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Sechstes Kapitel.

Am nächsten Abend erreichten Lydia und Alice wenige Minuten vor zehn Uhr Mrs. Hoskyns Haus in Campden Hill Road. Sie sahen Lord Worthington im Vorgarten mit Herrn Hoskyn rauchen und plaudern; er warf seine Zigarre fort und geleitete die beiden Damen ins Haus. Sie bemerkten, daß er etwas vom Wein erregt war, gingen beide in die Garderobe, um sich ihrer Abendmäntel zu entledigen, und ließen ihn am Treppenabsatz stehen. Bald darauf hörten sie jemand kommen und in erregtem Tone zu ihm sprechen.

»Worthington! Worthington! Jetzt hat er angefangen, vor der ganzen Gesellschaft eine Rede zu halten! In dem Augenblick, wo der alte Abendgasse sich hinsetzte, stand er auch schon auf. Was, zum Teufel, haben Sie auch beim Diner schon mit Champagner angefangen?«

»Scht – scht! Das ist ja gar nicht möglich! Kommen Sie mit! Wir wollen versuchen, ihn in Ruhe beiseite zu bringen.«

»Haben Sie's gehört?« fragte Alice. »Hier muß etwas passiert sein.«

»Hoffentlich,« meinte Lydia. »Der Nachteil dieser Soireen besteht darin, daß immer nichts passiert. Bitte, melden Sie uns nicht,« wendete sie sich an den Diener, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Da wir uns doch verspätet haben, wollen wir, um Herrn Abendgasse nicht zu verletzen, so unbemerkt wie möglich hineingehen.«

Es gelang ihnen ohne viel Schwierigkeit unauffällig in den Gesellschaftsraum zu gelangen.

Mrs. Hoskyn hielt gedämpftes Licht und Halbdunkel für sehr schön; ihre Zimmer waren nur matt erleuchtet, und zwar vermittelst zweier seltsamer Ampeln aus rosa Glas, in denen nebelhafte Flammen glimmten. In der Mitte des geräumigen Zimmers stand ein kleiner Tisch mit einer granatroten Plüschdecke; auf dieser ein kleines Lesepult und zwei Kerzen in silbernen Leuchtern, deren Licht stärker war als das der Ampeln und starke Doppelschatten von den Gruppen der umstehenden Gestalten zurückwarf. Der freie Raum im Umkreise war mit Stühlen angefüllt, die hauptsächlich von Damen besetzt waren. Hinter diesen an der Wand stand eine Reihe von Herren, und unter diesen Lucian Webber.

Sie alle starrten auf Cashel Byron, der einen bärtigen brillebewaffneten Herrn am Tischchen mit einer längeren Rede bedachte.

Lydia, die ihn noch niemals im Frack und in völlig ungezwungener Haltung gesehen hatte, mußte sich über sein ganzes Gebaren aufs höchste wundern. Seine Augen funkelten; sein Selbstvertrauen teilte sich der ganzen Gesellschaft mit, und seine rauhe, weittönende Stimme schuf das lautlose Schweigen, das nur sie selbst unterbrach. Er war offenbar in sehr guter Stimmung und bekräftigte seine Sätze durch den Schwung seines ausgestreckten linken Armes, während er die rechte Hand nahe an sich hielt und von Zeit zu Zeit seinen Bemerkungen durch ein schlaues Winken seines Zeigefingers Nachdruck verlieh.

»– Exekutivgewalt?« sagte er gerade, als Lydia ins Zimmer trat. »Das ist ein sehr treffender Ausdruck, meine Herren – und eine Bezeichnung, über die ich Ihnen einen ganzen Haufen zu erzählen weiß. Wenn wir unsere Mitmenschen der Gesittung zugänglich zu machen beabsichtigen, so sollen wir dies – wie uns soeben gesagt wurde – in erster Linie vermöge des nachahmenswerten Beispiels unserer eigenen Lebensführung anstreben, indem wir ein jeder ein lebendiges Abbild der höchsten uns bekannten Kultur darstellen. Jetzt möchte ich fragen: wie sollen die anderen Leute es erfahren, daß Sie ein solches Abbild der Kultur sind? Sie können nicht wie Reklamemänner mit einem Plakat auf dem Buckel herumlaufen, um damit all die prächtigen Kenntnisse bekannt zu machen, die Sie im Kopfe haben; und Sie dürfen sich darauf verlassen, daß kein Mensch Ihre bloße äußere Erscheinung seiner eigenen vorzieht. Sie brauchen Exekutivgewalt – das ist es, was Ihnen nottut.

