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Zehntes Kapitel.

Mrs. Byron oder – wie sie mit ihrem Bühnennamen hieß – Adelaide Gisborne machte damals zum zweiten Male während ihrer Theaterlaufbahn viel von sich in London reden, nachdem sie jahrelang eigentlich völlig in Vergessenheit geraten war. Die hauptstädtischen Direktoren ihrer Generation waren zur Erkenntnis gelangt, daß ihr Erfolg in neuen Rollen sehr unzuverlässiger Art schien – daß sie sich launenhafter erwies als die verzogensten Lieblinge des Publikums – daß sie auf geschäftliche Vorschläge unweigerlich eine abschlägige Antwort hervorholte, derzufolge sie die Bühne verabscheute und fest entschlossen war, nie wieder den Fuß auf die Bretter zu setzen. Die Theaterunternehmer wurden nunmehr eine so lange Zeit hindurch auch ohne sie fertig, daß die jüngeren Londoner Bühnenliebhaber sie nur dem Namen nach als eine veraltete Schauspielerin kannten, die die Provinzen durchzog, sich vor der unwissenden Einwohnerschaft als große Künstlerin ausgab und sie mit Darstellungen Shakespearescher Stücke langweilte.

Es sagte Mrs. Byron sehr zu, mit dem Kometenschweif eines dramatischen Ensembles von Stadt zu Stadt zu reisen, eine oder zwei Wochen in jeder zu verweilen und ein halbes Dutzend Rollen zu wiederholen, die ihr sehr gut lagen und die sie derartig genau kannte, daß sie nie daran dachte, wenn sie irgend etwas anderes zu denken fand. Die Bevölkerung der meisten Provinzstädte begrüßte ihren alljährlichen Besuch mit wahrem Enthusiasmus. Dort genoß sie weit öfter den anregenden Reiz des Applauses vor der Gardine, ihre Autorität fand ein despotischeres Betätigungsfeld hinter dem Vorhang, ihre Unkosten erwiesen sich als geringer und ihre Einnahmen als beträchtlicher denn in London – einer Stadt, für die sie demzufolge ebenso wenig übrig hatte, wie London für sie.

Mit zunehmendem Alter verdiente sie mehr Geld und verausgabte weniger. Damals, als sie sich bei Cashel über die Kosten seiner Erziehung beklagte, war sie bereits reich. Seitdem die Last dieser Kosten von ihr genommen war, hatte sie Amerika, Ägypten, Indien und die Kolonien besucht und ihren Reichtum ununterbrochen vergrößert. Von dieser umfangreichen Tournee war sie gerade an dem Tage nach England zurückgekehrt, als Cashel die Lorbeeren des fliegenden Holländers seinen Siegestrophäen hinzufügte; die nächsten Sonntagsblätter erfüllten ihre sportlichen Spalten mit Cashel Byrons Heldentaten und den der Bühne gewidmeten Teil mit Adelaide Gisbornes genialem Talent. Doch pflegte sie Sportberichte niemals zu lesen, während sie die Theaterfeuilletons scharf im Auge zu behalten gewohnt war.

Die Direktoren, die Mrs. Byrons Mitarbeiterschaft ehedem umgangen hatten, waren mittlerweile gestorben, bankerott oder mit weniger unsicheren Unternehmungen beschäftigt. Einer ihrer Nachfolger, der gleichzeitig als Darsteller und Direktor wirkte, hatte vor kurzem Shakespeare ebenso nachhaltig zu neuer Popularität erweckt, wie Cashel dem Ring eine erneute Blütezeit geschenkt hatte. Da er sehnlichst den ›König Johann‹ herauszubringen wünschte, machte er der unlängst zurückgekehrten Schauspielerin ein schmeichelhaftes Angebot für die Rolle der Constance und stachelte gleichzeitig einige befreundete Journalisten an, den Verfall der hohen dramatischen Kunst zu bewehklagen und einige Anekdoten über die unvergleichliche Mrs. Gisborne aufzuwärmen, beziehungsweise neu zu erfinden.

Diesmal äußerte Mrs. Byron keinerlei Abscheu vor der Bühne. Offen gesagt – sie hatte sie wirklich zuzeiten ehrlich verabscheut; je mehr sie jedoch durch ihren Reichtum in die Lage versetzt worden war, dem Theater Lebewohl sagen zu können, desto ausgiebiger verflüchtigte sich diese ihre Empfindung der Abneigung; zudem war ihr das Komödiespielen derartig zur Gewohnheit geworden, daß ein Brechen damit für sie allmählich ebenso beschwerlich wurde, als die Entäußerung irgendeiner sonstigen Gewöhnung. Auch erfüllte es sie mit einer gewissen Befriedigung, ohne allzu große Anstrengung und mit begründeter Sicherheit Geld zu verdienen; hatte sie doch bereits soviel verdient, daß sie mit allerhand Plänen zu liebäugeln begann – mit dem endgültigen Abschluß ihrer Bühnenlaufbahn, mit einem Auftreten in Paris, mit der Übernahme eines Londoner Theaters und sonstigen Marotten. Der Hauptruhm ihrer Jugendjahre hatte stets in einer Art von Triumph über London bestanden, der ihr jeweiliges erstes Auftreten an einer beliebigen Bühne begleitete; sie empfand nunmehr eine gewisse Neigung, dies noch einmal zu wiederholen und ihre Laufbahn dort zu krönen, wo sie begonnen hatte. Infolgedessen nahm sie das Angebot des Direktors an und ging sogar soweit, den ›König Johann‹ privatim von Anfang bis zu Ende durchzulesen. –

Eine der seltsamsten Urkunden aus diesem Zeitalter bestand in einem Pergamentabschnitt, der ein Fragment der Chronik des Prinzen Arthur mit einem kolorierten Bildnis seiner Mutter enthielt. Das Dokument war vom verstorbenen Herrn Carew für eine geringfügige Summe erworben worden und befand sich nunmehr in Lydias Besitz, an die sich der darstellende Direktor mit der Bitte um die Erlaubnis einer Einsicht wandte. Da seinem Wunsche bereitwilligst Folge gegeben wurde, stattete er dem Hause in Regents Park einen Besuch ab, und erklärte es für einen unerschöpflichen Sammelplatz der kostbarsten Schätze. Er bedauerte aufs tiefste, Fräulein Gisborne das Bildnis nicht zeigen zu können. Lydia entgegnete, daß ihr Fräulein Gisborne sehr willkommen wäre, falls sie sie aufsuchen und das Konterfei in Augenschein nehmen wolle.

Zwei Tage später stellte sich Mrs. Byron ein und fand Lydia allein zu Hause. – Alice war ausgegangen, da sie es vorzog, ein Zusammentreffen mit einer Schauspielerin zu vermeiden: man konnte ja nie wissen, was sie früher einmal gewesen war.

Die Jahre, die seit Mrs. Byrons Besuch bei Doktor Moncrief ins Land gegangen waren, hatten auf ihren Zügen keine Spuren zurückgelassen. Sie sah jetzt sogar jünger aus als damals, weil sie sich der Mühe unterzogen hatte, ihrem Teint künstlich etwas nachzuhelfen. Die ungewollte Verfeinerung ihres ganzen Wesens stach in so deutlicher Form von der gezwungenen Würde und der ängstlichen Höflichkeit des darstellenden Direktors ab, daß Lydia sie beide kaum als zur gleichen Berufsklasse gehörig betrachten konnte. Der Tonfall ihrer Stimme war nicht der der Bühne, denn er verlieh der abgeschmacktesten ihrer Bemerkungen einen eigenartigen Reiz; dabei war die Art ihrer Sprache von Cashels rauher Sprechweise so verschieden wie nur irgend möglich. Und doch drängte sich Lydia schon bei den ersten Worten die Überzeugung auf, daß sie Cashels Mutter vor sich hatte. Zudem besaßen sie beide genau dasselbe Kinn.

