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Einleitung

I.

Moncrief House, Panley Common, höhere Lehranstalt für Söhne guter Familien etc.

Von den Hinterfenstern von Moncrief House gesehen ist Panley Common ein mit Gras, Ginster und Binsen bewachsenes Stück Land, das sich dem westlichen Horizont zu flach ausdehnt.

An einem feuchten Frühlingsnachmittag war der Himmel mit abgerissenem Gewölk bedeckt; die breiten Schatten der Wolken zogen über das Wiesenland; die grünen Flecke und der gelbe Ginster traten glänzend an den sonnenbeschienenen Stellen hervor. Die nach Norden zu gelegenen Hügel wurden von einem heftigen Regenschauer verdunkelt, dessen Spuren auf dem Schieferdach des Schulgebäudes noch trockneten. Es war ein viereckiges weißes Haus, früher der Landsitz eines vornehmen Herrn. Davor breitete sich ein gutgehaltener Rasen mit einigen wenigen geklippten Stechpalmen aus: auf der Rückseite die [unleserlich, Druckfehler te] ein viertel Morgen Landes zum Spielplatz für die Knaben. Zu gewissen Stunden vermochten Spaziergänger auf der Wiese innerhalb der Umfriedigungsmauer das Durcheinander von Stimmen und laufenden Schritten zu vernehmen. Zuweilen auch, wenn diese Spaziergänger noch im Knabenalter standen, kletterten sie wohl auf die Mauerkrone und erblickten dann auf der anderen Seite ein völlig nackt und braun getrampeltes Stück Wiese mit einigen Quadratmetern Beton, die aber derartig durchlöchert waren, daß sie ihrer ursprünglichen Bestimmung einer Kegel- und Kugelbahn kaum mehr zu genügen vermochten, ferner einen langen Schuppen, eine Pumpe, eine durch unzählige eingekerbte Inschriften entstellte Tür, die Hinterfront des Hauses, die sich in noch viel üblerem Zustande befand als die Vorderseite – und an die fünfzig Knaben mit kurzen Jacken und breiten umgeschlagenen Kragen. So oft die fünfzig Knaben einen jungen Unbekannten auf der Mauer erblickten, rannten sie mit wüstem Gejohle zu der Stelle; sie überschütteten ihn mit allerhand Schimpfworten und Herausforderungen; schließlich vertrieben sie ihn mit einer Salve von Erdklumpen, Steinen, Brotstücken und ähnlichen Geschossen, wie sie ihnen gerade in die Hände gerieten.

An diesem regnerischen Frühlingsnachmittag hielt ein Coupé vor der Tür von Moncrief House. Der in seinen weißen Gummirock gehüllte Kutscher suchte die Spuren des letzten Regenschauers abzuschütteln. Drinnen im Hause, im Empfangszimmer, unterhielt sich Doktor Moncrief mit einer stattlichen, ungefähr fünfunddreißigjährigen Dame in eleganter Kleidung und von verbindlichem Wesen. Sie war in jeglicher Hinsicht schön zu nennen – mit Ausnahme ihres Teints, dem es an der nötigen Frische gebrach.

»Leider keinerlei Fortschritte,« bemerkte der Doktor.

»Das ist eine schwere Enttäuschung,« entgegnete die Dame stirnrunzelnd.

»Ihre Enttäuschung ist über alle Maßen erklärlich,« erwiderte Moncrief, »Ich möchte Ihnen allen Ernstes anraten, den Erfolg abzuwarten, falls Sie ihn in einem anderen Institut …« Der Doktor hielt inne.

Ein berückendes Lächeln glitt über die Züge der Dame; mit einer geradezu bezaubernden Gebärde des Protestes hielt sie die Hand in die Höhe.

»Aber nein, aber nein, Herr Doktor!« sagte sie. »Meine Enttäuschung hat mit Ihnen gar nichts zu tun. Dafür bin ich aber um so ärgerlicher auf Cashel, weil ich weiß, daß es nur seine eigene Schuld ist, wenn er bei Ihnen keine Fortschritte macht. Ihn hier fortzunehmen – nein, das steht ganz außer Frage! Ich hätte keinen Augenblick der Ruhe, wenn er Ihrer Aufsicht entzogen wäre. Ehe ich heute weggehe, will ich ein ernstliches Wort mit ihm über sein Betragen reden. Und Sie – Sie werden es noch einmal mit ihm versuchen, nicht wahr?«

»Gewiß, mit dem größten Vergnügen,« entgegnete der Doktor, indem er sich mit einem unzulänglichen Höflichkeitsversuch selbst in Verwirrung brachte. »Er kann so lange bleiben, wie es Ihnen paßt. Aber –« der Doktor wurde wieder ernst – »aber Sie können ihm die Wichtigkeit angestrengter Arbeit gerade in diesen Jahren nicht genug zu Gemüte führen; wir dürfen sie als den Angelpunkt seiner späteren Laufbahn als Student bezeichnen. Er zählt jetzt fast siebzehn Jahre; und er zeigt so wenig Neigung zum Lernen, daß ich fast zweifeln muß, ob er irgend eins der zum Eintritt in die Universität nötigen Examina wird bestehen können. Wahrscheinlich wünschen Sie doch, daß er sich graduieren lassen soll, ehe er einen bestimmten Beruf wählt?«

»Allerdings, allerdings,« entgegnete die Dame etwas unbestimmt, weil sie offenbar mehr in großen Umrissen der Bemerkung des Doktors zustimmte, als eine eigene Überzeugung zum Ausdruck brachte. »Welchen Beruf würden Sie ihm denn anraten? Sie kennen dergleichen ja weit besser als ich.«

»Hm, hm!« meinte Doktor Moncrief etwas verlegen. »Das hängt in gewissem Maße von seiner eigenen Neigung ab.«

»Ganz und gar nicht,« unterbrach ihn die Dame. »Was weiß denn der arme Junge von der Welt? Seine eigene Geschmacksrichtung würde ihn sicherlich zu irgend etwas Albernem und Lächerlichem führen. Wahrscheinlich möchte er zur Bühne gehen – wie ich.«

»So, so? Sie würden also irgendeine Neigung dieser Art nicht unterstützen?«

»Ganz entschieden nicht! Ich hoffe auch, daß er sich nicht mit solchen Gedanken trägt.«

»Nicht, daß ich wüßte. Er zeigt so wenig Ehrgeiz, sich in irgendeinem Fach hervorzutun, daß ich es für das beste halten muß, wenn seine Berufswahl von seinen Eltern bestimmt wird. Ich weiß allerdings nicht, ob seine Verwandtschaft irgend welchen Einfluß besitzt, der ihm von Nutzen sein könnte. Hierin liegt oft einer der Hauptgesichtspunkte, die ins Auge gefaßt werden müssen – besonders in eigenartigen Fällen, wie die Ihres Sohnes, bei dem keinerlei besondere Begabung zutage tritt.«

»Ich bin die einzige Verwandte, die der arme Bengel besitzt,« meinte die Dame mit einem vielsagenden Lächeln. Als sie dann in den Zügen des Doktors einen Ausdruck des Erstaunens bemerkte, fügte sie schnell hinzu: »Sie sind alle tot!«

»Ach, du lieber Gott!«

»Indessen,« fuhr sie fort, »indessen zweifle ich nicht, daß ich ihm das Interesse zahlreicher Persönlichkeiten zuwenden könnte. Nur halte ich es heutzutage für schwierig, irgend etwas ohne solche Prüfungen, wie sie zur Erwerbung von Beamtenstellen berechtigen, zu erreichen. Arbeiten muß er unter allen Umständen. Und wenn er faul ist, so muß er bestraft werden.«

