, daß jene mit einem lautlosen Lachanfall kämpfte. Der Eindruck wirkte durch den Gegensatz zu Lydias gewohnheitsmäßiger Selbstbeherrschung so nachhaltig und eigenartig auf Alice, daß diese fast vergaß, die Beleidigte zu spielen.

»Ich bemerke mit Vergnügen, wie leicht es ist. Sie zu erheitern,« warf sie hin.

Lydia wartete, bis die andere sich wieder vollkommen gesammelt hatte, und antwortete dann:

»So habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gelacht! Seien Sie jetzt nett, Alice – legen Sie Ihren Ärger über die Unverschämtheit unseres Nachbarn etwas beiseite und sagen Sie mir, was Sie von ihm denken.«

»Ich habe nicht im geringsten über ihn nachgedacht. – ich versichere es Ihnen,« entgegnete Alice verächtlich.

»Dann denken Sie gefälligst, um mir entgegenzukommen, jetzt einen Augenblick über ihn nach und teilen Sie mir das Resultat dann mit.«

»Ich muß Ihnen wirklich sagen, daß Sie viel mehr Gelegenheit zum Beurteilen gehabt haben als ich. Wir beide haben ja kaum zwei Worte miteinander gewechselt.«

Lydia erhob sich mit geduldiger Gutmütigkeit und schritt zu einem der Bücherschränke hinüber. »Sie haben doch einen Vetter an einer Universität, nicht wahr?« fragte sie, während sie auf einem Regal nach einem Bande suchte.

»Gewiß, gewiß,« entgegnete Alice mit sehr liebenswürdiger süßlicher Stimme, um den Mangel an Freundlichkeit während des voraufgegangenen Gesprächs wieder gut zu machen.

»Dann wissen Sie vielleicht auch etwas über den Studentenjargon?«

»Mir gegenüber darf er niemals Jargon anwenden!« entgegnete Alice schnell.

»Sie können einem einzelnen Manne vielleicht eine bestimmte Sprechweise vorschreiben– aber niemals einer ganzen Universität,« meinte Lydia mit einer ruhigen, unausgesprochenen Mißachtung, die Alice unerwartet die Tränen in die Augen trieb. »Wissen Sie, was ein Box ist?«

»Ein Box?« wiederholte Alice gedankenlos. »Nein. Ich habe wohl im Zusammenhang mit Bulldoggen und Studentenhunden –«

»Ich werde doch lieber im Dialektlexikon nachsehen,« entgegnete Lydia, indem sie den Band herunternahm. »Hier steht es: Box – nach der Auffassung im Nahkampf sich messender Männer eine Zusammenziehung des Wortes ›Boxer‹. Welch sonderbare Definition! Die Auffassung von einer Zusammenziehung bei kämpfenden Männern! Warum sollte ein Mann, wenn er sich im Zweikampf mit einem andern mißt, auf besondere Gedanken über Zusammenziehungen verfallen? Vielleicht ist ›kämpfender Mann‹ auch ein Dialektausdruck. Nein – davon ist hier nirgends etwas angegeben. Entweder habe ich das Wort mißverstanden – oder es hat einen Sinn, der dem Zusammensteller meines Lexikons unbekannt ist.«

»Mir scheint es ganz klar,« meinte Alice. »Box bedeutet Pugilist.«

»Pugilistik ist aber Boxen – das bezeichnet keinen Beruf. Ich nehme an, alle Männer verstehen bei uns mehr oder weniger etwas vom Boxen. Ich brauche eine Bedeutung des Wortes, durch die es auf einen Beruf oder eine Beschäftigung bestimmter Art hinweist. Meiner Meinung nach bezeichnet es etwas wie einen anatomischen Prosektor. Im übrigen kommt es auch nicht so genau darauf an.«

»Wo ist Ihnen denn das Wort aufgefallen?«

»Herr Byron hat es soeben benutzt.«

»Finden Sie wirklich Gefallen an ihm?« fragte Alice; sie kam jetzt in etwas devoterer Form, als sie vorhin den Gesprächsstoff hatte fallen lasten, auf denselben Gegenstand zurück.