Mrs. Byron ging ohne Umschweife auf ihr Ziel los und bat, das Bild betrachten zu dürfen. Lydia führte ihre Besucherin ins Bibliothekzimmer, wo mehrere Mappen bereit lagen. Das kostbare Pergament befand sich zu oberst.

»Wirklich sehr interessant,« meinte Mrs. Byron, indem sie es nach einem flüchtigen Blick beiseite warf und einige neuere Stiche umblätterte, während Lydia schweigend und belustigt zusah. »Ah!« rief sie dann plötzlich. »Hier ist etwas, was mir genau paßt. Ich will Sie nicht belästigen, indem ich die ganze Kollektion durchsehe, danke sehr. Ich will mir die Robe in violetter Seide machen lassen. Was ist Ihre Meinung darüber, Miß Carew? Ich habe ein- oder zweimal bemerkt, daß Sie einen außerordentlich feinen Geschmack haben.«

»Für welche Rolle gebrauchen Sie die Robe?«

»Constance in König Johann.«

»Aber man hat doch im westlichen Europa erst dreihundert Jahre nach Constances Tode Seide zu bearbeiten begonnen. Dies Blatt ist eine Kopie der Maria von Medici von Rubens.«

»Das schadet nichts,« erwiderte Mrs. Byron begütigend. »Was macht es aus, wenn ein Kleid dreihundert Jahre aus der Zeit ist, sobald die Person, die darinnen steckt, um volle siebenhundert Jahre aus der Zeitrechnung fällt? Kann man sich denn einen schlimmeren Anachronismus denken, als den vor rund drei Monaten auf der Bühne des Panoptikon-Theaters erfolgten Tod des Prinzen Arthur? Meiner Ansicht nach bin ich eine Künstlerin, die Charakteren dichterischer Fiktion Leben verleiht, – nicht aber ein Kind der reiferen Jugend, das sich zu seiner Unterhaltung einbildet, eine Person aus einer gemeinverständlichen ›Geschichte Englands‹ zu sein. Ich trage, was mir gut steht. Wenn ich mich schlampig fühle, kann ich nicht spielen.«

»Was wird aber der Direktor dazu sagen?«

»Ich glaube nicht, daß er etwas sagen wird. Er wird sich schwerlich erdreisten, mir etwas, was nach diesem alten Stich nachgebildet ist, aufzudrängen. Da er ferner eine augenfällig erst kürzlich in Birmingham fabrizierte Rüstung tragen wird, so – na!« Sie zuckte verächtlich die Achseln und brachte der Meinung des Direktors offenbar nicht genügend Interesse entgegen, um ihren Satz zu Ende zu sprechen.

»Übrigens glaube ich, daß Shakespeare selbst sich sehr wenig für diese Sachen interessiert hat,« sagte Lydia plaudernd.

»Zweifellos, ich lese ihn selten.«

»Ist die Lady Constance eine Ihrer Lieblingsrollen?«

»Anstrengend, meine Liebe,« meinte Adelaide Gisborne zerstreut. »Die Männer sahen einfach lächerlich darin aus. Außerdem zieht sie auch nicht besonders.«

»Das glaube ich selbst,« bestätigte Lydia mit einem prüfenden Blick auf ihre Züge. »Ich dachte aber mehr an die persönlichen Empfindungen, die Sie der Rolle entgegenbringen. Stellen Sie beispielsweise gern die Mutterliebe auf der Bühne dar?«

»Mutterliebe?« wiederholte Mrs. Byron mit plötzlicher edler Vornehmheit. »Mutterliebe ist etwas viel zu Heiliges, um gemimt zu werden. Haben Sie Kinder?«

»Nein,« erwiderte Lydia etwas spröde. »Ich bin nicht verheiratet.«

»Natürlich nicht. Sie sollten sich verheiraten: das würde Ihnen guttun, physisch und moralisch. Mutterschaft ist eine Erziehung in sich selbst.«

»Meinen Sie, daß jede Frau sich dazu eignet?«

»Zweifellos! Jede, ohne Ausnahme. Bedenken Sie doch nur, liebe Miß Carew, die unendliche Geduld, mit der Sie ein Kind betreuen müssen – die Notwendigkeit, gleichzeitig mit seinen kleinen und Ihren eigenen klügeren Augen um sich zu blicken – ohne Groll die tausenderlei Nadelstiche hinzunehmen, mit denen es Sie in seiner Unschuld trifft – ihm seine hundert kleinen Eigennützigkeiten zu verzeihen – in unaufhörlicher Furcht zu leben, daß Sie seine übergroße zartfühlende Empfänglichkeit verwunden oder Bitterkeit und Unwillen über Ungerechtigkeit und Laune in ihm erwecken. Bedenken Sie, wie Sie sich überwachen und im Zaume halten, alles in sich üben und entwickeln müssen, was dazu beitragen kann, die neidischste und eifersüchtigste aller Lieben an sich zu ziehen und zu halten! Glauben Sie mir, es ist eine unschätzbare Prüfung, Mutter zu sein. Sie ist das königliche Entgelt dafür, daß wir als Frauen geboren werden.«

»Und doch wäre ich lieber als Mann geboren,« entgegnete Lydia. »Da Sie aber über diesen Gegenstand so eingehend nachgedacht zu haben scheinen, möchte ich wohl eine Frage an Sie richten. Sind Sie nicht der Ansicht, daß die Aneignung einer Kunst, die Jahre sorgfältigen Studiums und andauernder Übung erfordert – beispielsweise einer Kunst wie die Ihre – ebenfalls einen großen erzieherischen Wert besitzt? Beinahe doch eine ausreichende Lehre, um jemand zu einer guten Mutter zu machen?«

»Kein Gedanke!« erwiderte Mrs. Byron mit Entschiedenheit. »Die Menschen kommen fix und fertig auf die Welt. Ich bin mit achtzehn Jahren zur Bühne gegangen und hatte gleich Erfolg. Hätte ich irgend etwas von der Welt gewußt oder nur vier Jahre mehr hinter mir gehabt, ich wäre schwächlich, linkisch, furchtsam und matt gewesen. Zwölf Jahre hätte ich gebraucht, um mich in die ersten Reihen durchzukrabbeln. Ich aber war jung, leidenschaftlich, hübsch und – ich muß es gestehen – sehr schlecht und rücksichtslos; denn ich war zwei Jahre vorher von zu Hause fortgelaufen und grausam betrogen worden. Das Bühnenhandwerk lernte ich so leicht und gedankenlos wie ein Kind sein Gebet lernt: der Rest kam mir sozusagen natürlich angeflogen. Ich habe andere Jahre hindurch im Kampfe mit ungenügenden Stimmmitteln, klobigen Figuren und Mangel an Selbstbewußtsein gesehen – und mit einem Dutzend anderer Defekte, die nur in ihrer Einbildung vorhanden waren. Diese Kämpfe mögen sie wohl erzogen haben; hätten sie aber genügend Talent besessen, ihnen wäre Kampf und Erziehung erspart geblieben. Vielleicht sind deshalb die Talente so exzentrisch, und die Durchschnittsmenschen so respektabel. Ich versichere Ihnen, ich war sehr einseitig, als ich zuerst herauskam: für die Komödie erwies ich mich als völlig unfähig. Doch habe ich mir darüber niemals den Kopf zerbrochen. Allmählich, als ich etwas reifer wurde und die Absurdität der meisten Dinge erkannte, von denen ich früher soviel Aufhebens gemacht hatte – da kam mir auch die Komödie ungesucht angeflogen, wie es vorher mit der romantischen Tragödie der Fall gewesen war. Ich glaube, es wäre alles genau ebenso gekommen, wenn ich mich bemüht hätte, mir es anzueignen – nur daß ich das endgültige Kommen auf Rechnung meiner eigenen Arbeit gesetzt haben würde. Die meisten fleißigen Menschen glauben, sich zu dem gemacht zu haben, was sie sind – fast so, als ob ein Kind sich einbilden wollte, etwas zu seinem Wachstum beizutragen.«