Der Doktor machte ein etwas verwirrtes Gesicht. »Die Dinge liegen nämlich so,« sagte er, »daß Ihr Sohn kaum länger als Kind behandelt werden kann. In seinen Gewohnheiten und Ideen ist er allerdings noch ganz Kind; physisch aber entwickelt er sich auffallend schnell zu einem Jüngling. Dieser Umstand bringt mich auf einen zweiten Punkt, über den ich Sie mit ihm ein ernstes Wort zu reden bitte. Ich muß erwähnen, daß er sich unter seinen Schulkameraden eine Art Ruf als Athlet erworben hat. In gewissen Grenzen lege ich körperlichen Übungen keinerlei Beschränkung auf: sie bilden einen anerkannten Bestandteil unseres Erziehungssystems. Leider muß ich aber bemerken, daß Cashel sich jener Neigung zu Gewalttätigkeiten nicht entziehen kann, die zuweilen die Folgeerscheinung einer ungewöhnlichen Körperkraft und Geschicklichkeit ist. Er hat sich tatsächlich vor einigen Monaten mit einem der jungen Leute aus dem Dorf in der Hauptstraße von Panley regelrecht geboxt. Ich habe das gehört – allerdings kam mir die Sache nicht gleich zu Ohren. Kurz darauf hat er sich eine noch weit schwerere Ausschreitung zuschulden kommen lassen. Er erhielt von mir mit einem seiner Kameraden die Erlaubnis zu einem Spaziergang nach Panley Abbey; hinterher brachte ich dann heraus, daß ihr eigentlicher Zweck darin bestand, einem Preisboxen beizuwohnen, das – natürlich unerlaubt – hier in der Nähe stattfand. Ganz abgesehen von ihrer Täuschung, scheint mir die Geschmacksrichtung, die die beiden Jungen hierdurch an den Tag legen, im höchsten Grade gefährlich. Ich sah mich veranlaßt, sie mit einer schweren Strafe zu belegen und ihnen für sechs Wochen Hausarrest zu diktieren. Ich gehöre nun nicht zu den Leuten, die der Ansicht frönen, daß mit der Bestrafung eines Knaben in solchen Fällen alles getan ist. Wo es sich darum handelt, angeborene Rauflust zu mildern, da halte ich große Stücke vom mütterlichen Einfluß.«

»Ich fürchte, er macht sich gar nichts aus dem, was ich ihm sage,« meinte die Dame mit liebenswürdiger Miene; es schien, als ob sie den Doktor in einer Angelegenheit, die ihn in erster Linie persönlich anging, aufrichtig bemitleide. »Gewiß, ich werde mit ihm darüber sprechen. Raufboldigkeit ist eine unerträgliche Angewohnheit. Seine Familie väterlicherseits hat sich ihr Lebtag gerauft – und sie haben niemals irgend etwas Brauchbares in der Welt zustande gebracht.«

»Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie sich ihn also einmal vornehmen wollten. Wie gesagt – es handelt sich um drei Punkte: die Notwendigkeit größerer – viel größerer – Aufmerksamkeit beim Lernen; eine Ermahnung wegen seines groben Wesens; und der Versuch, ihn auf seine spätere Berufswahl hin zu befragen. Ich stimme vollkommen mit Ihnen darüber ein, wenn Sie seinen Ideen über diesen letzten Punkt einstweilen noch keine allzugroße Bedeutung beimessen. Und doch kann eine knabenhafte Liebhaberei eine gewichtige Rolle spielen, wenn die Tatkraft eines jungen Menschen erwacht.«

»Ganz richtig,« stimmte die Dame zu. »Ich werde mich bemühen, ihm eine richtige Standrede zu halten.«

Der Doktor sah sie etwas mißtrauisch an; vielleicht dachte er, daß sie selbst eine Standrede über ihre Mutterpflichten besser brauchen könnte. Doch wagte er keine Andeutung dieses Sinnes; er zweifelte an der Nützlichkeit eines solchen Wagnisses, insofern er in dem Vorurteil lebte, daß Schauspielerinnen an tatsächlichem und natürlichem Gefühl Mangel litten. Er fürchtete auch, daß die Geschichte mit ihrem Sohn sie zu langweilen begann. Und dann noch eins: wenn er auch ein Doktor der Gottesgelahrtheit war, so sträubte er sich doch wie alle anderen Männer dagegen, von einer hübschen Frau eines Mangels an Geschicklichkeit überführt zu werden. Er zog es vor, zu läuten und das Dienstmädchen anzuweisen, Cashel Byron ins Empfangszimmer zu schicken.

Bald darauf ward unterhalb eine Tür geöffnet, und fernes Stimmengewirr ließ sich vernehmen. Der Doktor wurde unruhig und versuchte sich etwas auszudenken, was er hätte sagen können; seine Erfindungsgabe ließ ihn aber im Stich: er saß schweigend da, während die unartikulierten Rufe zu lautem Geschrei anschwollen. Schließlich wurde ein markerschütterndes Geheul des Wortes Ma–a–ma–a–a hörbar, womit offenbar die Aufforderung zu Byrons Erscheinen im Empfangszimmer eine Erklärung finden sollte. Der Doktor errötete bis unter die Haarwurzeln; Mrs. Byron lächelte. Dann fiel die Tür unten zu und schloß somit das tumultuarische Geräusch ab; auf der Treppe ließen sich Schritte vernehmen.

»Komm herein!« rief der Doktor ermutigend.

Cashel Byron erschien errötend in der Tür; er schritt etwas ungelenk zu seiner Mutter hinüber; dann drückte er gleichsam einen Kuß auf den kritischen Ausdruck, der sich, während sie sein Aussehen prüfte, auf den ihm zugewandten Zügen ausprägte. Da er erst siebzehn Jahre alt war, hatte er dem Küssen noch keinen rechten Geschmack abzugewinnen vermocht. In höchst ungeschickter Weise jagte er Mrs. Byron infolge eines Zusammenstoßes ihrer beider Zähne einen Schrecken ein. Da er sich eines Mißerfolges bewußt wurde, richtete er sich auf und suchte seine über alle Maßen schmutzigen Hände in den etwas knappen Falten seiner Jacke zu verbergen. Er war ein gut gewachsener Junge mit starkem Nacken, kräftigen Schultern und kurzem, kastanienbraunem Haar, das sich in kleinen Locken eng an den Kopf schmiegte. Er hatte blaue Augen und zeigte einen Ausdruck knabenhafter Gutmütigkeit, die indessen keineswegs die Gewähr für ein sanftes Temperament erbrachte.

»Wie geht es dir, Cashel?« fragte Mrs. Byron mit königlicher Herablassung, als sie ihn längere Zeit prüfend betrachtet hatte.

»Danke, sehr gut,« entgegnete er grinsend, indem er ihren Blicken auszuweichen suchte.

»Setz dich, Byron!« befahl der Doktor.

Byron hatte offenbar plötzlich vergessen, wie er sich hinsetzen sollte, und er sah unentschlossen von einem Stuhl zum andern hinüber. Der Doktor entschuldigte sich mit einigen kurzen Worten und verließ zur großen Erleichterung seines Schülers das Zimmer.

»Du bist sehr gewachsen, Cashel. Ich fürchte, du bist auch sehr unmanierlich.«

Cashel errötete wieder und machte ein finsteres Gesicht.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir anfangen soll,« begann Mrs. Byron von neuem. »Doktor Moncrief erzählt mir, du wärst sehr faul und rauflustig.«

»Das bin ich nicht,« entgegnete Cashel verdrossen.

»Das kommt nur daher, weil …«

»Es hat gar keinen Zweck, wenn du mir in dieser Weise widersprichst,« unterbrach Mrs. Byron scharf. »Ich bin sicher, daß alles, was Doktor Moncrief sagt, sich auch so verhält.«

»Ach, er sagt immer ein und dasselbe,« meinte Cashel in klagendem Tone. »Latein und Griechisch kann ich nicht lernen – und ich sehe auch gar nicht den Nutzen davon ein. Ich arbeite ebensoviel wie irgendeiner von den andern – die paar regelrechten Büffler und Streber vielleicht ausgenommen. Und was das mit meiner Rüdigkeit sein soll – so kommt das nur daher, weil ich eines Tages mal mit Gully Molesworth aus war – und da standen eine Masse Menschen auf der Wiese – und als wir hingingen und nachsahen, was da los war, da waren es zwei Männer, die miteinander boxten. Das ist doch nicht unsere Schuld, wenn sie da geboxt haben!«

»Ja, ja – ich kann mir schon denken, daß du mindestens fünfzig Entschuldigungen hast, Cashel. Boxen und Raufen gestatte ich aber auf keinen Fall! Und du mußt viel fleißiger sein. Denkst du denn jemals daran, wie schwer ich zu arbeiten habe, damit ich Doktor Moncrief hundertundzwanzig Pfund jährlich für dich zahlen kann?«

»Ich arbeite soviel, wie ich kann! Der olle Moncrief bildet sich ein, daß einer von morgens bis abends nichts anderes tun soll, als lateinische Verse schreiben. Tatham, den der Doktor für so ein großes Licht hält, der übersetzt immer mit einer Eselsbrücke. Wenn ich eine Eselsbrücke hätte, dann könnte ich ebenso gut übersetzen – wahrscheinlich noch viel besser.«