»Einstweilen mißfällt er mir nicht. Er beschäftigt mich. Falls sein ungehobeltes Wesen auf Affektiertheit beruht, so habe ich wenigstens noch keine derartig erfolgreich durchgeführte zu sehen bekommen.«

»Vielleicht versteht er's nicht besser. Mir ist seine Grobheit nicht als künstlich angenommen aufgefallen.«

»Bis auf einige Bemerkungen, die er vorgebracht hat, würde ich ganz mit Ihnen übereinstimmen. Seine Aussprüche zeigen einen Einblick in das wahre Wesen wissenschaftlicher Kenntnisse, ein instinktives Verständnis für die dem Wort zugrunde liegenden Tatsachen, wie ich es bis jetzt nur bei Menschen von beträchtlicher Bildung und Erfahrung angetroffen habe. Meiner Auffassung nach ist sein Gebaren mit Vorbedacht angeeignet – und zwar als eine Art Protest gegen die selbstsüchtige Eitelkeit, die als Ursprung aller gesellschaftlichen Politur gelten kann. Zum Teil ist es auch angeboren – daran zweifle ich nicht. Nur scheint er mir zu ungeduldig und impulsiv, um seine Worte erst mit viel Umsicht auszuwählen. Gehen Sie zuweilen ins Theater?«

»Nein,« entgegnete Alice mit offenkundigem Staunen über die Zusammenhanglosigkeit dieser Frage. »Mein Vater war nicht fürs Theater. Einmal bin ich allerdings im Theater gewesen. Da habe ich ›The Lady of Lyons‹ [Melodram von E. Bulwer-Lytton] gesehen.«

»Es gibt eine berühmte Schauspielerin – Adelaide Gisborne –«

»Gerade die habe ich in diesem Stück gesehen. Sie hat wunderbar gespielt.«

»Hat Herr Byron Sie vielleicht an sie erinnert?«

Alice sah ungläubig zu Lydia hinüber: »Ich kann mir auf der ganzen Welt nicht zwei Menschen denken, die einander unähnlicher wären.«

»Ich auch nicht,« entgegnete Lydia nachdenklich. »Ich neige zu der Annahme, daß diese Unähnlichkeit ihre emphatische Nachdrücklichkeit irgendeiner latenten Übereinstimmung verdankt. Wie sollte er mich denn sonst an sie erinnert haben?« Lydia saß, während sie sprach, mit einem verstörten Gesichtsausdruck da, als ob sie versuchte, ihre Gedanken zu entwirren. »Und doch,« fügte sie sogleich hinzu, »meine theatralischen Gedanken sind so verwirrt, daß –«

Jetzt trat eine längere Pause ein, im Verlaufe deren Alice sich bei ihrer Gönnerin einer inneren Wandlung deutlich bewußt wurde und voll Erwartung der Dinge harrte, die nun kommen sollten.

»Alice!«

»Ja?«

»Meine Gedanken laufen gegen meinen Willen hinter Belanglosigkeiten und unangenehmen Dingen her – ein untrügliches Symptom verminderten geistigen Wohlbefindens. Mein Aufenthalt hier ist nur einer der zahlreichen Versuche mäßiger Lebensweise, die ich seit meines Vaters Tode angestellt habe. Sie sind sämtlich mißlungen. Arbeit ist mir ein Daseinsbedürfnis. Ich gehe morgen nach London.«

Alice schaute bestürzt auf, denn diese Ankündigung kam ihrer Entlassung gleich. Auf ihren Zügen malte sich lediglich höfliche Gleichgültigkeit.

»Wir haben bis Juni Zeit, alle Tollheiten der Saison auszukosten. Dann hoffe ich hierher zurückzukehren und ein Buch in Angriff zu nehmen, mit dessen Plan ich mich schon lange trage. In London muß ich Material dazu sammeln. Sollte ich der Stadt vor Ende der Saison den Rücken kehren, so kann ich, falls Sie dann keine Lust verspüren, mit mir aufs Land zu gehen, leicht jemand finden, der sich Ihrer annimmt, so lange es Ihnen in London zu bleiben beliebt. Ach, ich wollte, es wäre nur schon Juni!«