Angenommen, Sie gehen auf der Straße spazieren und sehen einen Mann, der eine Frau schlägt und den Rauhbeinen damit ein schlechtes Beispiel gibt. Sie sähen sich doch offenbar gezwungen, ihnen ein gutes Beispiel zu geben; wären Sie Männer, so möchten Sie der Frau zu Hilfe kommen; durch Ihre bloße Lebensführung könnten Sie dergleichen aber nicht fertigbringen; damit würden Sie ein schlechtes Beispiel statuieren, indem Sie ruhig Ihres Weges gingen und das unglückliche Geschöpf seinem Peiniger überließen. Worin müßten also in einem solchen Falle Ihre Kenntnisse bestehen, um Ihre Anschauungen in die Tat umsetzen zu können? Ganz einfach – Sie müssen wissen, wie Sie zuschlagen, wann Sie zuschlagen und wohin Sie zuschlagen; und dann brauchen Sie noch den nötigen Schneid, um sich dazu zu entschließen und es auch wirklich zu tun.

Das ist Exekutivgewalt; und das ist mehr vonnöten, als stillzusitzen und darüber nachzudenken, wie gut Sie eigentlich doch sind – worauf nämlich die Lehren dieses Herrn im Grunde genommen herauskommen. Sehen Sie das nicht ein? Sie brauchen Exekutivgewalt, um ein Beispiel aufzustellen. Wenn Sie die Rauhbeine, die ohne Regel und aufs Geratewohl losschlagen, frei schalten und walten lassen, so wird deren Beispiel Verbreitung und Nachahmung finden und nicht Ihres.

Jetzt betrachten Sie mal die politische Seite der Sache! Neulich Sonntags hielt ein Mann im Park eine Rede und sagte, wir könnten in unserm Lande eigentlich so gut wie gar nichts tun. Wenn die Lords oder Junker oder sonst eine Sammlung von vornehmen Kerlen uns in die See hineintreiben wollten – sagte er – was könnten wir da anderes tun, als einfach zu gehen? Ich sehe da einen Herrn zu meiner Bemerkung lachen. Jetzt frage ich ihn, was er anfangen würde, wenn heute abend die Polizei oder das Militär käme und ihn aufforderte, sich aus seinem komfortablen Hause schnurstracks in die Themse zu begeben? Vielleicht würde er ihnen androhen, bei der nächsten Wahl nicht für ihre Arbeitgeber zu stimmen? Oder wenn das noch nichts nützte, ihnen womöglich in Aussicht stellen, seine Freunde und Bekannten zu derselben Maßnahme zu veranlassen? Das wäre mir eine nette Exekutivgewalt!

Nein, meine Herren! Lassen Sie sich nicht von Leuten hinters Licht führen, die ihr Geld gegen Sie gewettet haben. Das erste, was man lernen muß, ist boxen. Bücher und Bilder zu kaufen hat keinen Zweck, wenn man mit ihnen und seinem eigenen Kopf nichts anzufangen weiß. Wenn der Herr, der soeben gelacht hat, zu boxen wüßte – und wenn alle seine Freunde und getreuen Nachbarn zu boxen verstünden, so brauchte er keine Polizei zu fürchten und keine Soldaten, keine Reußen oder Preußen, noch irgend einen von den Millionen Menschen, die eines schönen Tages auf ihn losgelassen werden könnten – so sehr er sich auch in Sicherheit wiegen mag.