»Du bist sehr faul, Cashel; das weiß ich ganz bestimmt. Es ist wirklich sehr ärgerlich, wenn man jedes Jahr für nichts und wieder nichts soviel Geld aus dem Fenster werfen soll. Und außerdem, du mußt doch nächstens auch an einen Beruf denken.«

»Ich trete in die Armee ein,« entgegnete Cashel. »Das ist der einzig anständige Beruf für einen Gentleman.«

Mrs. Byron starrte ihn an, als ob sie sich über seine Vermessenheit nicht zu fassen vermöchte; doch tat sie sich Zwang an und beschränkte sich auf folgende Worte:

»Ich fürchte, du wirst dir einen etwas weniger kostspieligen Beruf aussuchen müssen. Außerdem müßtest du auch eine Prüfung bestehen, um in die Armee eintreten zu können. Und wie willst du das fertig bringen ohne zu lernen?«

»Ach, wenn es erst soweit ist, dann werde ich das schon alles besorgen.«

»Lieber, lieber Himmel! Du fängst jetzt an, dich so fürchterlich ordinär auszudrücken, Cashel. Und was habe ich mir zu Hause für Mühe mit dir gegeben!«

»Ich spreche ganz genau so wie andere Leute,« entgegnete er verbissen. »Ich sehe den Zweck gar nicht ein, wenn man sich wegen jeder Silbe so furchtbar anstellt. Früher mußte ich wegen meiner Sprechweise Hohn und Spott über mich ergehen lassen. Du kannst dir doch denken, daß die Jungens hier über dich ganz genau Bescheid wissen.«

»Über mich Bescheid wissen?« wiederholte Mrs. Byron mit fragendem Blick.

»Darüber, daß du an der Bühne bist, meine ich,« ergänzte Cashel. »Du beklagst dich, weil ich rüdig bin? Ich kann dir sagen, ich hätte keine guten Tage, wenn ich einigen von ihnen das Verulken nicht ausbleute.«

Mrs. Byron lächelte halb zweifelnd vor sich hin und schien eine Weile lang schweigend mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Dann erhob sie sich und sagte mit einem Blick auf das Wetter draußen: »Ich muß jetzt gehen, Cashel – ehe es wieder zu regnen beginnt. Ich bitte dich also, versuche etwas zu lernen und deine Manieren abzuschleifen. Bedenke doch, daß du bald nach Cambridge sollst.«

»Nach Cambridge?« rief Cashel voll Erregung. »Wann, Mama? Wann?«

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls fürs erste nicht. Sobald Doktor Moncrief sagt, daß du genügend vorbereitet bist.«

»Ach, das kann noch lange dauern,« entgegnete Cashel, dessen ganze Freude bei ihrer Antwort verschwunden zu sein schien. »Hundertzwanzig Pfund jährlich wird er sich nicht so bald an der Nase vorbei gehen lassen. Den langen Inglis hat er hier festgehalten, bis er über zwanzig Jahre alt war. Höre mal, Mama: kann ich nicht zu Ende dieses Halbjahres schon gehen? Ich weiß bestimmt, ich könnte in Cambridge mehr leisten als hier.«

»Unsinn!« entgegnete Mrs. Byron entschlossen. »Ich rechne mit Bestimmtheit darauf, dich vor Ablauf der nächsten anderthalb Jahre hier nicht wegzunehmen – und auch dann nur, wenn du ordentlich arbeitest. Jetzt murre nicht Cashel! Du machst mich damit über alle Maßen ärgerlich. Es tut mir leid, daß ich Cambridge überhaupt erwähnt habe.«

»Na, dann möchte ich lieber in irgendeine andere Schule kommen,« entgegnete Cashel wehmütig. »Der olle Moncrief hat es so fürchterlich auf mich abgesehen.«

»Du willst nur deshalb weg, weil du hier arbeiten sollst. Und das ist gerade der Grund, warum ich dein Hierbleiben wünsche.«

Cashel antwortete nicht; nur seine Züge verdüsterten sich unheilvoll.

»Ich habe dem Doktor, ehe ich gehe, noch ein paar Worte zu sagen,« fügte sie hinzu, indem sie von neuem Platz nahm. »Du kannst jetzt wieder spielen gehen. Adieu Cashel!« Sie hielt ihm ihr Gesicht abermals zum Kuß hin.

»Adieu,« wiederholte Cashel hastig, indem er sich zur Tür wandte und sich den Anschein gab, als ob er ihre Bewegung nicht bemerkt hätte.

»Cashel!« rief sie mit emphatischer Verwunderung. »Du bist doch nicht etwa trotzig?«

»Nein,« entgegnete er voller Ärger, »ich habe doch nichts gesagt! Ich fürchte eben, meine Manieren sind nicht gut genug. Es tut mir ja sehr leid – aber ich kann mir nicht helfen.«

»Na, meinetwegen,« entgegnete Mrs. Byron mit Festigkeit. »Du kannst gehen. Ich bin aber sehr unzufrieden mit dir.«

Cashel verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Am untern Treppenabsatz wurde er von einem Knaben aufgehalten, der ungefähr ein Jahr jünger war und ihn jetzt mit einer neugierigen Frage anredete:

»Wieviel hat sie dir gegeben?« flüsterte er.

»Keinen roten Heller,« entgegnete Cashel zähneknirschend.

»Was du sagst?« rief der andere mit aufrichtiger Enttäuschung. »Das ist scheußlich filzig von ihr.«

»Sie ist so filzig, wie man es nur sein kann,« setzte Cashel hinzu. »Nur der olle Affe von Moncrief ist schuld daran. Er hat ihr die Jacke über mich vollgelogen. Sie ist ganz genau so viel wert wie er. Weißt du was, Gully, ich kann meine Mutter nicht ausstehen.«

»Na, laß nur gut sein,« meinte Gully, etwas unangenehm berührt, »das ist wohl ein bißchen zuviel gesagt, alter Junge. Auf alle Fälle aber – sie hätte schon etwas springen lassen können.«

»Ich weiß nicht, was du vorhast, Gully – ich gehe auf alle Fälle durch. Wenn sie sich einbildet, daß ich für die nächsten zwei Jahre hier festsitzen werde – dann ist sie schön auf dem Holzwege.«

»Das wäre eigentlich ein riesiger Spaß, durchzugehen,« meinte Gully kichernd. »Aber weißt du,« setzte er in ernsterem Tone hinzu, »wenn du es wirklich so meinst – Donnerwetter ja, dann komme ich mit. Wilson hat mir gerade tausend Zeilen Strafarbeit aufgegeben – der Teufel soll mich holen, wenn ich sie ihm mache.«

»Gully,« meinte Cashel, während sich seine Brauen herniedersenkten und mit einem fast abstoßenden Ausdruck in dieser Lage verblieben, »ich möchte es nur ein einziges Mal sehen, wenn einer von den Kerls, die wir draußen auf der Wiese getroffen haben, auf den Doktor losginge – einmal so richtig zwischen den Seilen, weißt du?«

Gully lief das Wasser im Munde zusammen.

»Ja, da hast du recht,« flüsterte er mit verhaltenem Atem. »Besonders der eine Kerl, den sie Flibber nannten. Nur eine einzige Runde – damit hätte das alte Ungeheuer genug! Laß uns jetzt nur lieber auf den Spielplatz hinausgehen. Wenn sie mich hier erwischen, dann kriege ich's wieder.«

II.

Während der folgenden Nacht kämpfte sich gerade genug Licht durch das Gewölk, um Panley Common wie eine schwarze Masse erscheinen zu lassen, von deren hellsten Tönungen ein Stück Ebenholz sich bleich abgehoben hätte. Kein menschliches Wesen regte sich auf einer Meile im Umkreis von Moncrief House, dessen Schornsteine auf der dem Monde zugekehrten Seite geisterhaft weiß erschienen und lange Schatten auf das silbergraue Schieferdach warfen.

Die Stille war gerade durch das Schlagen einer fernen Turmuhr unterbrochen worden, die eine Viertelstunde nach Mitternacht angab, als ein Kopf aus dem Dunkel einer der Schornsteinschatten hervortauchte. Dieser Kopf gehörte einem Knaben, dessen Körper sich bald darauf durch eine offene Dachluke wand. Sobald er seine Schultern hindurchgebracht hatte, drehte er sich mit dem Gesicht nach oben um; dann ergriff er den kleinen Fenstergiebel, in den die Luke eingelassen war, zog sich schließlich ganz heraus und schlich sich verstohlen bis an die Brustwehr hinunter; ein zweiter Knabe folgte ihm auf dem Fuß.