Alice zog Lydias echt weibliche Ungeduld ihrer fatalistischen Ruhe vor. Sie empfand sie als eine Art Erleichterung für ihr Bewußtsein der Minderwertigkeit, das im intimen Verkehr eher zugenommen hatte, als daß es abgeschwächt worden wäre. Indes begann sie sich nicht ohne Erfolg davon zu überzeugen, daß die Untadelhaftigkeit im Benehmen der Miß Carew zum mindesten fragwürdig sei. An diesem Vormittage hatte Lydia sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, einen Mann nach der Art seines Berufs auszufragen; und was dies anbetraf, so beglückwünschte Alice sich, zu einem derartigen Vorgehen doch wahrlich bei weitem zu gut erzogen zu sein. Der Ehrfurcht vor der Dienerschaft war sie mittlerweile längst völlig verlustig gegangen; sie redete sie jetzt mit unbewußter Hoheit und bewußter Höflichkeit an, was dazu diente, das Wort ›Emporkömmling‹ an der Dienstbotentafel zu einem recht häufigen zu machen. Bashville, der Diener, hatte sogar durch die Erörterung, daß Miß Goff ein famoses Mädel wäre, seine Popularität auf eine harte Probe gestellt.

Bashville stand in seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre und volle fünf Fuß zehn Zoll in seinen Schuhen. In der Schenke zum ›Grünen Mann‹ im Dorfe war er bekannt wegen seiner fließenden Beredsamkeit und seiner Schlagfertigkeit bei politischen Debatten.

Unter dem Stallpersonal galt er für eine Autorität in Sportangelegenheiten und einen vollendeten Athleten der cornischen Methode. Die weiblichen Dienstboten sahen mit unverhohlener Bewunderung zu ihm auf. Sie wetteiferten untereinander in der Erfindung neuer Ausdrucksformen des Entzückens, wenn er ihnen etwas vortrug – ein Umstand, der infolge seines guten Gedächtnisses und seiner Liebe zur Dichtkunst des öfteren eintrat. Ein Ausgang in seiner Begleitung erfüllte sie mit höchstem Stolz. Doch gaben seine Aufmerksamkeiten niemals Anlaß zur Eifersucht; denn es galt im Gesindezimmer für ein offenes Geheimnis, daß er seine Herrin liebte. Zwar hatte er niemals eine Äußerung dieses Sinnes fallen lassen; noch wagte irgend jemand in seiner Gegenwart eine Anspielung solchen Inhalts, geschweige denn einen Scherz über diese seine Schwäche – und doch war seine Leidenschaft trotz alledem zur Genüge bekannt und sie schien dem jüngeren Teil der häuslichen Angestellten bei weitem nicht so hoffnungslos wie dem Koch, dem Haushofmeister und Herrn Bashville selbst. Miß Carew, die den Wert guter Dienstboten wohl kannte, schätzte die Tüchtigkeit ihres Dieners sehr hoch und bezahlte ihn auch dementsprechend; doch hatte sie keine Ahnung davon, daß ihr von einem vielseitigen, des Studiums der Dichtkunst und der öffentlichen Angelegenheiten beflissenen jungen Mann aufgewartet wurde, der auf Grund seiner galanten Ritterlichkeit, seiner persönlichen Kühnheit, seiner Redekunst und seines weitgehenden Einflusses auf die Lokalpolitik eine hervorragende Stellung einnahm.

Dieser Bashville also war es, der jetzt mit einem Tablett in der Hand die Bibliothek betrat und, indem er es Alice hinhielt, folgende Worte sagte: »Der Herr wartet im runden Empfangssalon, Miß.«

Alice nahm die Karte des Herrn und las: Mr. Wallace Parker.

»Oh!« rief sie mit einigem Unwillen und einem Seitenblick auf Bashville, als ob sie den Eindruck, den der Besucher bei diesem hervorgerufen, erforschen wollte. »Mein Vetter – derselbe, von dem wir gerade gesprochen haben!«

»Das trifft sich gut!« meinte Lydia. »Er kann mir die Bedeutung von ›Box‹ erklären. Fordern Sie ihn doch zum Frühstück auf.«

»Sie würden nicht viel Gefallen an ihm finden,« entgegnete Alice. »Er ist an gesellschaftliche Umgangsformen nicht sonderlich gewöhnt. Ich glaube, es ist besser, ich fertige ihn gleich ab.«