Wir wollen aber Arbeitsteilung haben – sagen Sie – wollen nicht selbst zuschlagen, sondern andere Leute dafür bezahlen, daß sie für uns ins Feuer gehen. Diese Ansicht zeigt mal wieder, wie manche Menschen, wenn sie einen Gedanken beim Wickel kriegen, schließlich derartig alberne Möglichkeiten heraustüfteln, daß es einfach nicht anzuhören ist. Boxen ist eine Befähigung zur Selbsterhaltung: der eine kann es nicht für den andern besorgen. Da könnten Sie ebensogut bei Ihrem Mittagessen Arbeitsteilung einführen und den einen dafür bezahlen, daß er das Rindfleisch ißt, den andern fürs Bier, den dritten für die Kartoffeln.

Der Veranschaulichung halber wollen wir aber mal annehmen, Sie bezahlten andere Leute, damit sie für Sie kämpfen. Gesetzt den Fall, jemand sonst zahlt sie besser, und sie schlagen sich nicht ehrlich oder wenden sich offenkundig gegen Sie? Dann können Sie nur sich selbst den Vorwurf machen, die Exekutivgewalt dem Gelde überlassen zu haben. Daher behaupte ich, daß die vornehmste Pflicht des Mannes darin besteht, das Boxen zu erlernen. Kann er nicht für sich selbst einstehen, so kann er auch kein Beispiel aufstellen; er kann weder für sein eigenes Recht noch für das seiner Mitmenschen eintreten; er kann sich nicht bei körperlicher Gesundheit erhalten; und wenn er die Schwächeren von den Starken ausgebeutet sieht, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich schleunigst zu drücken und den nächsten Schutzmann in Kenntnis zu setzen, der dann aller Wahrscheinlichkeit nach erst auf der Bildfläche erscheinen wird, wenn das schlimmste Unheil bereits angerichtet ist. Mag der Herr hinterher diesen Damensalon aufsuchen und sich hierselbst zur Schau stellen – als ganzen Mann wird er sich deshalb doch nicht fühlen können.

Ich möchte aber richtig verstanden werden, meine Herren: es liegt keineswegs in meiner Absicht, meine Worte zu genau – sozusagen, zu buchstäblich aufgefaßt zu sehen. Falls Sie einen Mann beobachten, der eine Frau schlägt, so sollten Sie, meine ich, sich grundsätzlich zum Einschreiten veranlaßt fühlen. Erwarten Sie aber von ihr keinen Dank dafür; behalten Sie sie scharf im Auge: lassen Sie sie nicht hinter Ihnen zu stehen kommen. Was ihn betrifft, so versetzen Sie ihm einen gehörigen Denkzettel und gehen Sie dann ruhig Ihrer Wege!, Sie dürfen niemals warten, bis Sie in eine Straßenprügelei verwickelt werden; erstens ist es gemein und zweitens läuft sie gewöhnlich für alle Beteiligten übel aus.

Indes sind dies nur ein paar praktische Winke. Auf das Grundprinzip, daß Sie sich Exekutivgewalt aneignen sollen, üben Sie keinerlei verändernden Einfluß. Eignen Sie sich sie aber an, so fühlen Sie Mut in sich; und was noch mehr zu sagen hat – Sie werden aus Ihrem Mute Nutzen ziehen. Sie mögen von Natur mutig veranlagt sein; verfügen Sie jedoch nicht gleichzeitig auch über Exekutivgewalt, so bringt Ihr Mut Sie lediglich in die Lage, sich von Leuten verhauen zu lassen, die sowohl Mut als auch Exekutivgewalt besitzen. Hat das aber irgend welchen Wert für Sie? Man sagt dann wohl, Sie wären ein schneidiger Kerl; aber man bringt doch die Stakes nicht für Sie zusammen, ehe Sie sie nicht auch gewinnen können. Da behalten Sie lieber Ihre ganze Schneidigkeit in der Tasche; Sie werfen besser den Schwamm in die Höhe und geben klein bei, so lange es Zeit ist.

