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Achtes Kapitel.

Eines Vormittags stellte sich ein hübscher, elegant gekleideter junger Mann in Downing Street ein und fragte nach Herrn Lucian Webber. Er weigerte sich seine Karte abzugeben und wünschte schlechtweg als ›Bashville‹ gemeldet zu werden. Lucian ließ ihn unverzüglich vor, zeigte sich bei seinem Eintreten sehr herablassend und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

»Ich danke, gnädiger Herr,« sagte Bashville sich setzend. An der Hand der etwas gewaltsam angenommenen Entschlossenheit im Wesen seines Besuchers kam es Lucian alsbald zum Bewußtsein, daß er sich in irgendeiner persönlichen Angelegenheit und nicht mit einer Botschaft seiner Herrin eingestellt hatte.

»Ich bin auf meine eigene Verantwortung gekommen, gnädiger Herr. Hoffentlich werden Sie mir meine Zudringlichkeit nicht verübeln.«

»Gewiß nicht. Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann, Bashville, so sprechen Sie sich nur ohne Bedenken aus. Fassen Sie sich aber, bitte, möglichst kurz. Ich bin derartig beschäftigt, daß ich jede Sekunde, die ich Ihnen widme, wahrscheinlich von meiner Nachtruhe zusetzen muß. Genügen Ihnen zehn Minuten?«

»Mehr als reichlich, gnädiger Herr – danke bestens. Ich möchte mir nur eine einzige Frage gestatten. Ich bin mir bewußt, damit die Grenzen meiner Stellung zu überschreiten – aber ich will die Gefahr auf mich nehmen: Weiß Miß Carew, wer dieser Mr. Cashel Byron ist, den sie jeden Freitag mit ihren übrigen Bekannten empfängt?«

»Ohne Zweifel weiß sie es,« entgegnete Lucian, der in seiner Haltung sofort kühler wurde und Bashville einen strengen Blick zuwarf. »Was geht denn Sie das an?«

»Wissen Sie, was er ist, gnädiger Herr?« erwiderte Bashville, indem er Lucians Augen nicht auswich. Dieser änderte sein Benehmen und legte einen Federhalter, der vom Gestell herabgeglitten war, auf seinen Platz zurück.

»Er gehört nicht zu meinen Bekannten,« meinte er dann. »Ich kenne ihn nur als einen von Worthingtons Freunden.«

»Gnädiger Herr,« sagte Bashville mit plötzlicher Heftigkeit, »er ist für Lord Worthington nicht mehr als irgendein Rennpferd, auf das Seine Lordschaft wettet. Da könnte ich mich ebensogut selbst als Worthingtons Freund aufspielen, weil ich ihn – wenn man's so nehmen will – in gewissem Sinne ja auch kenne. Byron gehört zum Ring, gnädiger Herr. Ein gewöhnlicher Preisboxer!«

Lucian erinnerte sich an die Ereignisse in Mrs. Hoskyns Hause und schenkte dieser Mitteilung unverzüglich vollen Glauben. Dennoch machte er einen schwachen Versuch, sich der Überzeugungskraft der Tatsachen zu erwehren. »Sind Sie dessen auch ganz sicher, Bashville?« fragte er. »Wissen Sie, daß Ihre Behauptung sehr schwerwiegender Art ist?«

»Es kann überhaupt nicht der geringste Zweifel obwalten, gnädiger Herr. Sie mögen in jede Kneipe in London gehen, wo minderwertige Sportsleute verkehren, und nach dem bekanntesten Faustkämpfer fragen – man wird Ihnen überall Cashel Byron nennen. Ich kenne seine ganze Geschichte, gnädiger Herr. Vielleicht haben Sie schon von Ned Skene reden hören; er war Champion – ungefähr als Sie noch die Schule besuchten.«