Miß Carew antwortete nicht, da sie schlechterdings nicht zu begreifen vermochte, inwiefern über die Frühstücksangelegenheit überhaupt noch irgend welcher Zweifel obwalten konnte. Alice aber begab sich in den runden Empfangssalon, woselbst sie Mr. Parker damit beschäftigt fand eine indische Waffentrophäe zu betrachten und ihr die rückwärtige Ansicht eines untersetzten Herrn in einem flotten blauen Gehrock darzubieten. Desgleichen wurden ein neuer Hut und ein ebensolches Paar Handschuhe sichtbar, insofern er diese Gegenstände beim Aufwärtsschauen rücklings in den Händen hielt. Als er sich Alicen zur Begrüßung zuwandte, zeigten seine Züge ein ausdrucksvolles Maß entschlossenen Selbstbewußtseins, und der wässerige Glanz seiner Augen sprach gemeinsam mit der Kahlheit der Schläfen, an denen das Haar sich bereits lichtete, von spät durchwachten Nachtstunden und von sehr arbeitsbeflissenen oder sehr ausschweifenden Lebensgewohnheiten.

Er schritt unbeirrt auf sie zu, hielt ihre Hand einige Sekunden lang mit einem zutunlichen Druck in der seinen und rückte ihr einen Stuhl zurecht – ohne die augenfällige Kühle, mit der sie seine Aufmerksamkeiten hinnahm, gewahr zu werden.

»Ich war erstaunt, Alice,« sagte er, sobald er ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Als ich von Tante Emily erfuhr, daß du dich hier niedergelassen hättest – ohne mich vorher um Rat zu fragen. Ich –«

»Ohne dich um Rat zu fragen!« unterbrach sie mit mißfälliger Herablassung. »Das ist ja geradezu unerhört! Warum sollte ich dich bei meinen Entschließungen um Rat befragen?«

»Meinetwegen also! Das Wort ›Rat‹ hätte ich vielleicht besser nicht in Anwendung gebracht – besonders nicht bei einer so selbständigen kleinen Dame wie unsere süße Alice Goff. Indes meine ich, du hättest mich wenigstens der äußeren Form halber von deinem beabsichtigten Schritt in Kenntnis setzen können. Die Beziehungen, die doch nun einmal zwischen uns bestehen, geben mir ein gewisses Recht auf dein Vertrauen.«

»Was für Beziehungen, wenn ich bitten darf?«

»Was für Beziehungen?« wiederholte er mit vorwurfsvollem Nachdruck.

»Jawohl! Was für Beziehungen?«

Er erhob sich und redete jetzt mit zärtlicher Feierlichkeit auf sie ein. »Alice,« begann er, »ich habe dir bereits sechsmal einen Antrag –«

»Habe ich ihn vielleicht ein einziges Mal angenommen?«

»Laß mich ausreden, Alice! Ich weiß, daß du dich nie ausdrücklich mit mir verlobt hast; dafür galt es aber stets für ein stillschweigendes Übereinkommen, daß meine dürftige Lage das einzige Hindernis zu unserm Glück bildete. Wir – bitte, Alice, unterbrich mich nicht: du hast keine Ahnung, was jetzt kommt. Dies Hindernis ist nicht mehr vorhanden! Ich bin am Sunbury College zum Unterdirektor ernannt worden – mit dreihundertfünfzig Pfund jährlich, freier Wohnung, Heizung und Licht. Im Laufe der Zeit werde ich sicherlich zum Oberdirektorposten aufrücken – einer glänzenden Stellung, die eintausendsechshundert Pfund im Jahre einträgt. Du bist nunmehr von allen Sorgen befreit, die dich seit deines Vaters Tode bedrückt haben. Du kannst unverzüglich – jetzt – augenblicklich deine abhängige Stellung aufgeben.«

»Ich danke bestens – ich fühle mich hier sehr wohl. Ich bin bei Miß Carew zu Besuch.«

Während des Schweigens, das jetzt eintrat, nahm er zögernd Platz.

»Ich freue mich über alle Maßen,« fügte sie dann hinzu, »daß du endlich etwas Passendes gefunden hast. Für deine arme Mutter muß es eine große Beruhigung sein.«

»Ich dachte mir, Alice, – vielleicht habe ich's mir auch nur eingebildet – es machte mir den Eindruck, als ob deine Mutter heute morgen in ihrem Benehmen etwas kühler als sonst gewesen wäre. Hoffentlich besitzt der Luxus dieser schloßartigen Baulichkeit nicht die Macht einer verderblichen Einwirkung auf dein Herz und dein Gemüt. Allerdings kann ich dich nicht in ein Schloß geleiten, noch einen Haufen livreegeschmückter Dienstboten deinem Ruf und Wink zur Verfügung stellen; ich vermag dich aber zur Herrin eines ehrenwerten englischen Haushalts und von der Güte fremder Menschen unabhängig zu machen. Mehr als eine Dame kannst du doch schlechterdings nie sein oder werden, Alice.«