Was nun die Sache mit dem Schneid betrifft, so habe ich noch etwas zu sagen, was den Professor in einem Punkt, der ihm sehr nahe zu gehen schien, sicherlich beruhigen wird. Ich bin zwar kein Musiker, aber ich will Ihnen doch zeigen, daß ein Mann, der eine Kunst versteht, jede Kunst versteht. Aus der Auseinandersetzung des Herrn habe ich entnommen, daß es in der Musikbranche einen Mann namens Wagner gibt, der – wie man wohl sagen könnte – ein Mordskerl von einem Komponisten ist; daß ferner die Musikamateure, wenngleich sie es nicht ableugnen können, daß seine Lieder ganz famos sind und er sozusagen seine Partie gewinnt, dennoch herauszufinden suchen, er gewönne sie in unkommentmäßiger Weise und hätte keine rechte Kunstfertigkeit am Leibe. Ich möchte nun den Herrn ernstlich bitten, auf solches Gewäsch nichts zu geben. Ich habe soeben erst darauf hingewiesen, daß sein ganzer Schneid ohne Kunstfertigkeit für ihn nicht den geringsten Wert hätte. Sonst wäre er in seiner Jugend wohl allenfalls mit einigen unfähigen Patronen in einer minderwertigen Balgerei fertig geworden; aber er hätte es niemals auf die Dauer durchgehalten, wie er es doch getan hat, wenn nicht wirklich etwas in ihm steckte.

Die Neuheit des Stils und der Methode ist es, die die Leute kopfscheu macht. Sie haben immer zu bedenken, daß jedermann seinen Stil aus sich selbst herausarbeiten muß. Es ist sinnlos, anzunehmen, sein Stil solle notwendig derselbe sein, wie der seines letzten Vorgängers auf seinem Gebiet– oder er passe genau auf seinen Nachfolger – oder dieser wäre der allein seligmachende Stil und jeder andere demzufolge verkehrt. Aus Unwissenheit wird mehr Blech zusammengeredet als aus irgendeinem andern Grunde. Sie werden schon sehen, daß die Leute, die Professor Wagner heruntermachen, entweder neidisch oder sonst irgendwie alte Praktikusse sind, die sich an seine Methode nicht gewöhnen können und alles Neue für falsch halten. Warten Sie nur noch eine Weile – ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie dann alles auf den Kopf stellen und darauf schwören werden, sein Stil wäre überhaupt gar nicht neu und er hätte ihn von jemand gestohlen, den Sie schon in Ihrem zehnten Jahre gekannt hätten. Wie der Herr Professor ja sagt – diese Art Leute haben es zu allen Zeiten ebenso gemacht. Er hat Ihnen Beethoven als ein Beispiel angeführt. Aber Sie können aus einem solchen Beispiel keinerlei Schlußfolgerung ziehen, weil unter einer Million Menschen kaum ein einziger ist, der jemals von Beethoven gehört hat. Suchen Sie sich einen Mann aus, von dem jeder hat reden hören: den Preisboxer Jack Randall! Von ihm wurde früher genau dasselbe behauptet. Nach alledem ist es also wohl klar, daß Sie nicht erst unter Musikern nach Beispielen zu suchen brauchen.

Tatsache aber ist, daß es auf der Welt eine Sorte Menschen mit einem derartigen Maß von Neid und Bosheit gibt, daß sie es nicht über sich bringen können, die Verdienste eines andern anzuerkennen; und wenn sie's schließlich zugeben müssen, daß er eine Sache versteht, so versuchen sie eine andere herauszutüfteln, von der er nichts versteht.

Aufgepaßt also! Ich werde Ihnen die ganze Geschichte jetzt in kurzen Worten und etwas sachlicher zusammenfassen. Dieser Herr aus Deutschland, der die ganze Musik am Schnürchen hat, erzählte uns, es würde von vielen Seiten behauptet, dieser Wagner hätte wohl allerlei los, aber er besäße keine Kunstfertigkeit. Na schön! Wenn ich auch von Musik keine Ahnung habe, so wette ich Ihnen doch fünfundzwanzig Pfund, daß es andere Leute gibt, die ihm alle erdenkliche Kunstfertigkeit zuerkennen und sämtlichen Schneid und Originalität absprechen – die behaupten, seine Leistungen kämen ihm aus dem Kopf und nicht aus dem Herzen. Ich bin dazu bereit. Ich lege fünfundzwanzig Pfund dagegen; der Herr des Hauses soll die Stakes einkassieren, und der Herr aus Deutschland Unparteiischer sein. Wer hält die Wette? Sehen Sie wohl – ich konstatiere mit Vergnügen, daß es niemand riskieren will.