»Ich glaube, ich habe den Namen schon gehört.«

»Ganz recht, gnädiger Herr. Ned Skene also hat diesen Cashel Byron in den Straßen von Melbourne aufgelesen – als gewöhnlichen Schiffsjungen – und ihn dann für den Ring trainiert. Sie haben seinen Namen allenfalls schon in den Zeitungen gelesen. Die Sportblätter sind immer voll von ihm; vor einem Monat wurde er auch in der ›Times‹ erwähnt.«

»Artikel dieses Inhalts lese ich nie. Ich habe kaum genügend Zeit, die durchzusehen, die mich angehen.«

»So geht's eben mit jedermann, gnädiger Herr. Miß Carew denkt nie daran, die Sportnachrichten in den Zeitungen zu lesen; und daher kann er sich bei ihr als ihresgleichen einschleichen. Er ist bekannt dafür, daß er gern als Gentleman gelten möchte – verlassen Sie sich drauf, gnädiger Herr.«

»Ich habe es selbst bemerkt, daß sein Benehmen etwas eigentümlich ist.«

»Eigentümlich! Ich meine, ihm könnte ein Kind hinter die Kulissen gucken; er hat nicht einmal genug Verstand, sein eigenes Geheimnis zu wahren. Letzten Freitag war er bei uns im Bibliothekzimmer und blätterte in dem biographischen Lexikon, zu dem Miß Carew den Abschnitt über Spinoza beigetragen hat. Was meinen Sie, was er da sagte, gnädiger Herr? ›Das ist ein verdrehtes Buch!‹ hat er gesagt. ›Da stehen zehn volle Seiten über Napoleon und keine einzige über Jack Randall. Als ob ein Mann, der sich ehrlich geschlagen hat, nicht ebenso gut wäre wie der andere.‹ Nach der Art, wie Miß Carew diese Redensart auffaßte und ihn sozusagen über den Gegenstand ausfragte, merkte ich gleich, daß sie nicht ahnte, wen sie im Hause hatte. Und da entschloß ich mich, Sie in Kenntnis zu setzen, gnädiger Herr. Hoffentlich glauben Sie nicht, ich käme aus Bosheit jetzt hinter seinem Rücken hierher. Was aber dem einen recht ist, das ist dem andern billig. Wollte ich mich bei Miß Carew als Gentleman aufspielen, so würde ich's verdienen, als Schwindler bloßgestellt zu werden; und wenn er sich Vergünstigungen zu verschaffen sucht, die ihm nicht zukommen, so habe ich meiner Ansicht nach das Recht, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen.«

»Sicherlich, sicherlich!« erwiderte Lucian, den Bashvilles Beweggründe wenig kümmerten. »Dieser Byron ist wohl bei persönlichen Unannehmlichkeiten ein recht gefährlicher Patron, nicht wahr?«

»Er versteht sein Geschäft, gnädiger Herr. Ich habe, was Ringen anbetrifft, ein besseres Urteil als die meisten Professionellen; ich kann mich aber nicht erinnern, den Mann gesehen zu haben, der ihm hätte ein Haar krümmen können. So einfältig er auch sonst sein mag – er ist das wahre Boxergenie und hat Männer aller Größen, Gewichte und Farben abgefertigt. Jetzt ist ein neuer Mann namens Paradise aus den schwarzen Ländern aufgetaucht, der behauptet, ihn schlagen zu wollen. Ich glaub's aber nicht, bis ich's mit eigenen Augen sehe.«

»Na also,« meinte Lucian sich erhebend, »ich bin Ihnen für Ihre Auskunft sehr verbunden, Bashville. Ich werde auch Sorge tragen, daß Miß Carew erfährt, wie Sie –«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, gnädiger Herr,« entgegnete der Diener, »aber wenn es Ihnen recht ist, so wäre es mir lieber, eine solche Mitteilung erfolgte nicht. Ich bin nicht hierher gekommen, um mich auf Kosten eines andern lieb Kind zu machen; Miß Carew würde wahrscheinlich auch nicht viel von einer solchen Handlungsweise halten.« Lucian warf ihm einen schnellen Blick zu, wollte etwas einwenden, besann sich jedoch eines besseren. Bashville fuhr fort: »Sollte er es leugnen, so bitte ich, mich als Zeugen anzuführen. Ich werde es ihm dann ins Gesicht sagen, daß er lügt – selbst wenn er doppelt so gefährlich wäre. Diesen Fall aber ausgenommen, gnädiger Herr, möchte ich es als eine besondere Vergünstigung erbitten, meinen Namen Miß Carew gegenüber nicht zu erwähnen.«