»Sie sind von allen Künstlern die erste, die für die Kunst nicht das Zeugnis der beschwerlichsten aller Berufsarten in Anspruch genommen hätte. Sie leugnen sämtlich das Vorhandensein des Genies und messen alles der Arbeit bei.«

»Gewiß – man sammelt auch viel aus der Erfahrung auf; und an Arbeit ist auf der Bühne kein Mangel. Aber gerade mein Talent ist es, das mich zum Aufsammeln befähigt und mich in die Lage versetzt, auf der Bühne zu arbeiten, statt in einer Küche oder Wäscherei.«

»Sie hängen gewiß sehr an Ihrem Beruf.«

»Jetzt ist er mir nicht mehr zuwider: ich habe mich eben angepaßt, um mich hineinzufinden. Angefangen habe ich ihn, weil ich mir nicht anders helfen konnte; und ich bleibe jetzt dabei, weil ich nach und nach eine alte Frau werde und sonst nichts zu tun habe. Großer Gott, wie habe ich das alles nach dem ersten Monat gehaßt! Jetzt muß ich bald daran denken, mich von der Bühne zurückzuziehen. Die Leute werden meiner müde.«

»Daran wage ich zu zweifeln. Ich muß mich gezwungenerweise wohl dazu verstehen, Sie als alternde Frau zu betrachten – da Sie es ja selbst sagen. Indes geben Sie sich doch sicherlich darüber keinem Zweifel hin, daß Sie – ohne alle Schmeichelei – die Vollreife Ihres Lebens kaum erreicht zu haben scheinen.«

»Ich könnte Ihre Mutter sein, liebes Kind. Ich könnte Großmutter sein. Vielleicht bin ich es sogar.« Ein wehmütiger Unterton klang aus den letzten Worten. Lydia machte sich den Augenblick zunutze.

»Was Sie über die Mutterschaft sagten, kam also aus eigener Erfahrung, Miß Gisborne?«

»Ich habe einen Sohn – einen Sohn, der mir in meinem achtzehnten Jahre geschenkt wurde.«

»Hoffentlich hat er das Talent und die persönliche Anmut seiner Mutter ererbt.«

»Das weiß ich wirklich nicht,« meinte Mrs. Byron nachdenklich. »Er war ein rechter Satan. Ich errege mit diesem Ausdruck wohl Ihr Mißfallen, verehrtes Fräulein – aber ich habe tatsächlich alles für ihn getan, was eine aufopfernde Mutter überhaupt tun kann; und doch ist er mir ohne das geringste Zeichen eines Lebewohls davongelaufen. Böser kleiner Taugenichts!«

»Knaben vollbringen oft aus Abenteuerlust grausame Dinge,« bemerkte Lydia, indem sie die Züge ihrer Besucherin forschend betrachtete.

»Daran lag es nicht. Es kam von seinem Charakter, der völlig unlenksam blieb. Er war eigensinnig und rachsüchtig. Ein eigensinniges Kind kann man nicht lieb haben. Solange er klein war, behielt ich ihn ununterbrochen in meiner Nähe; und als er mir über den Kopf wuchs, gab ich Unsummen Geldes für seine Erziehung aus. Alles umsonst! Er hat mir nie irgend welches Empfinden gezeigt, außer einem Gefühl erlittener Unbill, das keinerlei liebevolles Entgegenkommen zu beseitigen vermochte. Und er hatte wahrhaftig keinen Grund zu Klage! Nein, einen schlechteren Sohn hat es nie gegeben!«

Lydia blieb schweigsam und ernst. Adelaide Gisbornes Augen schweiften eher seitwärts, als daß sie auf ihr Gegenüber gerichtet gewesen wären.

»Ach, mein guter Cashel!« rief sie plötzlich.

Lydia suchte ein Zusammenzucken zu verbergen.

»Mein armer kleiner Herzensjunge! Sehen Sie? Ich habe ihn noch immer lieb – trotz aller seiner Schlechtigkeiten!«

Mrs. Byron brachte ihr Taschentuch zum Vorschein, und Lydia verspürte angesichts der zu erwartenden Tränen einige Beklemmung. Miß Gisborne aber beschränkte sich darauf, sich mit vollendeter Gelassenheit die Nase zu schneuzen, und erhob sich zur Verabschiedung.

Lydia, die, von dem Interesse an Cashels Mutter ganz abgesehen, sich von der Frau als solcher angezogen und unterhalten fühlte, bestimmte ihre Besucherin, zum Frühstück zu bleiben und entdeckte alsbald aus der Art ihrer Unterhaltung, daß sie in ihrer Jugend viel Romantik im Wertherstil gelesen und seitdem ihre Mußestunden damit ausgefüllt hatte, jegliches Buch, das ihr in die Hände fiel, ohne Ansehung der Qualität zu verschlingen. Ihre Kenntnisse waren derartig verschoben, ihre ganze Denkweise so unvernünftig, daß Lydia, deren Bildungsgehalt ungewöhnlich gut organisiert und die selbst in erster Linie vernünftig war, zu dem Schlusse gelangte, daß Adelaide Gisborne eine geniale Frau sein müsse.

Miß Carew kannte den praktischen Unwert ihres Wissens und hielt sich demzufolge lediglich für einen geduldigen und gut zugelehrten Bücherwurm. Da andrerseits Mrs. Byron an dem prächtigen Hause, am Frühstück und an der klugen Zuhörerkunst ihrer Wirtin Gefallen fand, so wurde ihre natürliche Anmut durch ihre gute Laune in ein derartig vorteilhaftes Licht gerückt, daß Lydia schließlich ganz bezaubert war und sich voll Verwunderung die Frage vorlegte, welche seltsame Macht dieser Anmut wohl innegewohnt haben möchte, wenn irgendein besonderer Einfluß – allenfalls der eines geliebten Mannes – Adelaide Gisborne zu begeisterungsvoller Glückseligkeit emporgehoben hätte. Schließlich überraschte sie sich sogar bei allerhand Spekulationen des Sinnes, ob es ihr jemals gelingen würde, Cashel die Liebe zu seiner Mutter einzuflößen, mit der sie sein Vater – wenn auch nur für eine gewisse Zeit – sicherlich einmal geliebt haben mußte.

Als die Besucherin schließlich gegangen war, überlegte Lydia, ob sie recht daran tat, diese beiden Menschen voneinander getrennt zu halten. Für den Augenblick war Cashel für seine Mutter allerdings fast eine Schande und blieb ihr daher besser einstweilen verborgen. Sollte er aber, ihren dringlichen Vorstellungen folgend, seinem rohen Beruf aus irgend welchen Gründen den Rücken wenden, so konnte sie ein Zusammentreffen in die Wege leiten; vielleicht, daß die Mutter in Zukunft besser für den Durchbrenner sorgte und ihn in erster Linie pekuniär von seiner Preisboxerei unabhängig machte.