Die Tür von Moncrief House befand sich an der linken Seite der Vorderfront und wurde von einem mächtigen Bogen überdacht, dessen obere Seite abgeflacht war und als Balkon benutzt werden konnte. Eine Mauer in derselben Höhe wie dieser Torbogen verband die Hausfront mit der Umfriedigungsmauer und bildete einen Teil der Einfassung des Obstgartens, der zur Seite des Hauses zwischen dem Rasen und dem Spielplatz gelegen war.

Als die beiden Knaben auf der Brustwehr entlang bis zu einer Stelle gerade über dem Torbogen geklettert waren, machten sie halt; jeder von ihnen ließ mit Hilfe einer Angelschnur ein Paar Stiefel auf den Balkon hinunter. Sobald die Fußbekleidungen sicher an ihrem Bestimmungsort gelandet waren, ließen deren Eigentümer die Schnur fallen und zogen sich durch eine andere Dachluke wieder ins Haus zurück. Eine Minute verging. Dann kamen sie auf der oberen Seite des Torbogens wieder zum Vorschein, und zwar durch die Fenstertür, der er als Balkon diente. Hier zogen sie ihre Stiefel an und setzten ihre Wanderung in der Richtung der Obstgartenmauer fort. Wahrend dieser Kletterpartie wandte sich der zweite der Knaben an den vorderen:

»Hör' mal, Cashy!«

»Halt's Maul! Willst du wohl!« entgegnete der andere mit verhaltenem Atem. »Was ist denn los?«

»Ich möchte nur Mutter Moncriefs Birnbaum noch einen Besuch abstatten. Weiter nichts.«

»In dieser Jahreszeit sind doch keine Birnen dran, du Hanswurst!«

»Das weiß ich. Dies ist das letztemal, daß wir diesen Weg zurücklegen, Cashy. Das macht doch einen riesigen Spaß, was?«

»Wenn du dein Maul nicht hältst, dann wird es nicht das letztemal sein – du wirst einfach abgefangen. So, jetzt paß auf!«

Cashel war am Mauerende angelangt; er endigte seinen Satz, indem er sich von der Mauerkrone auf den Wiesenboden herunterfallen ließ. Gully hielt den Atem einen Augenblick an, als das Geräusch, das sein Begleiter bei der Berührung des Bodens hervorgerufen hatte, an sein Ohr schlug. Dann erkundigte er sich im Flüstertone, ob alles in Ordnung sei.

»Jawohl,« entgegnete Cashel ungeduldig. »Laß dich so leise, wie du kannst, heruntergleiten.«

Gully gehorchte; er wendete eine derartige Vorsicht an, damit sein Abstieg nicht den Boden erschüttern und somit den Doktor aufwecken sollte, daß er das Aufschlagen mit den Füßen vermied. Er landete in sitzender Stellung, verblieb einige Augenblicke in dieser Lage und sah mit verblüfftem Gesicht zu Cashel auf.

»Herrje, herrje,« rief er plötzlich, »das war ein wüster Unsinn!«

»Mach, daß du hochkommst!« befahl Cashel. »So einen verrückten Esel wie dich habe ich noch nie gesehen. Steh doch endlich auf! Hast du wieder Puste?«

»Das will ich meinen. Ich wette mit dir, daß ich der erste am Kreuzweg bin. Hör mal: wir wollen die Klingel an der Vordertür ziehen und noch einmal einen fürchterlichen Lärm schlagen, ehe wir losgehen! Sie kriegen uns ja doch nicht mehr zu fassen.«

»Jawohl,« entgegnete Cashel ironisch. »Es schwante mir schon, daß ich es selbst tun würde – oder du. Vorwärts also! Eins, zwei, drei – und nu los!«

Sie begannen zusammen zu rennen und erreichten den Kreuzweg ungefähr acht Minuten später: Gully war völlig außer Atem, Cashel fast ebenso.

Ihrer Verabredung gemäß sollte Gully hier den Weg nach Norden einschlagen und nach Schottland laufen, woselbst seines Onkels Wildhüter ihn schon verbergen würde. Cashel wollte sich der See zuwenden, um auf diese Weise, falls seine Lage unhaltbar werden sollte, wenigstens Seeräuber werden und sich in diesem Beruf eine hervorragende Stellung erwerben zu können, indem er den etwas wilden Tugenden, für die dies Metier schon bekannt war, einen Zug ritterlicher Menschlichkeit beimengte.

Cashel wartete, bis Gully sich von dem Wettlauf erholt hatte; dann sagte er:

»So, alter Junge – jetzt müssen wir uns trennen.«

Da Gully sich den mit dem Ausblick auf Alleinsein verbundenen Wirklichkeiten seines Plans von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt sah, begann er daran Mißfallen zu finden. Er überlegte einen Augenblick:

»Weiß der Teufel, altes Haus – ich gehe lieber mit dir. Schottland soll sich meinetwegen hängen lassen!«

Cashel aber, der der energischere von beiden war, lag ebensoviel daran, Gully loszuwerden, wie Gully, sich an ihn zu klammern.

»Nein,« entgegnete er, »ich will sehen, wie ich mich durch die Welt bringen kann – und dazu bist du nicht gemacht. Du bist nicht kräftig genug fürs Seeleben. Ich sage dir, Mensch, diese Seeleute sind so hart wie Eisen – und sie können's doch kaum aushalten.«

»Na schön, dann kommst du eben mit mir,« drang Gully in ihn. »Meines Onkels Wildhüter ist das ganz egal. Er ist ein famoser Kerl – und wir können so viel jagen und schießen, wie wir nur wollen.«

»Dir, Gully, paßt das alles sehr gut in deinen Kram. Ich kenne aber deinen Onkel nicht. Und außerdem habe ich keine Lust, seinem Wildhüter um den Bart zu gehen. Schließlich würden wir auch Gefahr laufen, eingefangen zu werden, wenn wir zusammen über Land wanderten. Du kannst mir glauben, ich wäre nur zu froh, wenn wir beieinander bleiben könnten – es geht aber nicht. Ich bin sicher, wir würden erwischt. Adieu.«

»Warte doch noch einen Augenblick!« bat Gully. »Angenommen, sie versuchen, uns einzufangen – dann haben wir ihnen gegenüber doch zu zweien eine bessere Chance.«

»Blech!« entgegnete Cashel. »Das ist lauter kindischer Unsinn! Man wird mindestens sechs Polizisten hinter uns herschicken. Und selbst wenn ich mein Bestes leistete – ich würde höchstens mit zweien von ihnen fertig werden, wenn sie auf uns los gingen. Du könntest kaum gegen einen deinen Mann stehen. Du gehst jetzt einfach los und hältst dich von allen Eisenbahnstationen fern – dann wirst du schon unangefochten nach Schottland durchkommen. Paß auf: wir haben schon fünf Minuten verloren. Ich habe jetzt wieder Luft auf – ich mache, daß ich fortkomme. Adieu.«

Gully hielt es unter seiner Würde, Cashel seine Begleitung noch weiter aufzudrängen. »Adieu,« sagte er, indem er ihm traurig die Hand schüttelte. »Und viel Erfolg, alter Junge!«

»Viel Erfolg,« wiederholte Cashel, indem er Gullys Hand mit einem Gemisch reuevollen Bedauerns über die Trennung ergriff. »Sobald ich dir etwas mitzuteilen habe, werde ich dir schreiben. Es wird aber, wie du dir wohl denken kannst, einige Monate dauern, bis ich mit allem in Ordnung bin.«

Noch einmal gab er ihm einen herzhaften Händedruck, dann ließ er ihn los und rannte den Weg entlang, der nach dem Dorfe Panley führte.

Gully sah ihm einen Augenblick nach – und dann lief er schottlandwärts davon. – –

Das Dorf Panley ist nur ein Stück Hauptstraße mit einem altmodischen Gasthaus an dem einen, einer modernen Eisenbahnstation mit zugehöriger Brücke am anderen Ende, einem Teich und einer Pumpe in der Mitte. Cashel machte eine Weile im Schatten der Brücke halt, ehe er sich auf die breite, mondbeschienene Straße wagte. Da er niemand bemerkte, schritt er rüstig vorwärts; er war mittlerweile durch Nachdenken zu dem Schluß gelangt, daß er unmöglich bis zur Nordküste von Südamerika laufen könnte.