»Ganz wie Sie wünschen,« erwiderte Lucian, seine Börse ziehend. »Sie haben damit vielleicht ganz recht. Nichtsdestoweniger sollen Sie sich nicht umsonst bemüht haben.«

»Das kann ich wohl nicht gut annehmen, gnädiger Herr,« meinte Bashville, indem er einen Schritt zurückwich. »Ich glaube, Sie werden sicherlich mit mir darin übereinstimmen, daß dies wohl kaum eine Angelegenheit ist, für die man sich bezahlen läßt. Es handelt sich um eine persönliche Frage zwischen Herrn Byron und mir, gnädiger Herr.«

Lucian war recht unangenehm davon berührt, daß ein Bedienter in irgend welcher Beziehung persönliche Empfindungen hegen sollte – besonders in solchen Dingen, die mit seiner Herrin in Verbindung standen. Er steckte daher seine Börse ohne weiteren Kommentar wieder ein und fragte nur: »Ist Miß Carew heute nachmittag zwischen drei und vier Uhr zu Hause?«

»Ich wüßte nicht, daß anderweitige Bestimmungen getroffen wären, gnädiger Herr. Ich kann Ihnen ja noch telegraphieren, falls Miß Carew ausgeht – wenn Sie es wünschen.«

»Es kommt nicht so genau darauf an. Danke bestens. Guten Morgen.«

»Guten Morgen, gnädiger Herr,« wiederholte Bashville respektvoll, während er sich zurückzog. Draußen vor der Tür änderte sich sein Wesen. Er zog ein Paar zimtfarbene Handschuhe an und nahm einen silberbeschlagenen Spazierstock zur Hand, den er auf dem Korridor hatte stehen lassen; dann schritt er über Downing Street nach Whitehall hinein. Eine Gruppe ländlicher Schaulustiger, die daselbst mit einer Betrachtung der Baulichkeiten beschäftigt waren, hielten ihn für einen der Junior Lords des Schatzamtes.

Während des Nachmittags wartete er vergeblich auf Lucians Erscheinen im Hause in Regents Park. Es stellten sich überhaupt keinerlei Besucher ein; und so verbrachte er denn die Zeit damit, an der Hand der Bibliothek, die Miß Carew ihren Dienstboten zur Verfügung gestellt hatte, Spinozas Philosophie seinem Verständnis näher zu bringen. Als er nach Verlauf einer Stunde zu der befriedigenden Überzeugung gelangt war, sich die Weltanschauungen dieses Gelehrten völlig zu eigen gemacht zu haben, ging er dazu über, etwas Abwechslung in die Eintönigkeit des langen Sommertages zu bringen, indem er Lydias Silberzeug putzte.

Währenddessen ging Lucian mit sich zu Rate, wie er seine Cousine am besten dazu bewegen könne, die Bekanntschaft mit Cashel nicht nur von der Hand zu weisen, sondern sich vielmehr des bewiesenen Entgegenkommens zu schämen und für die Zukunft ein heilsames Mißtrauen gegen ihr eigenes Urteilsvermögen zu empfinden. Seine Tätigkeit als Sekretär hatte ihn gelehrt, sich vorerst stets mit einigen greifbaren Tatsachen auszurüsten, ehe er den Versuch machte, die Meinungen anderer Leute in irgend welcher Hinsicht zu beeinflussen. Vom Preisboxen wußte er nicht mehr, als daß es eine ungesetzliche und sehr brutale Berufsart wäre, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Hahnenkämpfen anhaftete und von der man gleich dieser annahm, daß sie allmählich ungebräuchlich werden würde. Da er Lydias Neigung, bestehende Ansichten als Vorurteile aufzufassen, zur Genüge kannte, so hielt er ein etwas eingehenderes Studium des Materials für angebracht. Zu Worthingtons großem Erstaunen lud er diesen nicht nur am folgenden Abend zum Diner ein, sondern er hörte auch mit gespanntem Interesse zu, während der Lord sich nach Herzenslust über sein Lieblingsthema, den Boxerring, verbreitete.