Dies leitete Lydia zu der Frage, welchen Beruf Cashel denn ergreifen könnte und welche Möglichkeiten bestanden, ein verträglicheres Verhältnis als früher mit seiner Mutter herzustellen. Doch wollte sich keine befriedigende Antwort ergeben. Sie griff daher auf die wahrscheinlichere Möglichkeit zurück, daß er um ihretwillen ein anderer werden würde. Bei der Betrachtung dieses Themas lief ihre Phantasie in derartig wildem Tempo mit ihr davon und weit über alle einigermaßen vernünftigen Mutmaßungen hinaus, daß sie bereits anfing, ungläubig über ihre eigene Torheit den Kopf zu schütteln, als Bashville auf der Bildfläche erschien, um Lord Worthington anzumelden, der in Alicens Begleitung ins Zimmer trat.

Lydia hatte den Lord seit der Entdeckung der gesellschaftlichen Stellung des ihr von ihm vorgestellten Mieters nicht mehr zu Gesicht bekommen; er fürchtete sich daher etwas vor diesem ersten Zusammentreffen. Um seine Verlegenheit zu bemänteln, begann er in schneller Folge über eine Anzahl allgemeiner Tagesneuigkeiten zu reden. Nachdem aber einige Zeit verstrichen war, machten sich bei ihm frische Anzeichen der Unruhe bemerkbar. Er sah nach der Uhr und sagte:

»Ich will Sie nicht hetzen, meine Damen. Aber die Sache fängt um Drei an.«

»Was für eine Sache?« fragte Lydia, die sich im geheimen bereits über den Grund seines Erscheinens klar zu werden suchte.

»Das Kontrafechten. Die Sache mit König – wie heißt er doch gleich? Webber sagte mir, Sie hätten verabredet, wir sollten zusammen hingehen.«

»Ach so – Sie kommen, um uns abzuholen? Ich hatte es ganz vergessen. Habe ich denn versprochen, hinzugehen?«

»Webber sagte so. Eigentlich sollte er Sie selbst begleiten; er ist aber beschäftigt und hat mir einen Gefallen getan und mir seinen Platz eingeräumt. Er behauptete, es läge Ihnen besonders viel an der Sache – so ein Schlauberger!«

Lydia erhob sich unverzüglich und bestellte ihren Wagen.

»Wir brauchen uns nicht zu überstürzen,« meinte sie. »In zwanzig Minuten fahren wir bequem nach St. James' Hall.«

»Wir müssen ja nach Islington, in die landwirtschaftliche Ausstellungshalle. Es gibt Kavallerieattacken und allen möglichen Mumpitz.«

»Himmel! Wird auch geboxt?« erkundigte sich Lydia.

»Jawohl,« entgegnete Lord Worthington errötend, aber sonst leidlich keck. »Haufenweise. Allerdings nur von Amateuren – ausgenommen vielleicht einen regelrechten Gang, um dem ollen König die Form unserer Berufsboxer zu zeigen.«

»Dann entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick, während ich mir meinen Hut aufstecke,« meinte Lydia, das Zimmer verlassend. – Alice hatte sich bereits seit einer Weile entfernt, um einen umfangreicheren Wechsel der Toilette vorzunehmen, da nach ihrer Ansicht die Veranstaltung zu einer derartigen Prachtentfaltung Gelegenheit bot.

»Sie sehen ja fabelhaft schneidig aus, Miß Goff,« bemerkte der Lord, als er den Damen zum Wagen folgte.

Alice ließ sich zu keiner Entgegnung herbei, warf vielmehr das Haupt mit königlicher Gebärde in den Nacken und überdachte hierbei im stillen, ob die Leute bei einem Vergleich sie selbst als allzusehr und Lydia als allzuwenig angezogen bezeichnen würden.

Worthington war der Meinung, daß sie beide einen sehr guten Tag hätten, und gab sich einige Augenblicke einer Betrachtung über die verschiedene Art verschiedener Frauen und über die alte Wahrheit hin, daß sich eben eines nicht für alle schicke. – Er gewann den Eindruck, als ob Miß Carews Gegenwart ihn einer philosophischen Gedankentätigkeit geneigt mache.

Der landwirtschaftliche Ausstellungspalast erwies sich für Alice auf den ersten Blick als eine mächtige, lohebestreute Tenne, um die herum Haufen alter Kisten zu einer Art Rennbahntribüne aufgebaut und dürftig mit rotem Tuch und Flaggen ausgeschmückt worden waren. Lord Worthington hatte Vordersitze auf einer solchen Galerie besorgt. Gerade unter dieser befanden sich die Umfriedigungspalisaden, die in Zwischenräumen mit Immergrünsträuchern in Kübeln dekoriert waren und gegen die von außen her die Menge des Ein-Schilling-Platzes drängte.

Alice bemängelte es als wenig zugunsten des Komitees sprechend, wenn diese Leute so nahe unter ihnen untergebracht waren, daß man ihre Unterhaltungen anhören mußte; da Lydia jedoch ihr Unbehagen nicht zu teilen schien, so wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem fashionablen Teil des Publikums zu. Die Galerien auf der gegenüberliegenden Seite der Arena schienen wie blühende Blumenbeete: die schwarzen Hüte und Röcke der Herren bildeten gleichsam die sichtbaren Zwischenräume dunkler Gartenerde. Inmitten der Blumen erhob sich eine prunkvolle Estrade; hier thronte ein kraftvoll gebauter dunkelhäutiger Herr auf einem erhöhten Sessel; seine majestätische Teilnahmslosigkeit stand in seltsamem Widerspruch zu dem offenkundigen Staunen, das seine diensttuenden Würdenträger zu beiden Seiten durch Grinsen und Aufsperren des Mundes zur Schau trugen.

»Schade, daß wir nicht näher beim König sitzen,« beklagte sich Alice. »Ich kann den alten Knaben kaum erkennen.«

»Sie werden sehen, daß diese Plätze für das Kontrafechten die besten sind. Sie werden schon zufrieden sein,« meinte Lord Worthington.

Lydia fiel etwas sonderbar Schuldbewußtes in seinem Gehaben auf. Sie verfolgte einen seiner flüchtigen Seitenblicke, und bemerkte nicht weit von ihnen in der Arena einen ungefähr zwanzig Fuß im Viereck messenden Raum, der durch Pflöcke und Seile abgegrenzt wurde. Der Platz war einstweilen leer; nahe dabei standen einige Stühle und eine Schale mit einem Schwamm.

»Was ist das?« fragte sie.

»Das? Oh – das ist der Ring.«

»Ein Ring ist es nicht – das ist ein Viereck.«

»Man nennt es den Ring. Man hat den Kreis allmählich zu einem Quadrat umgewandelt.«

Der durchdringende Ton einer Trompete machte sie erbeben; ein Trupp Kavallerie trabte in die Arena. Lydia fand es recht unterhaltlich, mit Muße die Pferde und Reiter zu betrachten und nach der soldatischen Nummer die Mitglieder des Olympian Club mit den Marmorgöttern Athens oder dem Bacchus und David Michel Angelos zu vergleichen. Wie die Turner über ein hölzernes Pferd voltigierten und an wagerechten Stangen allerhand Schwünge vollführten, wobei jeder die Leistungen seines Vorgängers durch schwierigere Produktionen in Schatten stellte, mußten sie vor den griechischen Statuen mit ihrem erhabenen Ausdruck, vor den ergreifenden italienischen Kunstwerken die Segel streichen. Lord Worthington, der dieser Darbietungen bald müde wurde, flüsterte den Damen zu, daß, sobald der Mumpitz vorüber wäre, ein Mann ein Schaf mit dem Säbel in zwei Teile spalten und dann einiges Boxen zum besten gegeben werden würde.