Nun trieb sich aber seltsamerweise außer Cashel noch jemand im Dorf umher. Dieser Jemand war Mr. Wilson, Doktor Moncriefs Mathematiklehrer, der von einem Theaterbesuch zurückkehrte. Mr. Wilson huldigte dem Glauben, daß Theater höchst verwerfliche Örtlichkeiten waren und von respektablen Leuten nur bei seltenen Anlässen und dann auch nur heimlich aufgesucht werden dürften. Die einzigen Stücke, denen er offenkundig seine zuschauerliche Gegenwart zugestand, waren die Shakespeares; sein Lieblingsstück war ›Was Ihr wollt‹, insofern Rosalinde in Trikots eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausübte, die er seitens der Lady Macbeth in Röcken vermißte. An diesem Abend hatte er Rosalinde von einer berühmten Schauspielerin dargestellt gesehen, die auf einer Paraderollentournee eine benachbarte Stadt beglückte. Nach der Vorstellung war er nach Panley zurückgekehrt, um dort mit einem Bekannten zu Abend zu essen, und befand sich nunmehr auf dem Heimwege nach Moncriefs House.

Er war gerade in einer Stimmung, die ihn zum Fang eines durchgegangenen Schuljungen geneigt gemacht hätte. Seine gewohnheitsmäßige, selbstbeglückende Freude über die Tatsache, daß er für seine Schüler eigentlich viel zu klug war, ein Bewußtsein, das durch seine verhältnismäßig höheren Leistungen in der Mathematik des öfteren Nahrung fand, wurde jetzt gerade durch die Folgeerscheinung eines freigebigen Soupers und durch die durchtriebene Lustigkeit über seinen Theaterbesuch zu erhöhter Betätigung gereizt.

Er sah und erkannte Cashel, als er sich dem Dorfteich näherte. Mit sofortigem Verständnis für die Lage verbarg er sich hinter der Pumpe, wartete bis der ahnungslose Ausreißer sich ihm auf Armlänge näherte, sprang dann mit einem Satz hervor und ergriff ihn an seinem Jackenkragen.

»Nanu, junger Herr?« rief er. »Was treiben Sie hier zu dieser Stunde?«

Cashel war zu Tode erschrocken und leichenblaß; er starrte ihn an und vermochte kein Wort hervorzubringen.

»Komm nur jetzt gleich mit,« befahl Wilson in strengem Tone.

Cashel ließ sich einige zwanzig Ellen weit willenlos führen. Dann blieb er stehen und brach in Tränen aus.

»Es hat keinen Zweck, daß ich zurückgehe,« meinte er. »Ich habe noch niemals zu etwas getaugt. Ich kann nicht zurück.«

»Ach, nicht möglich?« entgegnete Wilson mit lebhaftem Sarkasmus. »Wir werden schon das Nötige dazu tun, damit du in Zukunft mehr taugst.« Und damit zwang er den Flüchtling zum Weitermarschieren.

Cashel empfand seine eigenen Tränen als eine bittere Erniedrigung und war völlig verzweifelt über ein gewisses kühles Triumphgefühl, das Wilson, da er sie bemerkte, offenkundig zur Schau trug; und so ging er denn nur wenige Schritte ohne einen erneuten Protest weiter.

»Sie brauchen mich nicht festzuhalten,« sagte er ärgerlich. »Ich kann auch ohnedem gehen.«

Der Lehrer griff fester zu und stieß seinen Gefangenen vorwärts.

»Ich laufe schon nicht weg, Herr Wilson,« bat Cashel unterwürfig mit einem neuen Tränenerguß. »Bitte, lassen Sie mich los,« fügte er mit erstickender Stimme hinzu, indem er sein Gesicht seinem Bezwinger zuzuwenden trachtete.

Wilson aber drehte ihn wieder nach vorn und schob ihn weiter.

»Lassen Sie mich los!« schrie Cashel leidenschaftlich, indem er sich freizuwinden versuchte.

»Nur ruhig Blut, Byron,« ermahnte der Lehrer, indem er ihn mit seiner breiten, starken Hand im Zaume hielt. »Lassen Sie nur hier allen Ihren Unsinn beiseite, junger Freund!«

Plötzlich glitt Cashel aus seiner Jacke, wendete sich zu Wilson um und versetzte ihm mit seiner rechten Faust einen wuchtigen Hieb. Der Schlag traf den Lehrer gerade neben der Spitze seines Kinns; Cashel war es, als ob Wilsons Augen herausquollen und dann wieder mit einem Stoß in den Kopf zurücksanken.

Einen Augenblick lang taumelte der Mathematiker vorwärts; dann fiel er mit dem Gesicht nach unten in sich zusammen.

Cashel wich zurück; er spreizte seine Finger, um das Prickeln in den Knöcheln loszuwerden; bei dem Gedanken an die Möglichkeit eines Mordes bemächtigte sich seiner eine entsetzliche Angst.

Bald darauf aber regte sich Wilson und verscheuchte somit jegliche Befürchtung dieser Art. Cashels Wut quoll von neuem in ihm auf, als er die erhobene Faust gegen seinen gefällten Gegner schüttelte und ihm zurief:

»Du wirst nicht viel damit herumprahlen, daß du mich hast weinen sehen!« Dann entriß er ihm mit unnötiger Heftigkeit seine Jacke und rannte, so schnell er konnte, von dannen.

Mr. Wilson gelangte bald zur Besinnung und war wohl imstande, sich zu regen; doch fühlte er sich anfänglich zu keinerlei Bewegung geneigt. Er begann zu stöhnen, und zwar in der unbestimmten Hoffnung, daß sich ihm irgend jemand mit Anteilnahme und Hilfeleistung nähern möchte. Die verrinnende Zeit aber brachte nichts anderes als ein zunehmendes Kälte- und Schmerzgefühl. Es gelangte ihm zum Bewußtsein, daß die Polizei, falls sie ihn dort anfand, ihn für betrunken halten könnte; desgleichen die Tatsache seiner Verpflichtung, die Polizei aufzusuchen und zu alarmieren. Er erhob sich und gelangte dann nach einigem Kampf mit seinem Schwindelgefühl und seiner Übelkeit zu dem endgültigen Schluß, daß seine vornehmste Pflicht darin bestände, schleunigst sein Bett aufzusuchen und es Doktor Moncrief zu überlassen, seinen rauhbeinigen Schüler so gut er konnte wieder einzufangen.

Um halb eins wurde Doktor Moncrief durch ein Klopfen an seiner Schlafzimmertür erweckt, allwo er beim Heraustreten seinen Mathematiklehrer zerschunden, schmutzig und offenbar berauscht vorfand. Mehrere Minuten vergingen, bevor Wilson den Gedankengang seines Vorgesetzten auf die richtige Spur zu lenken vermochte. Dann wurden die Schüler geweckt und die Namen aufgerufen. Byron und Molesworth wurden als abwesend gemeldet. Kein Mensch hatte sie fortgehen sehen; kein Mensch hatte eine Ahnung, wie sie aus dem Hause gelangt wären. Ein kleiner Knabe gestattete sich einen Hinweis auf die Dachluke; da er aber den drohenden Ausdruck auf den Gesichtern einiger größerer Jungen bemerkte, die eine Vorliebe für Obst besaßen, so verlieh er seinem Hinweis keinen weiteren Nachdruck und ließ es ruhig über sich ergehen, als der Doktor ihn wegen seiner vorlauten Bemerkung rüffelte.

Als der Alarmruf das Dorf erreichte, war es bereits drei Uhr; und die Behörde weigerte sich stillschweigend, sich vor Tagesanbruch mit der Angelegenheit zu befassen. Der Doktor war fest davon überzeugt, daß der Knabe seine Mutter aufgesucht hatte, und hielt daher jede weitere Nachforschung für überflüssig. Er gab sich mit einigen Zeilen an Mrs. Byron zufrieden, der er den Angriff auf Mr. Wilson beschrieb und seinem Bedauern darüber Ausdruck verlieh, daß er fürderhin leider keinerlei Vorschlägen zugänglich wäre, die eine Wiederaufnahme des jungen Byron in sein Institut zum Ziele haben könnten.