Als Tag auf Tag ohne Zwischenfall verrann, wurde Bashville unruhig und nervös, er fragte sich, ob Lydia vielleicht mit ihrem Vetter zusammengetroffen sein und bei dieser Gelegenheit die Unterredung in Downing Street in Erfahrung gebracht haben konnte. Er glaubte in ihrem Wesen ihm gegenüber eine Veränderung wahrzunehmen; einige Male stand er sogar im Begriff, das sympathischste der Stubenmädchen zu fragen, ob ihr etwas dergleichen aufgefallen sei. Am Mittwoch aber wurde seiner Ungewißheit endlich ein Abschluß bereitet. Lucian stellte sich ein und hatte mit Lydia eine lange Unterredung im Bibliothekzimmer. Wenngleich Bashville zu ehrlich war, um an der Tür zu horchen, so hoffte er doch im stillen, daß das sympathische Stubenmädchen sich weniger skrupulös erweisen würde. Zu seinem Unglück aber hatte Miß Carew es von jeher verstanden, ihren Dienstboten einige Selbstachtung zu belassen; und so vollzog sich denn Lucians Eröffnung in undurchdringlicher Verborgenheit.

Als dieser ins Bibliothekzimmer eintrat, machte er ein derartig ernstes Gesicht, daß Lydia ihn fragte, ob er an Neuralgie litte, von der er zeitweilig befallen zu werden pflegte. Er antwortete mit einem gewissen Maß von Unwillen, daß er keineswegs an Neuralgie leide, ihr vielmehr eine wichtige Mitteilung zu machen habe.

»Was? Noch eine?«

»Jawohl! Noch eine!« entgegnete er mit einem säuerlichen Lächeln. »Diesmal aber betrifft sie nicht mich selbst. Darf ich vielleicht, ohne das Privilegium meiner Verwandtschaft zu überschreiten, Ihnen hinsichtlich der Persönlichkeit eines Ihrer ständigen Gäste eine Warnung zukommen lassen?«

»Sicherlich. Meinen Sie vielleicht Cheffsky? Wenn es sich um ihn handelt, so weiß ich ganz genau, daß er ein verbannter Nihilist ist.«

»Ich meine nicht Monsieur Cheffsky. Sie begreifen, hoffe ich, daß ich nicht sonderlich viel für ihn übrig habe, noch für Ihre eigenartige Liebhaberei für Nihilisten, Anarchisten und sonstige zweifelhafte Herrschaften; ich bin aber der Meinung, daß sogar Sie bei einem Preisboxer die Grenze ziehen könnten.«

Lydia wurde leichenblaß und hauchte kaum hörbar:

»Cashel Byron?«

»Sie wußten es also?« rief Lucian voll Empörung.

Lydia wartete einen Augenblick, um sich zu sammeln, machte es sich in ihrem Sessel bequem und entgegnete mit gemessener Ruhe:

»Ich weiß, was Sie mir jetzt sagen – mehr nicht. Wollen Sie nunmehr die Güte haben, mir genau auseinander zu setzen, was ein Preisboxer ist?«

»Er ist einfach das, was sein Name bezeichnet – ein Mann, der für Preise boxt, für Geld kämpft.«

»Das tut der Befehlshaber eines Kriegsschiffs auch. Dessen ungeachtet zählt die Gesellschaft sie nicht zu derselben Klasse – wenigstens nicht, soviel ich davon weiß.«