»Soll das vielleicht heißen,« meinte Lydia empört, »daß man ein Schaf loslassen wird, und dann zu Pferde mit Säbeln hinterdrein zu jagen?«

Worthington lachte verschmitzt und bejahte die Frage; es trat jedoch bald zutage, daß das Schaf durch den ziemlich mageren Rumpf eines bereits geschlachteten Hammels vertreten wurde. Ein riesiger Unteroffizier spaltete ihn in zwei Hälften und zwar als Steigerung nach zersäbelten Zitronen, Bleibarren und Seidentüchern; das Publikum, das in Schlächterläden an weit unerfreulichere Schauspiele gewöhnt war, zollte dem Künstler in freigebigster Weise Beifall.

Bald darauf betraten zwei Herren des Olympian Club den von Lord Worthington als Ring bezeichneten umfriedigten Raum. Nachdem sie einander, so gut dies mit ihren mächtigen ausgepolsterten Handschuhen gehen wollte, die Hände geschüttelt hatten, umschlangen sie sich derartig kraftvoll mit ihren rechten Armen, als ob ihre Bäuche herunterzufallen Gefahr liefen, falls diese nicht ausreichend festgehalten wurden; alsdann tanzten sie einige Zeit umeinander herum, wobei sie ihre linken Fäuste wie scharrende Pferde vorschleuderten und wieder zurückzogen. Sie waren beide Amateur-Champions, wie sich solches für Lydia aus einer von den Festordnern vorgebrachten Ankündigung ihrer Namen und bereits vollbrachten Heldentaten ergab. Sie erachtete ihr Scharren und Tanzen für höchst lächerlich; und wenn die Kämpen zeitweilig aufeinander losfuhren und handgemein wurden, so vermochte sie nichts von dem Initiative-ergreifen, Parieren, Ducken, vom Gegenschlag, von der Sicherung und der Scheinflucht zu unterscheiden, worauf der Lord enthusiastisch ihre Aufmerksamkeit zu lenken bemüht war, je nachdem es der unterhalb befindlichen ›Menge zu einem Schilling‹ Ausrufe des Mißfallens und der Anerkennung entlockte.

Als die zwei Herren dann nach Verlauf von drei Minuten rücklings auf ihre in beiden Ecken der Umfriedigung befindlichen Stühle sanken, als ob sie ein Übermaß von Anstrengung überstanden hätten, wäre Lydia fast in ein lautes Gelächter ausgebrochen, wenn sie sich nicht unwillkürlich an Cashel erinnert hätte, wie er sich in ihrem Bibliothekzimmer zu erholen versuchte. Nach einer Minute rief jemand mit rauher Stimme: »Fertig!« und die Amateur-Champions erhoben sich, um ihre bereits dargebrachten Kenntnisse für weitere drei Minuten noch einmal vor Augen zu führen. Es folgte eine zweite Minute der Ruhe, worauf das Scharren und Tanzen während erneuter vier Minuten seinen Fortlauf nahm. Schließlich schüttelten sich die wackeren Streiter wiederum die Hände und verließen die Arena.

»Ist das alles?« fragte Lydia.

»Jawohl – alles,« bestätigte der Lord. »Das Unschuldigste und – das Hübscheste, was man sich denken kann.«

»Als ausnehmend hübsch fällt es mir eigentlich nicht auf,« meinte Lydia. »Hingegen scheint es in der Tat so unschuldig, als es zufolge seiner Sinnlosigkeit überhaupt sein kann.« Sie machte sich den Vorwurf, Cashel Byron in ihrer Unwissenheit und zu Unrecht der Wildheit bezichtigt zu haben, da er sich offenbar lediglich einer höchst harmlosen Leibesübung hingab.

Die Festlichkeit nahm in mehreren Phasen zur Kunstfertigkeit erhobener Gewalttätigkeit ihren Fortgang. Zunächst kamen Einzelkämpfe zwischen Soldaten der verschiedenen Waffengattungen, dann Massenturniere, ein Reiterstückchen, bei dem in vollem Galopp ein Zeltpflock aus der Erde zu stechen war, Evolutionen und Stockfechten einiger Sektionen Matrosen, die mit lauten Hurras begrüßt wurden; ferner noch mehr Boxen und Turnen von Klubmitgliedern.

Lydias Interesse begann sich bald von der Arena abzuwenden. Sie sah hinunter auf die Menge an den Palisaden und erblickte eine kleine Gestalt, deren sie sich unbestimmt erinnerte, wenngleich ihr das Gesicht abgekehrt war. Ein kraftvoller Mann in einem gelblichen Tweedanzug und mit einer grünen Krawatte unterhielt sich eifrig mit ihm. Er sprach mit starker rauher Stimme, und sein Begleiter in schrillen Tönen, so daß ihre Bemerkungen von einem aufmerksamen Lauscher aus dem Geräusch der Menschenmenge herausgehört werden konnten.

»Fällt Ihnen der Mann auf?« fragte Worthington, der Lydias Blicken folgte.

»Nein. Ist er etwas Besonderes?«

»Früher einmal war er ein großer Mann – in den Tagen, wo es noch Riesen gab. Er war Champion von England. Uns bietet er ein spezielles Interesse – als Lehrer eines unserer gemeinsamen Freunde.«

»Und sein Name?« erkundigte sich Lydia mit dem Wunsche, den Namen des gemeinsamen Freundes zu erfahren.

»Ned Skene,« entgegnete Lord Worthington in der Annahme, daß sie von dem berühmten Mann dort unten spräche. »In den Kolonien ist es ihm so gut gegangen, daß er sich selbst und seiner Familie jetzt eine kleine Vergnügungsreise nach England gönnt. Seine Ankunft hat eine regelrechte Sensation im Lande hervorgerufen: vergangene Woche veranstaltete er eine überfüllte Benefizvorstellung, bei der er mit unserem gemeinsamen Freund einige Gänge auf Handschuhe ausgefochten hat und mit ihm wie mit einem kleinen Kinde umgesprungen ist. Unser gemeinsamer Freund hat sich bei der Gelegenheit sehr nett benommen, indem er mit sich umspringen ließ. Er hätte Skene totschlagen können, wenn er die Sache ernst genommen hätte.«

»Das ist also Skene?« meinte Lydia, indem sie diesen mit einem eingehenden Interesse betrachtete, das Worthington gleichzeitig mit Staunen und Entzücken erfüllte. »Sieh da! Jetzt erkenne ich auch seinen Begleiter. Er ist einer meiner Mieter in Warren Lodge – ich glaube sogar, ich verdanke seine Bekanntschaft Ihnen.«

»Der Trainer Mellish?« entgegnete der Lord mit etwas alberner Miene. »Allerdings, allerdings. Was für einen prächtigen Braunen der Ulan dort reitet – der zweite vom äußeren Flügel!«

Lydia schenkte dem Pferd des Ulanen keinen Blick. Sie hörte gerade Skenes Stimme. »Paradise?« rief er mit mißachtender Ungläubigkeit. »Das ist wohl nicht gut denkbar!«

»Es sind schon viel weniger denkbare Sachen passiert,« erwiderte Mellish. »Ich will ja nicht behaupten, daß Cashel Byron schlapp wird. Ich sage nur, sein Glück ist zu groß, als daß es dauern könnte. Ich weiß auch tatsächlich, daß er in letzter Zeit ganz melancholisch geworden ist.«

»Melancholisch ist lachhaft!« sagte Skene. »Wozu braucht er melancholisch zu werden?«

»O, ich weiß es schon,« entgegnete Mellish zurückhaltend.