Jetzt möchte ich noch eine Kleinigkeit berühren, die dem Herrn offenbar entgangen ist. Er hat Ihnen anempfohlen, eifrig zu lernen – von Tag zu Tag an Güte und Weisheit zuzunehmen. Er hat Ihnen aber nicht gesagt, woran es liegt, daß Sie trotz seinem wohlgemeinten Rat nicht lernen wollen. Ich nehme an, daß er als Ausländer Ihnen durch ein freimütiges Wort zu nahe zu treten fürchtete. Sie sind aber wohl nicht so überempfindlich, daß Sie ein paar offenherzige Äußerungen gleich übelnehmen – davon bin ich fest überzeugt. Ich sage 's Ihnen also unumwunden ins Gesicht, daß der Grund für Ihre Abneigung gegen das Lernen nicht in dem mangelnden Wunsche nach einer Bereicherung Ihrer Kenntnisse oder in der Tatsache liegt, daß Sie fauler sind als manche andere, die einen ganzen Haufen gelernt haben – sondern in der Gewohnheit, Ihre Mitmenschen glauben zu machen, Sie wüßten längst alles – weil Sie sich davor schämen, daß es einer sehen könnte, wie Sie noch zur Schule gehen. Und Sie kalkulieren, daß Sie ohne eine Bloßstellung Ihrer Unwissenheit durchs Leben kommen, wenn Sie nur hübsch den Mund halten und ein möglichst kluges Gesicht machen.

Wo aber liegt der Vorteil der Lügen und falschen Vorspiegelungen? Was kann es ausmachen, wenn Sie bei Ihren ersten ungewöhnlichen Versuchen von einem halbwüchsigen Frechling ausgelacht werden? Was haben Sie davon, sich über Ihr Aussehen den Kopf zu zerbrechen, wo Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand doch sagen sollte, daß andere Leute sich nur um ihr eigenes Aussehen kümmern und nicht um Ihres? Ein großer Bengel nimmt sich in der Sexta nicht besonders gut aus – das stimmt; wenn er sich aber erst nach oben durchgearbeitet hat, so ist er froh, auch einmal den Anfang gemacht zu haben. Ich wende mich etwas nachdrücklicher an Sie, meine Herren, weil Sie Londoner sind; Londoner können es in ihrer Meinung von sich selbst mit der ganzen Welt aufnehmen.

Im übrigen stimme ich auch sonst nicht in allem, was der Herr gesagt hat, mit ihm überein. Dies ganze Mühen und Plagen, die Welt zu verbessern, ist ein großer Mißgriff. Nicht, daß es nicht sehr anerkennenswert wäre, die Welt zu verbessern, wenn man sich darauf versteht; sondern weil das Mühen und Plagen die verkehrteste Methode ist, mit der man ein Ding anpacken kann. Dergleichen schwächt den Menschen und gibt ihm schlechte Form und schlechten Stil. Er zeigt, daß er selbst nicht viel von sich hält. Wie ich den Herrn Professor so recht mühen und plagen hörte, um Sie hier und dort und sonstwo zu einer Reformtätigkeit in Gang zu bringen – da sagte ich mir: ›Der gute Mann muß sich seinen Glauben selbst ebenso gewaltsam einreden wie uns. So hört sich die Sprache der Überzeugung nicht an.‹ Wer wirklich –«

»Ich glaube, mein Herr, Sie haben jetzt lang genug zu uns gesprochen,« unterbrach Lucian Webber, indem er sich dem Tisch näherte. »Da außerdem noch andere Persönlichkeiten anwesend sind, deren Meinungsäußerung wahrscheinlich ebensoviel Interesse bietet, wie die Ihre –«

Seine Worte wurden durch einige ›Nein, nein!‹ und ›Weiter, weiter!‹ abgeschnitten, die allerdings in gedämpfterem Tone, als es bei öffentlichen Versammlungen üblich ist, aber doch mit mehr Lebhaftigkeit zum Ausdruck gelangten, als gemeiniglich in Salons zutage gefördert wird.