»Als ob irgendein Zweifel darüber obwalten könnte, wie die Gesellschaft sich zu dieser Frage stellt! Außerdem besteht zwischen diesen zwei Berufsarten keinerlei Analogie. Lassen Sie mich den Versuch machen, Ihnen die Augen etwas zu öffnen, sofern dies möglich ist – woran ich übrigens zuzeiten nicht recht glaube. Ein Preisboxer ist gemeiniglich ein Mensch von natürlich wildartiger Veranlagung, der sich unter den Leuten seiner Umgebung einen gewissen Ruf als Raufbold erworben hat und infolge immerwährender Streitigkeiten über einige Geschicklichkeit im Boxen verfügt. Auf Grund seines Rufes findet er gewöhnlich einen Spieler, der eine Summe Geldes darauf wettet, daß er einen Pugilisten von begründeter Reputation im Einzelkampf besiegen wird. Man schließt weitere Wetten zwischen den Anhängern der beiden Gegner ab; es wird ein Preis subskribiert, zu dem jede Partei ihr Teil beiträgt; die Kombattanten werden trainiert, wie Rennpferde, Kampfhähne oder ähnliche Tiere trainiert werden, schließlich treffen sie zusammen und schlagen so wüst sie können aufeinander los, bis der eine zu arg zugerichtet ist, um den Kampf fortsetzen zu können. Dies Schauspiel findet vor den Augen einer Bande solcher Leute statt, die sich an Dingen dieser Art erfreuen – mit anderen Worten, inmitten der gemeinsten Halunken, die eine Großstadt frei herumlaufen zu lassen sich gestatten kann, und vieler, die sie nicht frei herumlaufen lassen sollte. Da der von beiden Seiten eingeschossene Preis die Summe von tausend Pfund oft übersteigt – da ein erfolgreicher Pugilist ferner für seinen Boxerunterricht zuweilen weit höhere Bedingungen stellt als ein Repetitor an der Universität für die Examenpaukerei – so werden Sie begreifen, daß ein solcher Kerl, solange seine Jugend und sein Glück dauert, über reichliche Gelder verfügt und es sogar fertigbringt, das Benehmen der von ihm unterwiesenen Gentlemen nachzuäffen und hiermit unvorsichtige Menschen – besonders diejenigen, die für Exzentrizitäten schwärmen – hinsichtlich seiner Persönlichkeit und gesellschaftlichen Stellung hinters Licht zu führen.«

»Welches ist denn seine wahre Stellung – ich meine, bevor er Boxer wird?«

»Er kann ein geschickter Handwerker sein: ein Schlächter- oder Abdeckergeselle, ein Schneider oder Bäcker. Allenfalls auch ein entlassener Soldat, Matrose, herrschaftlicher Diener oder sonst etwas. Im allgemeinen aber ist er ein gewöhnlicher Tagelöhner. Die Küstenstädte liefern zahlreiche solcher Helden.«

»Kommen sie nie aus höheren Ständen?«

»Nicht einmal aus den besseren Teilen ihres eigenen Standes. Niedergebrochene Gentlemen werden es wohl kaum bei einer Arbeit zu etwas bringen, die die Wiederstandsfähigkeit eines Stieres und die Grausamkeit eines Schlächters erfordert.«

»Und was wird denn zu guter Letzt aus ihnen? Ihr ganzes Leben lang können sie doch nicht bei einer solchen Beschäftigung bleiben.«