»Sie wissen was Rechtes!« versetzte Skene verächtlich. »Ich denke mir, Sie spielen auf die junge Person an, von der er immer zu meiner Frau redet.« »Ich spiele auf eine junge Person an, die er wohl kaum bekommen wird. Eins von den vornehmsten Ludern in ganz England – ein kleines Weibchen mit einem Gesicht wie die Innenseite einer Austernschale, das er da unten in Wiltstocken kennen gelernt hat, wo ich ihn für die Partie mit dem fliegenden Holländer trainierte. Nachdem er sie gesehen hatte, ließ er sein Training glatt schießen – wollte nicht mehr tun, was ich ihm sagte. Ich war so totensicher, er würde hereinfallen, daß ich jeden Heller, den ich auf ihn gesetzt hatte, auf der anderen Seite noch einmal anlegte, um mich zu decken – ausgenommen zwanzig Pfund, die ich draußen beim Wettkampf, als ich meine Meinung änderte, einem Gimpel gegen Cashel legte. Der Henker soll das Frauenzimmer holen! Sie kostet mich runde hundert Pfund.«

»Geschieht dir ganz recht, du alter Esel. Du hast dich damals geirrt – und du irrst dich auch jetzt mit deinem verdammten Paradise.«

»Paradise ist noch nie geschlagen worden.«

»Mein Junge ebensowenig.«

»Na, wir werden ja sehen.«

»Wir werden sehen. Ich weiß, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich habe Billy Paradise mit Handschuhen gesehen. Das ist kein Boxen – das ist Müdigkeit. Das ist es, was es ist. Pure, gemeine Müdigkeit. Du lieber Gott, da hat ja meine Alte mehr Kunstfertigkeit am Leibe.«

»Möglich, daß sie die hat,« meinte Mellish. »Sehen Sie sich aber nur die Leute an, die er geschlagen hat und die nur so von Kunstfertigkeit trieften. Sogar Sheystone hat, so viel er auch können mag, die eine Partie gegen ihn nur dadurch gewonnen, daß er Protest wegen eines faulen Hiebes einlegte, weil Billy seine Ruhe verloren und unkommentmäßig getreten hatte. Das ist das Schlimmste mit Billy – er kann seine Gefühle nicht verbergen. Wer aber auf feine Damen aus ist, kann seiner ekligen Angriffsmethode nicht stand halten. Meinen Sie, daß er sich an Cashels elegante lange Stöße kehrt? Kein Gedanke! Er fängt sie bloß mit seinem Mahagonischädel auf und wischt ihm dafür einen seiner Schlußhiebe aus, mit denen er auch Dick Weeks abgefertigt hat.«

»Ich lege Ihnen jede Summe, daß er's nicht tut. Wenn's aber doch geschieht, dann gehe ich selber noch einmal in den Ring zurück und schlage ihm den Kopf herunter.« Skene wurde sehr ärgerlich und belegte Paradise haufenweise mit Schimpfworten, bis er sich schließlich dermaßen aufregte, daß Mellish ihn zu beruhigen trachtete, indem er einen Teil seiner Prophezeiungen widerrief und sich nach Cashel erkundigte.

»Er hat sich nicht so geschont, wie es wohl nötig gewesen wäre,« berichtete Skene traurig. »Er hat meiner Alten und Fanny das Londoner Leben gezeigt: die beiden sitzen auf dem Dreieinhalb-Schilling-Platz zwischen den eleganten Leuten. Jeden Abend Theater, jeden Tag große Promenaden, um die Königin im Park fahren zu sehen oder sonst etwas ähnliches. Meine Fanny mag ihn gern bei sich haben, weil er so ein Kavalier ist: sie hält ihren eigenen Vater nicht mal gut genug, um mit ihm über Piccadilly zu gehen. Ich soll mir einen schwarzen Rock anziehen und ein bißchen was aus mir machen. Die Alte vergöttert ihn einfach. Sie hält den Jungen für viel zu gut für die junge Person, von der Sie reden, und sie sagt ihm, das Mädel stellte sich nur so, als ob sie ihn nicht möchte, um sich im Preise höher zu bringen – ebenso wie ich früher vorhersagte, daß ich geschlagen werden würde, damit die Gimpel gegen mich wetten sollten. Die Weiber haben ihn von jeher verzogen. In Melbourne gab's nie das zu Tisch, was ich gern aß – immer das, was der Junge wohl haben mochte und wenn er es gern haben wollte. Der Teufel soll mich holen, wenn ich ihn nicht schließlich vorschieben und die Sachen fordern lassen mußte, die ich mir für mich wünschte. Und nun erlauben Sie sich zu sagen, dies wäre der Bengel, den ein Bill Paradise schlagen kann! Das gibt es nicht!«

Lydia, die noch unter den frischen Eindrücken der Anmut Adelaide Gisbornes stand, fragte sich verwundert, was für eine Art von Frau diese Mrs. Skene wohl sein mochte, die in der Zuneigung des Sohnes an Stelle der Mutter hatte treten können und doch nicht mehr war als eines Preisboxers ›Alte‹. Offenbar gehörte sie nicht zu der Sorte von Damen, die einen jungen Mann seiner Laufbahn ›im Ring‹ abspenstig machten. Ihre Gedanken über Cashels Beruf und die mögliche Aufgabe dieser seiner Beschäftigung nahmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie starrte mit ihren Augen auf die Arena, aber sie sah nichts von den Soldaten, Turnern und Athleten, die dort unten emsig bei der Arbeit waren. Ihre sinnenden Gedanken spannen sich in weite, weite Fernen; das Gemurmel der Menge löste sich in ein undeutliches Summen auf und entging ihr schließlich ganz.

Plötzlich sah sie einen fürchterlich aussehenden Menschen durch die Arena auf ihre Seite herüberkommen. Sein Gesicht schien wie blauer Granit: seine vorspringenden Backenknochen und die abgeflachte Stirn gaben ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Orang-Utang. Mit einem Schauder erwachte sie aus ihrer Träumerei, und während sie ihre Fähigkeit, äußere Eindrücke durch Auge und Ohr aufzunehmen, wiedergewann, vernahm sie den Beifallssturm einer Gruppe von Leuten, die ihn mit lauten Zurufen begrüßten. Der Mann dankte mit einem wilden Grinsen, stützte die Hand auf einen der Pflöcke des Ringes und sprang über das Seil. Lydia erkannte, daß er, mit Ausnahme seines abschreckenden Kopfes und seiner unförmig großen Hände und Füße, ein prächtig gebauter Mann war, mit Schultern und Lenden, die im Lichte glänzten und ihm den Anschein gewaltiger Kraft und Behendigkeit verliehen.

»Ist er nicht ein wahres Bild!« hörte sie Mellish in ekstatischer Verzückung rufen. »Da haben Sie, was man Kondition nennt!«

»Ach was!« meinte Skene verächtlich. »Und der andere, ist der nicht ein wahrer Kavalier? Sehen Sie sich ihn doch nur an! Als ob der Prinz von Wales Pall Mall hinunterspaziert!«

Lydia blickte wieder hin und sah Cashel Byron – genau so, wie sie ihn das erstemal in der Ulmenallee in Wiltstocken gesehen hatte; er näherte sich dem Ring mit der gleichgültigen Miene eines Mannes, der eine langweilige öffentliche Zeremonie über sich ergehen lassen muß.

»Ein Gott, der herniedersteigt, sich mit einem Gladiator zu messen,« flüsterte Lord Worthington erregt. »Habe ich nicht recht, Miß Carew? Apollo und der Satyr! Das müssen Sie zugeben, daß unser gemeinsamer Freund ein fabelhaft schöner Kerl ist. Wenn er sich so in der Gesellschaft zeigen könnte, Himmel ja, die Weiber –«

»Still!« gebot Lydia, als ob ihr seine Worte unerträglich wären.