Cashel, der für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht worden war, wandte sich Lucian zu und sagte in einem Tonfall, der dessen Ungeduld in ihre Schranken zurückweisen aber gleichzeitig etwas ins Komische ziehen sollte: »Nur keine Überstürzung, mein Herr! Sie kommen gleich an die Reihe! Vielleicht kann ich Ihnen, bevor Sie parieren, noch dies und jenes sagen, was Sie noch nicht wissen.« Dann drehte er sich wieder zur Versammlung und nahm den Faden seiner Rede von neuem auf.

»Wir sprachen gerade von Mühe und Anstrengung, als dieser junge Herr sich gemüßigt fühlte, den Ring zu durchbrechen. Ich wollte also sagen: Nichts kann – wie man sich wohl ausdrücken darf – mit künstlerischer Vollendung getan werden, wenn es mit Anstrengung getan wird. Kann man ein Ding nicht leichthin und gemächlich, sicher und zielbewußt zustande bringen, so soll man lieber die Finger davon lassen. Das klingt sonderbar, nicht wahr? Ich werde Ihnen aber etwas noch viel Sonderbareres sagen: Je mehr Anstrengung Sie in Anwendung bringen, desto weniger Wirkung erzielen Sie. Ein Scheinkünstler ist überhaupt kein Künstler! Ich habe das in meinem eigenen Beruf lernen müssen – ganz gleich worin mein Beruf augenblicklich besteht – die Damen könnten sich sonst vielleicht eine sehr schlechte Meinung über mich bilden und mir alles mögliche zutrauen. In allen Berufsarten bedeutet Arbeit, die – wie der Herr aus Deutschland sagte – Anzeichen von Mühe, Beschwerde, Plage oder überhaupt von Anstrengung irgend welcher Art aufweist, stets eine Arbeit, die das Kräftemaß des damit beschäftigten Menschen überschreitet und demgemäß nicht zur Befriedigung ausgeführt werden kann. Vielleicht übersteigt sie seine angeborenen Fähigkeiten; wenngleich es wahrscheinlicher ist, daß er falsch belehrt worden ist. Viele Lehrer zwingen ihre Schüler zu einer Anstrengung und Anspannung, die sie in wenigen Monaten geistig und körperlich aufbraucht. Sie dürfen sich darauf verlassen, daß es sich in anderen Kunstzweigen geradeso verhält. Ich habe mal einen Geigenkratzer unterrichtet, der gewöhnlich hundert Pfund dafür bekam, daß er zwei oder drei Stückchen herunterspielte. Dieser Mann sagte mir, es verhielte sich mit der Violine haarscharf so, wie ich soeben erklärt habe – Sie könnten den Fiedelbogen so fest in die Hand nehmen wie Sie nur wollten, ja – sogar vor lauter Anstrengung mit den Zähnen fletschen, und Sie würden doch nichts anderes fertig bringen, als ebenso zu quietschen wie die Kerls, die allabendlich für fünf Schilling in einer Musikbande spielen.«

»Wieviel mehr von diesem Unsinn sollen wir noch über uns ergehen lassen?« bemerkte Lucian hörbar, als Cashel atemschöpfend innehielt.

Byron wandte sich nach ihm um und maß ihn mit einem fragenden Blick.