»Das tun sie auch nicht. Sobald es sich herausstellt, daß ein Preisboxer infolge seines zu hohen Alters mehrfach geschlagen worden ist, dann will keiner mehr auf ihn wetten oder subskribieren, um die Stakes für ihn aufzubringen. Bleibt er aber unentwegt erfolgreich, so befinden sich diejenigen, die wirklich noch den Mut besitzen, es mit ihm aufzunehmen, bald in der gleichen üblen Lage. In beiden Fällen geht er seiner Beschäftigung verlustig. Hat er sich Geld erspart, so macht er eine Sportkneipe auf, wo er Spirituosen der schlimmsten Sorte an seine früheren Rivalen und deren Genossen verkauft und sich selbst allenfalls den Tod oder den Bankerott antrinkt. Ist er andrerseits weniger umsichtig oder vom Glück nicht begünstigt gewesen, so bettelt er bei seinen ehemaligen Gönnern oder erteilt Unterricht. Wenn diese Gönner seiner schließlich überdrüssig werden und die Schüler ausbleiben, sinkt er in die Hefe der Arbeiterklasse zurück – und zwar mit untergrabener Gesundheit, entstelltem Gesicht, naturgemäßer Brutalität und anrüchigem Ruf.«

Lydia verharrte jetzt in derartig andauerndem Schweigen, daß Lucians beamtenhafte Strenge zunächst noch einen Grad strenger wurde, dann etwas ins Schwanken geriet und schließlich einer Art unwilliger Empörung Platz machte. Sie schien seine Anwesenheit völlig vergessen zu haben. Er stand bereits im Begriff, gegen diese Behandlung Einspruch zu erheben, als sie plötzlich zu ihm aufsah und fragte:

»Warum hat Lord Worthington mir einen Mann dieser Klasse vorgestellt?«

»Weil Sie ihn darum gebeten haben. Vielleicht war er auch der Meinung, daß Sie ihm wohl kaum Vorwürfe darüber machen könnten, sich mit einer unliebsamen Bekanntschaft belastet zu sehen, wenn Sie es für gut befanden, ohne vorherige Erkundigung mit einem solchen Ersuchen an ihn heranzutreten. Denken Sie gefälligst daran, daß Sie die Vorstellung auf dem Bahnhofe in Wiltstocken in Gegenwart des Betreffenden ausdrücklich selbst gewünscht haben. Ein Raufbold dieser Sorte ist imstande, aus weit belangloseren Gründen, als es in diesem Falle eine ausweichende Erklärung oder Abweisung gewesen wäre, den fürchterlichsten Skandal heraufzubeschwören.«

»Entschuldigen Sie, Lucian,« entgegnete Lydia. »Ich habe lediglich gebeten, mir meinen Mieter vorzustellen, für dessen Respektabilität Sie sich verbürgt hatten, als Sie ihm Warren Lodge überließen.« Lucian errötete. »Und wie erklärt Lord Worthington Herrn Byrons Erscheinen bei Mrs. Hoskyn?«

»Das war ein alberner Scherz. Mrs. Hoskyn hatte Worthington bestürmt, ihr eine Berühmtheit ins Haus zu bringen; um ihr einen Streich zu spielen, führte er seinen pugilistischen Protégé ein.«

»Hm!«

»Ich verteidige Worthington keineswegs. Unterscheidungsvermögen ist wohl etwas, was man von ihm kaum erwarten kann.«

»Er ist klug genug, einen Fall wie diesen seinem ganzen Inhalte nach zu verstehen. Lassen wir dies aber jetzt beiseite! Ich habe darüber nachgedacht, was Sie mir soeben von diesen sonderbaren Leuten erzählt haben, von deren Existenz ich bis jetzt kaum eine Ahnung hatte. An der Hand meiner Lektüre bin ich auf Verunglimpfungen aller Arten von Rassen und Beschäftigungen gestoßen. Sehr bedeutende und wohlunterrichtete Männer haben die Behauptung aufgestellt, daß Juden, Irländer, Christen, Atheisten, Rechtsanwälte, Ärzte, Politiker, Schauspieler, Künstler, Fleischesser und Weintrinker alle notwendigerweise verkommene Wesen sind. Solche Behauptungen lassen sich sehr leicht beweisen, indem man aus jeder Herde ein schwarzes Schaf aussucht und es dann als Typus hinstellt. Es erscheint zwar ganz vernunftgemäß, von der Beschäftigungsart eines Menschen einen Schluß auf seinen Charakter zu ziehen; nur frage ich, wer möchte seine Handlungsweise nach einer lediglich auf diesem Umstand fußenden Meinung einrichten? Der Krieg ist gleichfalls ein grausames Geschäft; Soldaten sind aber keineswegs besonders blutdürstige oder entmenschte Geschöpfe. Ich bin mir daher noch nicht völlig darüber im klaren, daß ein Preisboxer notwendigerweise ein gewalttätiger und gefährlicher Mann ist, weil er einem gewalttätigen und gefährlichen Beruf nachgeht – ich nehme an, man nennt es einen Beruf.«