Die Verfolgung richtete sich demgemäß lediglich auf Molesworth, insofern es nach Mr. Wilsons Erzählung klar zutage trat, daß er sich außerhalb des Dorfes Panley von Cashel getrennt haben mußte. Bald darauf trafen auch Nachrichten ein. Überall in der Umgegend hatten Bauern einen Jungen, ›der es wohl sein könnte‹, gesehen. Die Nachforschungen dauerten bis fünf Uhr nachmittags und wurden dann dadurch beendigt, daß Gully persönlich, reumütig und mit wundgelaufenen Füßen wieder auftauchte. Nach seiner Trennung von Cashel hatte er zwei Meilen zurückgelegt, dann den Mut verloren und den Rückweg angetreten. Auf halber Entfernung zu dem Kreuzweg konnte er sich den Selbstvorwurf der Feigheit nicht ersparen und nahm dann seine Flucht von neuem auf. Diesmal legte er sechs Meilen zwischen sich selbst und Moncrief House. Dann wich er von der Hauptstraße ab, um den Weg durch einen Marsch durch eine Anpflanzung abzuschneiden, und verirrte sich. Nachdem er in höchst niedergeschlagener Stimmung bis zum Morgen umhergewandert war, bemerkte er eine Frau bei der Feldarbeit und fragte sie nach dem kürzesten Wege nach Schottland. Sie hatte von Schottland nie gehört. Und als er sich bei ihr nach dem Wege nach Panley erkundigte, da wurde sie mißtrauisch und drohte, den Hund nach ihm zu hetzen. Dieser Zwischenfall entmutigte ihn dermaßen, daß er sich fürchtete, die übrigen fremden Leute, denen er begegnete, anzureden. Indem er sich nach dem Stand der Sonne richtete, schwankte er je nach den Fluktuationen seines Mutes zwischen Schottland und Panley. Schließlich gab er dem Hunger, der Übermüdung und dem Gefühl der Vereinsamung nach, widmete den Rest seiner Energie der Aufgabe, den Rückweg zur Schule zu finden, erreichte die große Wiese und entschloß sich zur Kapitulation vor dem Doktor, der ihn mit augenblicklicher Ausstoßung bedrohte. Über die Aussicht, den Ort, von dem er soeben davongelaufen war, nunmehr gewaltsam verlassen zu müssen, war Gully über alle Maßen betrübt; er bat den Doktor ernstlich und reumütig, es doch noch einmal mit ihm zu versuchen. Sein Gebet fand Erhörung. Nach einer langen Standrede zog der Doktor die Tatsache in Betracht, daß Gully zwar durch das Beispiel eines verwerflichen Kumpanen irregeleitet worden wäre, dann aber durch seine freiwillige Rückkehr die Aufrichtigkeit seiner Reue bewiesen habe – daß er ferner an der Gehirnerschütterung, an der Mr. Wilson zu leiden vorgab, nicht beteiligt sei; er nahm demzufolge das Versprechen der Besserung an und gestand ihm straflose Verzeihung zu. Im Anschluß hieran versuchte Gully zum ersten Male in seinem Leben die Rolle des fleißigen und braven Schuljungen zu spielen; die Sicherheit, das Ansehen und die eigene Befriedigung, die er sich hierdurch erwarb, machten einen derartig nachhaltigen Eindruck auf ihn, daß er diese Rolle bis zum Ende seiner Schultage aufrecht erhielt. Dabei ging er keineswegs der Wertschätzung seiner Kameraden verlustig; es gelang ihm nämlich, sie kraft der Redefreiheit seiner vertraulichen Mitteilungen davon zu überzeugen, daß seine Besserung lediglich eine angenommene Heuchelei wäre, für die der gemeinsame Feind, ›der Olle‹, den unbemitleideten Gimpel hergab.

Mittlerweile hatte Mrs. Byron die Wichtigkeit der Mitteilung Doktor Moncriefs nicht vorausgesetzt und, da sie sich bei der Ankunft des Schreibens gerade in Eile befand, es, in der Absicht, es später mit Muße zu lesen, uneröffnet beiseite gelegt. Sie hätte den Brief völlig vergessen, wenn nicht zwei Tage später ein zweites Schreiben eingetroffen wäre, das um eine Empfangsbestätigung der voraufgegangenen Mitteilung bat. Sobald sie die Tragweite der Tatsache erkannte, fuhr sie augenblicklich nach Moncrief House und beschimpfte daselbst den Doktor, wie er niemals vorher in seinem Leben beschimpft worden war.

Nach Beendigung dieses Gefühlsausbruchs bat sie ihn um Entschuldigung und flehte ihn an, ihr bei der Suche nach ihrem geliebten Kinde behilflich zu sein. Auf seine Andeutung hin, für sachdienliche Auskunft und erfolgreiches Aufgreifen des Knaben eine Belohnung auszusetzen, weigerte sie sich voll Empörung, einen roten Heller für den undankbaren, mißratenen Jungen auszugeben. Sie weinte und überschüttete sich mit Selbstvorwürfen, ihn durch ihre Lieblosigkeit davongejagt zu haben; sie wütete und klagte den Doktor wegen seiner unfreundlichen Behandlung an; schließlich äußerte sie sich dahin, daß sie hundert Pfund dafür auszugeben bereit wäre, wenn sie Cashel zurückbekäme – daß sie aber niemals wieder das Wort an ihn richten würde. Der Doktor versprach, die nötigen Nachforschungen in die Wege zu leiten: er würde alles versprochen haben, um seine Besucherin loszuwerden. Die Belohnung wurde in Höhe von fünfzig Pfund ausgesetzt. Mochte nun Cashel durch die Furcht, wegen Körperverletzung den Klauen des Gesetzes zum Opfer zu fallen, zu außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln getrieben worden – mochte es ihm in den vier Tagen zwischen seiner Flucht und der Aussetzung der Belohnung gelungen sein, das Land zu verlassen – die Bemühungen des Doktors erwiesen sich als zwecklos, und er sah sich gezwungen, Mrs. Byron diesen Mißerfolg anzuzeigen.

Sie überraschte ihn aufs angenehmste durch einen liebenswürdigen Brief, in dem sie den ganzen Zwischenfall als höchst ärgerlich bezeichnete und sich dazu bekannte, dem Doktor niemals für all die Mühe, deren er sich unterzogen, ausreichend danken zu können. Und hiermit wurde die Angelegenheit fallen gelassen.

III.

Um diese Zeit gab es in der Stadt Melbourne in Australien ein Holzgebäude, über dessen Tür ein Schild mit folgender Inschrift prangte: Gymnasium and School of Arms. In dem langen, schmalen Eingangsflur hing ein eingerahmter Anschlag und verkündete, daß Ned Skene, Ex-Champion von England und den Kolonien, daselbst zur Belehrung von Herren bereit wäre, die in der Kunst der Selbstverteidigung Bedeutendes zu leisten wünschten; ferner die Bedingungen, unter welchen Mrs. Skene mit Hilfe eines kompetenten Lehrpersonals Unterricht im Tanzen, Turnen und in der Anstandslehre erteilte.

Eines Abends saß ein Mann rauchend auf einem gewöhnlichen Küchenschemel vor der Schwelle des Etablissements. Neben ihm lag ein Hammer mit einigen Stiften. Er hatte gerade eine Karte an den Türpfosten genagelt, auf der in weiblicher Handschrift zu lesen stand: ›Gesucht ein männlicher Gehilfe, der in der Buchführung bewandert ist. Auskunft im Hause.‹ Der eifrige Raucher war ein kraftvoller Mann mit einem mächtigen Nacken, der unter seinen breiten Ohrläppchen hervorquoll. Er hatte kleine Augen und große Zähne, über denen sich die Lippen leicht zu einem Lächeln öffneten, das gutmütig, aber gezwungen selbstgefällig war. Sein Haar war schwarz und kurz geschnitten, seine Haut wetterfest und sein Nasenbein eingeschlagen, so daß es mit dem Rest des Gesichtes eine Fläche bildete; die Nasenspitze hingegen war völlig unversehrt, sie war dick und glänzend. Da sie dem Gesamtaussehen der Nase den Anschein verlieh, als ob es sich wieder zu seiner ursprünglichen Form ausdehnen wollte, so rief sie einen bescheidengedrückten Eindruck hervor, der das sonst furchtgebietende Äußere des Mannes etwas milderte und ihn als einen wahrscheinlich recht anspruchslosen und zugänglichen Menschen empfahl, sofern er nüchtern und nicht gereizt war. Er schien ungefähr fünfzig Jahre zu zählen, trug einen weißen Leinenanzug und einen Strohhut.

Noch ehe er seine Pfeife zu Ende geraucht hatte, lenkte die Karte am Türpfosten die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf sich, der ein grobes Seemannstrikot trug und ein Paar grauer Tweedhosen, aus denen er herausgewachsen war.