Cashel sprang nicht über das Seil. Er schritt gemessen durch eine Lücke, wies die Hilfe einiger dienstfertiger Bewunderer zurück und zog widerwillig einen Boxerhandschuh an, als ob es sich um eine peinliche Vorbereitung zu einer fashionablen Promenade handle. Nachdem er solchermaßen seine linke Hand bekleidet und sie zur Unterstützung der mit der anderen zum gleichen Zwecke notwendigen Prozedur untauglich gemacht hatte, steckte er die Finger in den zweiten Handschuh, erfaßte ihn mit den Zähnen und zerrte ihn wie ein Tiger, der seine Beute zerreißt, über die rechte Hand. Lydia mußte wieder erschaudern.

»Bob Mellish,« sagte Skene, »ich wette dir zwanzig zu eins, daß er die Angriffsmethode, von der du soviel hältst, doch abwehrt. Willst du? Zwanzig zu eins.«

Mellish schüttelte verneinend den Kopf.

In diesem Augenblick deutete der Festordner auf die beiden nunmehr auftretenden Männer und rief: »Paradise – ein Lehrmeister. Cashel Byron– ein Lehrmeister. Fertig!«

Cashel blickte jetzt zu Paradise hinüber, dessen Anwesenheit ihm bisher entgangen zu sein schien. Sie schritten beide bis zur Mitte des Ringes vor, schüttelten sich auf Armeslänge die Hände, ließen den Griff plötzlich los, wichen einen Schritt zurück und begannen wie ein paar Panther sich behutsam von links nach rechts umeinander zu drehen.

»Ich meine, sie sollten von den Amateuren gute Manieren lernen, und sich anständig die Hände schütteln,« bemerkte Alice, die sich ein möglichst teilnahmsloses Aussehen zu geben trachtete, innerlich aber eine unbestimmte, beklemmende Furcht vor Cashel empfand.

»Das ist so Tradition,« erklärte der Lord. »Man tut es, damit der eine den andern nicht umreißen und mit der freien Hand treffen kann, ehe dieser sich losmacht.«

»Welch' scheußliche Hinterlist!« rief Lydia.

»Es geschieht tatsächlich niemals, müssen Sie wissen,« fügte Worthington zur Beruhigung hinzu. »Außerdem wäre es auch nicht vorteilhaft, weil man auf solche Weise mit der linken Hand doch keine Wirkung erzielen kann.«

Lydia wandte sich von ihm ab und kehrte ihre ganze Aufmerksamkeit den Boxern zu. Paradise machte eigentlich den weniger unheimlichen Eindruck auf sie. Sie sah es, daß er nervös war und, soweit sein Mut in Frage kam, sich einem gewissen gekünstelten Selbstzwang unterwarf; sein schlaues Grinsen aber deutete auf eine Art brutalen und gutmütigen Humors und schien den Zuschauern den Ausblick auf einige Belustigung zu eröffnen. Cashel verfolgte seine Bewegungen mit unnachgiebiger Wachsamkeit und einem forschenden Seitenblick, in dem Lydia etwas geradezu Teuflisches zu erkennen vermeinte.

Plötzlich leuchteten Paradises Augen auf: er senkte seinen Kopf, machte einen Anlauf, dann absichtlich eine Finte und stürzte mit aller Wucht auf Cashel. Man vernahm ein Geräusch wie das Knallen eines Champagnerpfropfens – dann sah man Cashel unbeirrt in der Mitte des Ringes stehen; Paradise flog gegen die Seile zurück, versuchte über seinen Mißerfolg zu grinsen und zeigte seine weißen Zähne durch eine Maske von Blut.

»Großartig!« brüllte Skene voll Entzücken. »Einfach großartig! Außer meinem Jungen und mir gibt es niemand, der den Oberhieb so auszuteilen versteht. Ich wollte, ich könnte jetzt das Gesicht meiner Alten sehen. So etwas ist ihr ein wahrer Genuß.«

»Wollen wir nicht lieber gehen,« meinte Alice.

»Das war ein ganz anderer Hieb, als die, die von den Amateuren angewandt worden sind,« bemerkte Lydia, ohne auf sie zu achten, zu Worthington. »Der Mann blutet ja fürchterlich.«

»Nur seine Nase,« begütigte der Lord. »Daran ist er gewöhnt.«

»Sehen Sie doch jetzt nur hin,« kicherte Skene vergnüglich. »Mein Junge rückt ihm bis an die Seile nach – und er wird ihn dort festhalten. Jetzt mag er seinen Angriff noch einmal probieren, wenn er kann. Es geht doch nichts über ein gutes Maß von Scharfblick.«

Mellish schüttelte noch immer zweifelnd den Kopf. Die folgenden Minuten der Runde verliefen für Paradise recht unglücklich. Er hieb wütend auf die Rippen seines Gegners ein; Cashel aber trat jedesmal aus dem Bereich seiner Armlänge zurück, schritt dann mit unvergleichlicher Behendigkeit wieder vor und versetzte ihm Stöße, denen er – mit den Seilen hinter sich – nicht ausweichen konnte und die zu parieren er nicht schnell genug war. Seine Bemühungen, das Gesicht seines nunmehrigen Angreifers zu treffen, gingen sämtlich zu seinem Nachteil aus, insofern Cashels Hiebe nie so wuchtig saßen, als wenn er seinen eigenen Kopf flink außer Gefahr brachte und den vordringenden Feind mit einem Gegenstoß abfing. Von Mitleid oder Schonung war an Cashel nichts zu merken; seine Anmut aber hätte nicht einmal von seiner Mutter übertroffen werden können. Er schwelgte in der Gewalt seiner Stöße und sammelte neue Kraft, wenn seine Handschuhe auf Paradises Gesicht dröhnend aufschlugen oder fast seinen Körper zu durchdringen schienen.

Der bessere Teil des Publikums fühlte sich von diesem Schauspiel abgestoßen. Paradise blutete ausgiebig; und da das Blut die Handschuhe beschmierte und sich von den Handschuhen auf die Köpfe und Leiber der Kämpfenden übertrug, so waren sie bald von den Hüften aufwärts über und über besudelt. Die Festordner hielten im Flüstertone eine Beratung darüber ab, ob die Boxervorführung nicht besser abgebrochen werden sollte; doch entschieden sie sich für deren Fortsetzung, da der afrikanische König, der der ganzen Schaustellung bisher ohne das geringste Anzeichen von Interesse beigewohnt hatte, jetzt seine Hände hob und mit Behagen klatschte.

»Billy scheint mit sich gar nicht recht zufrieden zu sein,« meinte Mellish, als die Boxer sich während der Ruheminute auf den Stühlen niederließen. »Gerade so sah er aus, wie er Sheystone ›genagelt‹ hatte.«

»Was heißt ›genagelt‹?« fragte Lydia.

»Jemand mit Nagelschuhen auf die Füße treten,« erklärte Worthington. »Befürchten Sie nichts – die beiden haben keine Nägel an den Schuhen. Sehen Sie mich auch nicht so bös an, Miß Carew. Wirklich, ich komme mir wie ein Verbrecher vor, wenn Sie mich in dieser Weise ansehen!«

Von neuem ertönte das Signal ›Fertig!‹ Die Pugilisten, die inzwischen mit Schwämmen einigermaßen gereinigt worden waren, erhoben sich mit mechanischer Bereitschaft. Sie waren kaum zwei Schritte vorgetreten, als Cashel seinen Gegner, wenngleich dieser viel zu weit von ihm entfernt zu sein schien, mit betäubender Wucht an der Stirn traf und dann lachend zurücksprang. Paradise stürmte vor; Cashel aber wich ihm mit List aus, lief fliehend um den Ring herum und sah dabei vergnüglich über die Schulter hinweg nach seinem Verfolger. Paradise ließ nunmehr alle Vorspiegelung irgend welchen Humors fallen. Mit tollkühner Wildheit stürmte er vorwärts und ließ einen fürchterlichen Hieb ohne zu zucken über sich ergehen. Dann wurden sie handgemein und kämpften aus allernächster Nähe.