»Deine Predigt ist sicherlich sehr wohlgemeint.«

»Du könntest dich mir gegenüber jetzt schon einigen Ernstes befleißigen,« meinte er, indem er sich unwillig erhob und etwas abseits ins Zimmer hineinschritt. »Ich denke, wenn ein Mann seine Hand anträgt, so könnte ein solches Anerbieten doch wohl mit einem gewissen Respekt ausgenommen werden.«

»Ach so! Dann habe ich wohl nicht ganz recht verstanden. Ich huldigte der Ansicht, wir wären dahin übereingekommen, daß du mir nicht bei jedwedem Zusammensein ein Anerbieten dieser Art machen solltest?«

»Wir waren aber gleichermaßen übereingekommen, daß die Frage nur hinausgeschoben wäre, bis ich mich allenfalls in der Lage befände, sie, ohne dich damit zu einer längeren Verlobungszeit zu verpflichten, mit begründeter Aussicht wieder in den Vordergrund zu rücken. Dieser Zeitpunkt ist nunmehr eingetreten – und ich erwarte jetzt endlich eine zustimmende Antwort. Angesichts der Geduld, mit der ich daraus geharrt habe, glaube ich sie in gewissem Sinne beanspruchen zu dürfen.«

»Soweit ich in Frage komme, Wallace, halte ich es für dich nicht für sehr angebracht, mit lediglich dreihundertfünfzig Pfund das Jahr eine Ehe einzugehen.«

»Bedenke doch – mit freier Wohnung, Heizung und Gas! Du wirst merkwürdig vorsichtig, seitdem du hier mit dem Fräulein Soundso zusammen hausest. Ich fürchte fast, du liebst mich nicht mehr, Alice?«

»Ich habe niemals gesagt, daß ich dich zu irgendeiner Zeit geliebt hätte.«

»Unsinn! Du hast es niemals gesagt – das ist wohl möglich. Du hast mir aber stets zu verstehen gegeben –«

»Ich habe nichts dergleichen getan, Wallace! Und ich muß dich bitten, so etwas auch nicht zu behaupten.«

»Kurz und gut also,« erwiderte er mit Bitterkeit. »Du meinst, du wirst dir hier irgendeinen feinen Kerl aufgabeln, mit dem du ein besseres Geschäft machst, als mit mir.«

»Wallace! Wie kannst du dir das erlauben!«

»Du beleidigst meine heiligsten Gefühle, Alice – und ich spreche frei von der Leber weg. Ich weiß mich ebenso gut zu benehmen, wie all die Leute, die hier hoffähig sind. Wenn aber mein ganzes Lebensglück auf dem Spiel steht, dann kann ich mich mit übertriebenen Förmlichkeiten nicht abgeben. Ich muß daher auf eine ehrliche Beantwortung meines aufrichtigen, ehrenhaften Antrags bestehen.«

»Mein lieber Wallace,« erwiderte Alice würdevoll, »ich wünsche nicht in die Zwangslage versetzt zu werden, gegen meinen freien Willen eine Antwort erteilen zu müssen. Ich betrachte dich als meinen Vetter.«

»Ich will nicht als Vetter betrachtet werden! Habe ich dich jemals wie meine Cousine angesehen?«

»Bildest du dir denn wirklich ein, Wallace, ich würde dir gestatten, mich beim Vornamen zu nennen und so intim mit mir umzugehen, wie wir es stets gewesen sind – wenn du nicht mein Vetter wärest? Wenn es tatsächlich der Fall ist, so mußt du eine eigenartige Meinung von mir haben.«

»Ich hätte niemals gedacht, daß der Luxus derartig verderblich –«

»Etwas Ähnliches hast du bereits vorhin angedeutet,« meinte Alice schnippisch. »Wenn du nur nicht immer dieselben Sachen wiederkäuen wolltest! Du weißt doch, daß dies eine deiner schlechten Angewohnheiten ist. Willst du nicht zum Frühstück bleiben? Miß Carew hat mich gebeten, dich aufzufordern.«