Lucian wollte etwas erwidern; sie schnitt ihm aber das Wort ab und sagte:

»Dies beschäftigt mich übrigens augenblicklich gar nicht am meisten. Haben Sie sonst etwas Genaueres, Persönliches über Herrn Byron in Erfahrung gebracht? Ist er der gewöhnliche Vertreter seiner Klasse?«

»Nein! Ich sollte meinen, ich hoffe es sogar, daß er ein ganz ungewöhnlicher Vertreter seiner Klasse ist. Ich bin seiner Lebensgeschichte bis in die Zeiten nachgegangen, wo er noch Schiffsjunge war. Da es ihm offenbar nicht geglückt ist, sich seinen Brotgebern auf diesem Betätigungsfelde unentbehrlich zu machen, so bekleidete er später bei einer Art von Maître d'armes in Melbourne die Stellung eines Laufburschen. Erst hier entdeckte er, wo seine wahren Talente schlummerten; bald darauf tauchte er im Ring auf, und zwar in Gemeinschaft mit einem bedauernswerten jungen Mann, dem er die Kinnlade zerschmetterte. Hiermit legte er den Grundstein zu seinem Ruhm. Dann kämpfte er mit unwandelbarem Erfolg in zahlreichen Schlachten; schließlich aber ließ er seine Mannhaftigkeit über seine Umsicht Herr werden, indem er einen Engländer tötete, der ihm zwei Stunden lang einen verzweifelten Widerstand entgegensetzte. Man erzählt mir, daß der spezielle Hieb, mit dem er diesem armen Teufel den Garaus machte, in pugilistischen Kreisen als ›Cashels Lebenslichtausblaser‹ bekannt und geschätzt ist; er soll ihn auch bei allen folgenden Renkontres angewandt haben, allerdings ohne den gleichen fatalen Erfolg zu erzielen. Ohne Zweifel hat ihm diese Unzulänglichkeit des Glücks manche herbe Enttäuschung bereitet. Er kehrte Australien fliehend den Rücken und tauchte in Amerika von neuem auf, wo er seinen Siegeszug fortsetzte und sich in erster Linie dadurch auszeichnete, daß er einen riesenhaften Gegner auf eine besondere, diesen Herren eigene Weise ›warf‹ und lebenslänglich zum Krüppel schlug.«

»Ich danke bestens, Lucian,« sagte Lydia mit etwas schwächlicher Stimme. »Das genügt vollkommen. Sind Sie auch sicher, daß sich alles wirklich so verhält?«

»Meine Quellen sind Lord Worthington und die Spalten der Sportblätter. Wahrscheinlich wird Byron Ihnen mit begründetem Stolz diesen Rekord in vollem Umfange bestätigen. Um ihm aber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, möchte ich noch erwähnen, daß er – für Pugilisten – als Modell der Nüchternheit und allgemein anständigen Lebensführung gilt.«

»Erinnern Sie sich noch, wie ich vor einigen Tagen – zwar in anderem Zusammenhange – eine Bemerkung des Sinnes machte, wie belanglos eigentlich unsere Beobachtungen wären, bis wir den Faden in die Hand bekämen, an dem wir sie aufreihen könnten?«

»Oh ja,« bestätigte Lucian, den diese Anspielung etwas wehmütig stimmte.