Einen Augenblick lang erinnerte das ununterbrochene Fallen der Hiebe Lydia an das Aufprallen von Regentropfen, die ein Windstoß gegen die Scheiben schleudert. Im nächsten Augenblick wich Cashel zurück und Paradise, dessen Blut wieder in Strömen floß, versuchte sein Manöver zu wiederholen, um diesmal von einem Hieb getroffen zu werden, der ihn auf ein Knie niederstreckte. – Er hatte sich kaum erhoben, als Cashel auf ihn zusprang und ihn aufs neue mit vier mörderischen Schlägen gegen die Seile trieb; dann ließ er ihn mit raubtierhafter Koketterie los und lief tänzelnd davon wie ein spielendes Kind.

Paradise stand Blut und Schaum auf den Lippen; er stieß einen heulenden Laut aus und riß die Handschuhe von den Händen. Aus dem Publikum wurden Protestrufe hörbar; Cashel, dem sie wohl zur Warnung gedient hatten, versuchte sich der seinigen ebenfalls zu entledigen. Ehe er aber so weit kam, war Paradise schon auf ihn eingedrungen; inmitten allgemeinen Geschreis griffen die beiden Männer aufeinander zu.

Lord Worthington erhob sich mit anderen und rief: »Gegen die Regeln! Kein Ringen!« Dann folgte ein Getöse der Empörung, als man gewahr wurde, wie Paradise im Kampfe um den Wurf Cashels Schulter mit den Zähnen faßte.

Zum erstenmal in ihrem Leben schrie auch Lydia laut auf. Dann sah sie Cashel, dessen Züge genau so wild aussahen wie die seines Feindes, den Arm um Paradises Nacken schlingen. Er hob ihn hoch wie Kohlenträger einen Sack, warf ihn Hals über Kopf über seinen Rücken weg zu Boden und ließ sich fast gleichzeitig mit vollem Gewicht und aller Wucht auf ihn niederfallen.

Die beiden wurden unverzüglich getrennt, und zwar von einer Menge Festordner, Schutzleute, Unparteiischer und sonstiger Persönlichkeiten, die im Augenblick, wo Paradise die Handschuhe auszog, auf den Ring zustürzten. Ein wüstes Durcheinander entspann sich. Skene war über die Palisade geklettert und schrie mit Schimpfworten, Flüchen und Drohungen auf Paradise ein, der sich nicht ohne Hilfe aufrecht zu erhalten vermochte, seine bleischweren Augenlider zu heben und sich zu vergewissern suchte, was ihm eigentlich geschehen war.

Ein halbes Dutzend anderer Leute trugen nur noch mehr zur allgemeinen Verwirrung bei, indem sie ihn zum Aufrichten anfeuerten, ihm seine Handlungsweise vorwarfen oder Skene zu beschwichtigen trachteten. Auf der andern Seite erging Cashel sich in Wutausbrüchen gegen das Komitee, dessen Herren ihm zu Gemüte zu führen wünschten, daß die Regeln der Schaustellungen mit Handschuhen keinerlei Ringen und Werfen gestatteten.

»Laßt mich in Ruhe mit euren verfluchten Regeln,« hörte Lydia ihn rufen. »Er hat mich gebissen – und ich werde den verdammten –«

Dann sprachen alle zu gleicher Zeit; sie konnte daher nur mutmaßen, was er mit dem anderen eventuell vorzunehmen beabsichtigte. Er schien alle Selbstbeherrschung verloren zu haben; Paradise benahm sich, als er wieder zu sich kam, bei weitem manierlicher.

Der Lord stieg in den Ring hinunter und versuchte den Aufruhr niederzuschlagen. Cashel stieß Worthingtons Hand wütend von seinem Arm zurück, bedrohte einen Festordner, der den Mut besaß, ihn in schroffen Worten zur Ordnung zu rufen, schlug sich wie rasend mit der geballten Faust auf die verwundete Schulter und fluchte und fuchtelte derartig unbändig um sich herum, daß sogar Skene mit dem Hinweis dazwischentrat, daß nunmehr wahrlich des Aufhebens und Aufsehens genug getan sei.

Und jetzt flüsterte Lord Worthington noch einige kurze Worte. – Im nächsten Augenblick gab Cashel nach; er wurde bleich und schamerfüllt, und setzte sich auf einen Stuhl in seiner Ecke, als ob er sich verstecken wolle.

Fünf Minuten später trat er mit Paradise aus der Menge hervor und schüttelte ihm unter begeisterten Zurufen die Hand. Cashel war bei weitem der unterwürfigere von beiden. Nicht ein einziges Mal hob er die Augen zum Balkon hinauf; er schien es mit dem Verschwinden sehr eilig zu haben. Doch wurde ihm von einem Offizier in Uniform der Weg abgeschnitten, der in Begleitung eines schwarzen Würdenträgers herbeikam, um ihn auf die Estrade zu führen und dem afrikanischen König vorzustellen. Das war eine Ehre, die er nicht ablehnen durfte.

Der Potentat gab ihm durch einen Dolmetsch zu wissen, daß er von dem, was er soeben erschaut habe, ganz unaussprechlich befriedigt sei, und verlieh außerdem seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß Cashel angesichts solchen Heldenmutes weder der Armee noch dem Parlament angehöre. Er machte ihm zudem das schmeichelhafte Anerbieten, ihn mit drei anmutigen Frauen zu beschenken, falls er ihn in seiner Gefolgschaft nach Afrika begleiten wolle.

Cashel befand sich in peinlichster Verlegenheit; doch gelang es ihm, sich recht vorteilhaft aus der Klemme zu ziehen, und zwar dank der Beihilfe des Dolmetschers, der daran gewöhnt war, bei öffentlichen Gelegenheiten die für den König passenden Redewendungen zu erfinden, und sich auch diesmal aufs liebenswürdigste herbeiließ, um Cashels willen eine gleichermaßen passende zu erdichten.

Inzwischen war Lord Worthington zu seinem Platz zurückgekehrt. »Die Sache ist jetzt erledigt,« wandte er sich an Lydia. »Als ich Byron sagte, seine aristokratischen Freundinnen wären unter den Zuschauern, gab er sofort klein bei. Paradise ist derartig angeschnauzt worden, daß er jetzt unten in einer Ecke sitzt und heult. Er hat sich entschuldigt, behauptet aber nach wie vor, unsern gemeinsamen Freund ohne Handschuhe schlagen zu können. Seine Wetter sind offenbar derselben Ansicht. Es steht bereits fest, daß sie im Herbst für tausend Pfund pari miteinander boxen sollen.«

»Regelrecht boxen? Dann hegt er also nicht die Absicht, seinen Beruf aufzugeben?«

»Nein!« erwiderte Lord Worthington staunend. »Warum in aller Welt sollte er ihn aufgeben? Paradises Geld hat er schon so gut wie in der Tasche. Sie haben ja gesehen, was er kann.«

»Ich habe genug gesehen. Alice – sobald es Ihnen recht ist, wollen wir aufbrechen.«

Am folgenden Tage kehrte Miß Carew nach Wiltstocken zurück. Miß Goff verblieb in London, um den Rest der Saison unter der Obhut einer wohlwollenden Dame zu verleben, die, nachdem sie ihre sämtlichen Töchter unter die Haube gebracht hatte, es vorzog, sich zum Zwecke von Alicens Verehelichung lieber von neuem an die Arbeit zu machen, als nichts zu tun zu haben.


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