»Was du sagst! Miß Carew ist wirklich äußerst liebenswürdig. Würdest du vielleicht die große Güte haben, sie davon in Kenntnis zu setzen, daß ich mich tief geehrt fühle und ganz außer mir bin, diese Vergünstigung nicht annehmen zu können?« Alice brachte ihr Köpfchen in eine möglichst verachtungsvolle Pose. »Du findest offenbar Gefallen daran, dich albern und lächerlich zu benehmen,« sagte sie. »Ich kann aber mit dem besten Willen keinen Grund dazu erkennen.«

»Es tut mir sehr leid, daß meine Art, mich zu benehmen, für dich nicht gut genug ist. Solange deine Umgebung weniger aristokratisch war, hattest du – so viel ich weiß – in dieser Hinsicht keinen Anlaß zur Klage. Ich schäme mich schon ordentlich, dir soviel von deiner kostbaren Zeit zu rauben. Guten Morgen!«

»Guten Morgen. Ich begreife aber wirklich nicht, warum du so wütend bist.«

»Ich bin gar nicht wütend. Ich erkenne nur mit Betrübnis, daß du vom Luxus bereits verdorben bist. Bisher hielt ich deine Grundsätze für etwas höherstehend. Guten Morgen, Miß Goff. Ich werde wohl kaum das Vergnügen haben, Sie in diesem vornehmen Wohnsitz noch einmal zu begrüßen.«

»Du willst also wirklich gehen, Wallace?« fragte Alice sich erhebend.

»Allerdings. Wozu sollte ich denn auch bleiben?«

Zu seiner großen Enttäuschung setzte sie die Klingel in Bewegung. Eigentlich hatte er gehofft, sie würde ihn zurückhalten und eine Versöhnung anbahnen. Bevor sie noch ein weiteres Wort wechseln konnten, trat Bashville in die Tür.

»Guten Tag,« sagte Alice, sich höflich verabschiedend.

»Guten Tag,« wiederholte Parker durch die Zähne. Er schritt mit deutlicher Mißachtung an Bashville vorbei und dann hoheitsvoll hinaus.

Er hatte dem Hause bereits den Rücken gewandt und stieg gerade die Stufen der Terrasse hinunter, als ihn der Diener einholte und mit höflicher Dienstfertigkeit anredete:

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, gnädiger Herr. Ich glaube, Sie haben etwas vergessen.« Bei diesen Worten händigte er ihm einen Spazierstock ein.

Parkers erster Gedanke war, daß sein Stock, infolge der etwas minderwertigen Rolle, die er in der Eingangshalle des Schlosses spielte, Bashvilles Aufmerksamkeit auf sich gelenkt habe, und daß der Diener ihn jetzt mit verkapptem Hochmut zur Entfernung seines Besitztums aufforderte. Nach einiger Überlegung aber wies er diese Vermutung als allzu erniedrigend von sich; indes entschloß er sich, Bashville zu Gemüte zu führen, daß er es mit einem Gentleman zu tun hätte. Demzufolge nahm er den Stock und händigte dem Diener, statt seinen Dank zum Ausdruck zu bringen, fünf Schilling ein.

Bashville schüttelte lächelnd das Haupt. »Oh nein, mein Herr,« sagte er. »Nichtsdestoweniger – meinen besten Dank. Aber das war denn doch nicht meine Absicht.«

»Dann sind Sie ein um so größerer Hanswurst,« erwiderte Parker, indem er das Geld in die Tasche schob und sich zum Gehen wendete.

Bashvilles ganzes Wesen änderte sich plötzlich. »Nur nicht so hitzig, mein Herr,« meinte er, während er Parker bis zum untern Treppenabsatz folgte. »Auf ein offenes Wort gehört eine offene Antwort. Ich bin nicht mehr ein Hanswurst als Sie selbst. Ein feiner Herr sollte seine Stellung ebensogut kennen wie ein Bedienter.«

»Ach, scheren Sie sich zum Teufel!« murmelte Parker über und über errötend und mit dem Bestreben, eilig das Weite zu suchen.

Bashville sandte ihm einen drohenden Blick nach und sagte: »Wären Sie hier nicht als Gast meiner Herrin – ich würde Sie dafür, daß Sie mich zum Teufel schicken, auf eine Woche in Ihr Bett schicken!«


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