»Heiliges Donnerwetter!« flüsterte Lord Worthington seinem Nachbar zu. »Der gute Mann sollte sich lieber in acht nehmen. Er täte besser, einen Knoten in seine Zunge zu machen.«

»Sie halten dies alles für Unsinn?« meinte Cashel nach einer Pause. Dann ergriff er einen der Leuchter und ließ den Schein auf ein Bild an der Wand fallen. »Sehen Sie den Kerl in der Rüstung – den Sankt-Georg mit dem Drachen oder was er sonst sein mag? Er ist gerade vom Pferde gesprungen, um mit dem andern Mann zu kämpfen, der den großen Helm auf dem Kopf hat und dessen Pferd gestürzt ist. Die Dame auf der Galerie ist halb toll vor Angst um den heiligen Georg – und sie hat auch allen Grund dazu. Das nenne ich mir eine Kampfstellung! Sein Gewicht ruht ja nicht auf den Beinen – wenn ein Kind ihn mit dem Finger berührt, so fällt er um. Sehen Sie doch nur, wie er seinen Hals vorstreckt und das Gesicht seinem Gegner wie einen Vollmond der ganzen Breite nach entgegenhält, als ob er ihn auffordern wollte, ihm mit einem Faustschlag beide Augen zu schließen. Sie können es alle erkennen, daß er schwach und nervös ist und vom Zweikampf keine Ahnung hat. Und warum ruft er diesen Eindruck bei Ihnen hervor? Gerade weil alles an ihm Anstrengung und Anspannung ist; weil er nicht ungezwungen dasteht; weil er das Gewicht seines Körpers ebenso ungeschickt trägt, wie eine von den Damen hier eine Ladung Ziegelsteine tragen würde; weil er nicht sicher, leicht und bequem auf seinen Stelzen steht, was er mühelos tun könnte, wenn er sich nur einen Augenblick gehen lassen und dem Körper gestatten wollte, sein eigenes Gleichgewicht von selbst zu finden. Wenn der Maler dieses Bildes seinen Kram verstände, so hätte er seinen Mann niemals in solcher Gestalt und Verfassung in die Arena geschickt. Das kann ja ein Blinder sehen, daß er keine Ahnung davon hat – nicht von den Grundbegriffen des Zweikampfes, sondern von den allgemeinen Prinzipien, die ich Ihnen genannt habe: daß Mühelosigkeit mit Kraft zusammengeht, und Anstrengung mit Schwäche. Und nun?« wandte Cashel sich noch einmal an Lucian. »Halten Sie meine Ansicht noch immer für Unsinn?« Dabei schmatzte er voll Befriedigung mit den Lippen.

Seine Kritik des Bildes rief eine gewaltige Sensation hervor; doch merkte er nichts davon, daß der Grund dafür in der persönlichen Anwesenheit des Urhebers, des Malers Adrian Herbert, zu suchen war.

Lucian trachtete die Frage zu überhören; er erkannte aber die Unmöglichkeit, den Frager zu übersehen. »Da Sie uns nun einmal mit rühmlichem Beispiel vorangegangen sind,« meinte er kurz, »und hier Ansichten zum Ausdruck bringen, ohne auf die Regeln der Höflichkeit irgend welche Rücksicht zu nehmen, so darf ich wohl sagen, daß Ihre Theorie, sofern sie so genannt werden kann, ein Widerspruch in sich selbst ist.«

Cashel blickte sichtlich unbeeinträchtigt, aber mit etwas entschlossenerem Wesen als ehedem um sich her, als ob er nach einem neuen Mittel greifbarer Veranschaulichung suche. Seine Augen blieben schließlich am Stuhl des Vorlesers haften, an einem umfangreichen mit karmoisinrotem Damast überzogenen Armsessel, der unbenutzt nicht weit hinter Lucian stand.