»Meine Bekanntschaft mit diesem Mann ist ein einschlägiger Fall. Bei jedem Beisammensein hat er mir die Tatsache seines entsetzlichen Berufs geradezu aufgedrängt. Mit meinen eigenen Augen habe ich's gesehen, wie er öffentlich als Boxerheros bejubelt worden ist. Und dennoch – da ich mich auf gänzlich falscher Spur befand und von der Existenz eines solchen Berufs nichts wußte, habe ich zugesehen und doch nichts gesehen.«

Lydia berichtete von ihrem Abenteuer in Soho und lauschte mit der unbeirrten Geduld der Teilnahmslosigkeit, wenn er ihre Torheit und ihre schutzlose Wanderung tadelte.

»Darf ich jetzt fragen,« fügte er hinzu, »was Sie in dieser Angelegenheit zu tun gedenken?«

»Was würden Sie für angebracht halten?«

»Den Verkehr augenblicklich fallen zu lassen. Verbieten Sie ihm Ihr Haus in den denkbar deutlichsten Ausdrücken!«

»Eine angenehme Aufgabe!« meinte Lydia mit einiger Ironie. »Aber ich werde es doch tun – vielleicht nicht so sehr, weil er ein Preisboxer, sondern weil er ein Schwindler ist. Gehen Sie jetzt an den Schreibtisch und setzen Sie mir einen für ihn passenden Brief auf.«

Lucians Gesicht zog sich in die Länge:

»Ich glaube, Sie besorgen das selbst viel besser. Eine heikle Sache!«

»Allerdings. Keineswegs so einfach, wie Sie soeben anzudeuten beliebten. Andernfalls würde ich nicht Ihre Hilfe erbeten haben. Unter den obwaltenden Umständen aber –« Sie wies von neuem auf den Schreibtisch.

Lucian hatte nicht gleich eine Ausflucht bei der Hand. Er nahm zögernd Platz und brachte nach einigem Nachdenken folgendes zu Papier:

›Miß Carew gestattet sich mit einer freundlichen Empfehlung an Herrn Cashel Byron die Mitteilung, daß sie für den Rest der Saison nicht mehr wie bisher empfängt. Zu ihrem großen Bedauern muß sie daher darauf verzichten, Herrn Cashel Byron am Freitag nachmittag bei sich zu sehen.‹

»Ich denke, Sie werden dies für ausreichend erachten,« meinte Lucian.

»Wahrscheinlich,« entgegnete Lydia, während sie die Zeilen mit einem Lächeln überlas. »Was soll ich aber anfangen, wenn er sich beleidigt fühlt, hier vorspricht, die Fenster einschlägt und Bashville verprügelt? Ich würde es wenigstens auf einen solchen Brief hin tun.«

»Er wird schon keine Gewalttat versuchen. Ich kann ja die Polizei in Kenntnis setzen, wenn Sie sich ängstigen.«

»Auf keinen Fall! Wir dürfen ihm an Mut nicht nachstehen – worin übrigens, wie ich glaube, sein Hauptvorzug zu bestehen scheint.«

»Wenn Sie den Brief jetzt schreiben, kann ich ihn gleich aufgeben.«

»Danke – nein. Ich schicke ihn nachher mit meinen übrigen Briefen ab.«

Lucian versuchte noch etwas zu warten; solange er jedoch blieb, schien sie sich nicht zum Schreiben bequemen zu wollen. So verabschiedete er sich denn schließlich, alles in allem mit dem Erfolg seiner Mission recht zufrieden. Kaum war er gegangen, als sie sein Konzept mit einem zierlichen Datumsvermerk versah und im Schubfach unterbrachte. Dann schrieb sie folgendermaßen an Cashel:

 

›Lieber Herr Cashel Byron!

Ich habe soeben Ihr Geheimnis erfahren. Es tut mir leid – aber Sie dürfen nicht wiederkommen. Leben Sie wohl.

Ihre ergebene
Lydia Carew.‹

 

Sie behielt diese Zeilen bis zum folgenden Tag bei sich. Dann las sie sie noch einmal aufmerksam durch und schickte Bashville damit zur Post.


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