»Suchen Sie Beschäftigung?« fragte der Ex-Champion von England und den Kolonien.

Der junge Mensch errötete und entgegnete: »Jawohl. Ich möchte wohl Arbeit finden.«

Mr. Skene betrachtete ihn mit ernster Neugier. Seine Berufstätigkeit hatte ihn an Wesen und Sprache des englischen Gentleman gewöhnt; er erkannte den dürftig gekleideten Schiffsjungen augenblicklich als einen Zugehörigen dieser Klasse.

»Sie sind wohl ein Student?« fragte der Preisboxer nach einigem Nachdenken.

»Auf einer höheren Schule war ich schon – nur habe ich da nicht sehr viel gelernt. Ich glaube aber, daß ich die doppelte Buchführung schon könnte.«

»Doppelte Buchführung? Was ist das?«

»Na, so werden bei Kaufleuten die Bücher geführt. Man nennt das so, weil alles doppelt gebucht wird.«

»Aha,« meinte Skene, auf den dieses System keinen sonderlich befriedigenden Eindruck machte. »Einmal genügt mir vollkommen. Wieviel wiegen Sie?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete der junge Mensch grinsend.

»Sie kennen nicht einmal Ihr eigenes Gewicht? Das ist nicht die richtige Art und Weise im Leben weiterzukommen.«

»Es ist schon lange her, daß ich in England gewogen worden bin,« entgegnete der andere, da er seiner Schüchternheit Herr zu werden begann. »Damals wog ich hundertundsechs Pfund. Ich bin also nur ein Leichtgewichter, wie Sie sehen.«

»Was wissen Sie denn von Leichtgewichtern? Oder sollten Sie vielleicht, da Sie eine so gute Erziehung genossen haben, auch boxen können?«

»Mit Ihnen, glaube ich, könnte ich wohl kaum boxen,« entgegnete der Jüngling mit erneutem Grinsen.

Skene kicherte vor sich hin; der Fremdling aber erzählte ihm mit knabenhafter Mitteilsamkeit von einem regelrechten Boxen – offenbar von einem Zweikampf zwischen professionellen Pugilisten – dem er in England beigewohnt hatte. Dann schilderte er weiter, wie er selbst einen Schullehrer mit einem einzigen Hieb zu Boden gestreckt habe, und zwar als er aus der Schule fortrannte. Skene nahm diesen Bericht etwas skeptisch auf, unterzog den Erzähler einem Kreuzverhör über die Art und das Resultat des Hiebes und gelangte auf diese Weise zu dem Schluß, daß der Bericht auf Wahrheit beruhe. Nach Verlauf einer Viertelstunde hatte der junge Mann sich durch seine Sprechweise so gut empfohlen, daß der Champion ihn ins Gymnasium hineinführte, ihn daselbst abwog, sein Maß nahm, ihm schließlich ein paar Boxerhandschuhe einhändigte und ihn aufforderte, sein Können zu zeigen.

Wenngleich der junge Mann aus der Haltung des Preisboxers die hoffnungslose Unmöglichkeit entnahm, ihm beikommen zu können, so ging er doch mehrere Male voll Kühnheit auf ihn los und stieß sich hierbei jedesmal sein Gesicht an Skenes linker Faust, die allgegenwärtig zu sein und wie die Widerstandsfähigkeit des Eisens auf gepolstertes Leder zu wirken schien. Schließlich richtete der Neuling einen leidenschaftlichen Angriff auf die Nase des Champions und hob sich zu diesem Zweck auf seine Zehenspitzen. Skene wehrte den Hieb mit einem Stoß seines rechten Ellenbogens ab, so daß der jugendliche Heißsporn zurücktaumelte und stolperte, bis er rücklings in eine Ecke fiel und hierbei seinen Kopf in unsanfte Berührung mit dem Fußboden brachte. Er erhob sich mit unbeeinträchtigter Vergnügtheit und erklärte sich bereit, den Kampf fortzusetzen; Skene aber verzichtete für den Augenblick auf alle weiteren Übungen dieser Art, doch war er von den taktischen Leistungen seines Jüngers in solchem Maße befriedigt, daß er ihm eine kunstgemäße Ausbildung zu erteilen und einen Mann aus ihm zu machen versprach.

Der Champion ließ zunächst seine Frau rufen, die er als eine unvergleichlich kluge, mit außerordentlich guten Manieren begabte Dame zu verehren schien. Der Ankömmling indes vermochte in ihr lediglich eine etwas lächerliche Tanzmeisterin zu erblicken; doch kam er ihr mit ausgesuchter Höflichkeit entgegen und verbesserte somit die hohe Meinung, die sich Skene bereits über ihn gebildet hatte.

Er erzählte ihr, wie er nach seiner Flucht aus der Schule bis nach Liverpool durchgekommen, an den Hafen hinuntergegangen sei und es fertiggebracht habe, sich auf einem nach Australien bestimmten Schiff zu verbergen; wie er dann weidlich Hunger und Durst gelitten, ehe er aus seinem Schlupfwinkel hervorkam; wie er trotz seiner etwas peinlichen Situation als blinder Passagier doch verhältnismäßig gut behandelt worden sei, nachdem er seine Bereitwilligkeit zur Arbeit gezeigt habe. Zum Beweise seiner anhaltenden Arbeitswilligkeit und des Nutzens seiner maritimen Erfahrungen erklärte er sich bereit, sofort den Fußboden des Gymnasiums zu scheuern. Dieser Vorschlag überzeugte Skene, der der Erzählung ebenso aufmerksam gefolgt war wie Kinder einem Märchen lauschen, von der Tatsache, daß der Ankömmling nicht zu sehr Gentleman war, um auch schwere Arbeit zu verrichten; demzufolge kam man gleich dahin überein, daß er in Zukunft Wohnung, Kost und fünf Schilling die Woche als Taschengeld erhalten sollte – und zwar in seiner Eigenschaft als eine Art ›Mann für alles‹, als Bedienter, als Gymnasiumsangestellter, Kommis und Spezialschüler des Ex-Champions von England und der Kolonien.

Er fand bald genug heraus, daß seine Aufgabe keine leichte war. Das Gymnasium wurde von neun Uhr morgens bis elf Uhr nachts offengehalten; und die dem athletischen Sport geneigten Herren Besucher kommandierten ihn nicht nur sehr unzeremoniell umher, sondern sie brachten auch etwas Abwechslung in die Einförmigkeit ihrer aussichtslosen Zweikämpfe mit dem unbesiegbaren Skene, indem sie dessen gute Lehren an der Persönlichkeit des Lehrjungen in die Tat umsetzten, ihn nach Herzenslust herumstießen, rückwärts, vorwärts und über ihre Schultern warfen, als ob er eine empfindungslose, eigens zu diesem Zweck bestimmte Figur gewesen wäre. Der Champion sah untätig zu und lachte, weil er aus Faulheit sein Versprechen, den Novizen in der Kunst der Selbstverteidigung zu unterweisen, nicht einzulösen geneigt war. Indes verfolgte dieser letztere den den übrigen erteilten Unterricht mit gespannter Aufmerksamkeit; ehe der Monat zu Ende ging, brachte er das Blättchen mit den Amateurfaustkämpfern von Melbourne derartig nachhaltig zum Wenden, daß Skene eines Tages die Gelegenheit zu einer Bemerkung des Sinnes ergriff, daß der Neuling wohl ungewöhnliche Fortschritte zu verzeichnen habe, daß Gentlemen es jedoch gern sähen, wenn man glimpflich mit ihnen umginge, und er demgemäß Sorge tragen möge, sie nicht gar zu unsanft anzufassen. Außer diesen Anforderungen körperlicher Art lag es ihm noch ob, über gekaufte und verkaufte Handschuhe und Rapiere, sowie über die sowohl Herrn als auch Frau Skene zukommenden Bezahlungen Buch zu führen. Dies war der bei weitem anstrengendere Teil seiner Pflichten: er schrieb eine räumlich ausgedehnte Schuljungenhandschrift und war beim Rechnen nicht sonderlich geschickt. Als er schließlich seinem Lehrer bei Erteilung des Unterrichts behilflich zu sein begann, trat die Buchführung zunehmend in den Hintergrund. Mrs. Skene selbst mußte sich ihr wieder zuwenden – übrigens eine Tatsache, die ihrem Gatten zur höchsten Befriedigung gereichte, insofern er hierin einen erneuten Triumph ihrer höherstehenden Intelligenz erblickte. Schließlich wurde dann ein Chinese zur Verrichtung der mehr dienstbotenartigen Obliegenheiten des Instituts angestellt. ›Skenes Novize‹ – wie er allgemein jetzt hieß – wurde zum Range eines Hilfslehrers des Champion erhoben und entfaltete sich im Gymnasium zu einer Persönlichkeit von gewisser Bedeutung.

Er hatte sich dort bereits über neun Monate aufgehalten und sich zu einem athletischen jungen Mann von achtzehn Jahren mit geziemendem Scharfblick für kleine Trinkgelder, sowie zu einer von der halben Krone bis zum Pfundstück recht hübsch abgestimmten Stufenleiter verschiedener ›Danke schön, mein Herr‹ entwickelt, als schließlich zwischen ihm und seinem Prinzipal eine Unterredung von weittragender Gewichtigkeit stattfand.

Es war gegen Abend; die einzigen im Gymnasium anwesenden Persönlichkeiten bestanden aus Ned Skene, der seinen Rock abgelegt hatte und gemächlich rauchend dasaß, – und dem Novizen, der gerade von seinem Schlafzimmer herunterkam, woselbst er mit den nötigen Vorbereitungen zu einem Theaterbesuch beschäftigt gewesen war.

»Nun, mein Herr Kavalier,« meinte Skene etwas spöttisch, »Sie sind ja das echte Gigerl, das muß ich sagen. Handschuhe auch noch! Die sind Ihnen ja viel zu klein. Daß Sie mir mit den Dingern nur auf niemand losschlagen – Sie könnten sich sonst die Hand verstauchen!«

»Nur keine Angst!« entgegnete der Novize mit einem Blick auf die Uhr. Da er sah, daß ihm noch einige Minuten blieben, setzte er sich Skene gegenüber.

»Ich glaub's selbst nicht,« stimmte der Champion bei. »Wenn Sie es erst einmal zu einem richtigen Berufsboxer gebracht haben, werden Sie auch mit niemand anbandeln, ohne daß Sie tüchtig dafür bezahlt bekommen.«

»Ich bin doch eigentlich schon berufsmäßig dabei. Einen Amateur können Sie mich nicht mehr gut nennen, nicht wahr?«

»Oh nein, so schlimm steht's nicht,« meinte Skene. »Nur müssen Sie wissen, junger Freund – ich nenne niemand einen richtigen Faustkämpfer, der nicht schon mal im Ring gestanden hat. Sie sind ein guter Boxer, und Sie machen Ihre Scheinhiebe sehr nett und geschickt. Das Wahre aber sind die Scheinhiebe nicht. Eines schönen Tages wollen wir mit Gottes Hilfe ein kleines Match für Sie arrangieren und dann zeigen, was Sie ohne Handschuhe leisten können.«

»Mir wäre es ohne Handschuhe schon lieber als mit Handschuhen,« entgegnete der Jünger etwas verdrießlich.

»Das kommt daher, daß Sie ein Herz haben wie ein Löwe,« erwiderte Skene beschwichtigend. Der Novize aber machte ein verstocktes Gesicht und sagte gar nichts; er war daran gewöhnt, daß sein Lehrer dies gleiche Kompliment stets bei seinen Kunden anbrachte, sobald diese von prahlerischen Anwandlungen befallen wurden, – was immer eintrat, wenn sie etwas abbekommen hatten.

»Als Sie heute bei Hauptmann Noble waren und ihm Stunde gaben – da war Sam Ducket aus Milltown hier,« erzählte Skene mit einem forschenden Blicke auf die Züge seines Schülers. »Sam also, der ist ein richtiger Faustkämpfer – das steht nun einmal fest.«

»Ich halte nicht viel von ihm. Zunächst ist er ein großer Lügner.«

»Das ist ein Fehler, den der Beruf so mit sich bringt. Ihnen kann ich's ja sagen,« meinte Skene fast wehmütig. Diese Tatsache hatte der Novize übrigens schon auf eigene Faust herausgebracht. So schenkte er beispielsweise den Erzählungen seines Lehrers keinen Glauben, mit denen dieser auf Grund von unvorhergesehenen Zwischenfällen und Komplotten seine dreimalige Niederlage im Ring zu begründen suchte. Indes dürfte Skenes folgende Bemerkung, insofern er aus fünfzehn Schlachten siegreich hervorgegangen war, für völlig einwandfrei gelten: »Die Leute boxen darum nicht schlechter, daß sie lügen. Sam Ducket ist mit Ebony Muley in zwanzig Minuten fertig geworden.«

»Allerdings,« entgegnete der andere verächtlich. »Und was ist Ebony Muley? Ein elender alter Neger von fast sechzig Jahren, der sieben Tage in der Woche betrunken ist und sich für ein Glas Schnaps zu einem Faustkampf hergeben würde! Ducket hätte ihn in zwanzig Sekunden kampfunfähig machen sollen. Ducket hat gar keine Kunst am Leibe!«

»Nicht die Bohne!« bestätigte Ned. »Dafür hat er aber einen Haufen Schliche und Tricks.«

»Unsinn! So wird's immer gedreht. Wenn einer zu boxen versteht, dann heißt es, er hätte wohl Kunst an sich, aber keine Schneid. Kann er aber seine rechte Hand nicht von der linken unterscheiden, so sagen sie, er hätte nicht viel los, aber dafür einen Haufen Tricks.«

Skene sah mit verstohlener Verwunderung zu seinem Schüler hinüber, dessen Fähigkeiten für Beobachtung und Ausdrucksform ihm zuweilen denen seiner Gattin den Rang streitig zu machen schienen. »Etwas Ähnliches hat Sam heute auch gesagt,« warf er hin. »Er meinte, Sie verständen sich nur auf Scheinhiebe und würden vor Angst umfallen, sobald Sie erst einmal in einem Vierundzwanzig-Fuß-Ring stünden.«

Der Novize brauste auf: »Wäre ich nur dagewesen, wie Sam Ducket das gesagt hat!«

»Wieso? Was hätten Sie denn mit ihm angefangen?« fragte der andere, wobei seine kleinen Äugelchen zwinkerten.

»Seinen Schädel hätte ich ihm verhauen!«

»Du lieber Himmel, guter Mann – er würde Sie bei lebendigem Leibe verzehren!«

»Er führt das große Maul, weil er weiß, daß ich kein Geld habe; er behauptet, daß er unter fünfzig Pfund Einsatz auf beiden Seiten nicht klar zum Gefecht macht.« »Was?« rief Skene. »Kein Geld? Ich kenne die Leute, die morgen vor Mittag fünfzig Pfund für irgendeinen zusammenschießen, der das Geld wert ist. Das wäre ein prächtiger Anfang für einen jungen Kerl! Teufel auch, ich habe in Tottenham das erstemal für fünf Schilling geboxt – und war nicht übel stolz, als ich sie mir verdiente. Immerhin – ich will Sie nicht gegen Ihren eigenen Wunsch veranlassen, mit einem Hauptkerl wie Sam Ducket anzubandeln. Sagen Sie mir aber nicht, daß das Geld nicht zu haben wäre!«

Der Novize zögerte noch. »Meinen Sie, ich sollte es tun, Ned?« fragte er.

»Darüber habe ich nicht zu bestimmen,« entgegnete Skene verschmitzt. »Ich weiß nur, was ich in Ihrem Alter gesagt hätte. Vielleicht aber tun Sie recht mit Ihrer Vorsicht. Wenn ich die Wahrheit gestehen soll – es wäre mir nicht angenehm, falls Sie von Leuten von Sam Duckets Schlage vermöbelt würden.«

»Wollen Sie mich trainieren, wenn ich ihn herausfordere?«

»Sie trainieren?« wiederholte Skene, indem er begeistert aufsprang. »Und ob ich Sie trainieren will – und mein ganzes Geld werde ich auch auf Sie setzen! Und ein wahres Feuerwerk sollen Sie aus ihm herausbleuen – so wahr ich Ned Skene heiße!«

Der Novize wurde ganz rot vor Erregung. »Dann,« rief er, »dann werde ich's mit ihm versuchen! Und wenn ich ihn schlage, so müssen Sie mir Ihren Gürtel als Champion für die Kolonien überlassen.«

»Das will ich gern tun,« erwiderte Skene freundlich. »Bleiben Sie nicht zu lange aus. Rühren Sie um des Himmels willen keinen Tropfen Alkohol an. Ihr Training muß morgen anfangen.«

So kam Cashel Byron zu seinem ersten professionellen Waffengang.


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