»Ich sehe. Sie verstehen Bilder nicht zu beurteilen,« entgegnete er gutmütig, indem er den Leuchter niederstellte, und gerade vor Lucian hintrat, der ihn hochmütig anblickte und sich nicht vom Fleck rührte. »Wir wollen die Sache also jetzt von einem andern Gesichtspunkt betrachten. Angenommen Sie wollen mir zur Strafe den fürchterlichsten Schlag versetzen, zu dem Sie überhaupt imstande sind. Was würden Sie da tun? Nach Ihrer Ansicht müßten Sie doch die denkbar größte Anstrengung machen. Sie sagen sich: ›Je mehr Anstrengung, desto mehr Gewalt. Ich werde ihn in Stücke schlagen, wenn ich dabei auch selbst daran glauben muß!‹ Wissen Sie, was dann geschehen würde? Sie würden mich nur leicht schneiden und mich böse machen und dabei mit einem einzigen Atemzug Ihre ganze Kraft erschöpfen. Hinwiederum – wenn Sie sich die Sache bequem machen – so, zum Beispiel –« Er trat einen kleinen Schritt vor und legte seine offene Handfläche auf Lucians Brust. Dieser taumelte augenblicklich, als ob ihn der Kolben einer Dampfmaschine getroffen hatte, und fiel rücklings in den Sessel.

»Sehen Sie wohl!« rief Cashel, der zur Seite stand, und zeigte auf ihn hin. »Als ob man einen Ball ins Netz würfe!«

Ein Gemurmel der Überraschung, des Beifalls und Widerspruchs tönte durch den Raum; die Gesellschaft scharte sich um den Tisch. Lucian erhob sich bleich vor Wut und verlor einen Augenblick lang alle Selbstbeherrschung. Die unmittelbare Folge hiervon bestand zum Glück in einer völligen Lähmung seiner Fähigkeiten: er sprach nicht und rührte sich nicht und verriet seine innere Erregung lediglich durch seine Blässe und den haßerfüllten Ausdruck seiner Züge.

Plötzlich fühlte er die Berührung seines Armes und hörte seinen Namen von Lydia nennen. Ihre Stimme beruhigte ihn. Er versuchte sie anzublicken, aber sein Sehvermögen war getrübt; er sah alles doppelt; die Lichter schienen vor seinen Augen zu tanzen; Worthington sagte etwas wie ›Ein wenig zu anschaulich und greifbar, altes Haus‹ zu Cashel, aber die Worte deuchten ihm, als kämen sie aus einem entlegenen Winkel des Zimmers und wurden ihm doch aus unmittelbarer Nähe ins Ohr geflüstert. Er schwankte noch unentschlossen auf der Suche nach Lydia hin und her, als er einen Schlag auf der Schulter verspürte und damit wieder zum vollen Bewußtsein und zur Empfindung seines Unwillens gelangte.

»Das hätten Sie sich wohl anders gedacht, nicht wahr?« meinte Cashel. »Machen Sie nur kein so verblüfftes Gesicht – Ihre Knochen sind noch alle heil. Sie haben auf Ihre Art Ihren kleinen Spaß mit mir gehabt; und ich habe mir einen kleinen Scherz auf meine Art gestattet. Das ist nicht mehr als recht und –«

Er stockte; seine ganze mutige Haltung war plötzlich dahin; er wurde unsicher und beschämt. Lucian zog sich ohne ein Wort der Erwiderung mit Lydia ins anstoßende Zimmer zurück, während er ihr mit sinnenden Blicken und offenem Munde nachstarrte.

Währenddessen suchte Mrs. Hoskyn, eine junge Frau mit ernsten, charakteristischen, brünetten Zügen und einer goldenen Brille, eifrig nach Lord Worthington, der durch sein Bestreben, ihr aus dem Wege zu gehen, das Bewußtsein seiner Schuld verriet. Sie schnitt ihm den Rückzug ab und trat ihm mit einem unverwandt auf ihn gerichteten Blick entgegen, der ihn zwang, halt zu machen und sich zu rechtfertigen.

»Wer ist der Herr, den Sie bei mir eingeführt haben? Ich habe seinen Namen vergessen.«

»Es ist mir wirklich fürchterlich peinlich, Mrs. Hoskyn. Byron hat sehr unrecht getan. Webber war aber auch über alle Maßen ungezogen.«

Mrs. Hoskyn wurde über diese unaufgeforderten Entschuldigungen noch ärgerlicher, insofern sie sie in die unangenehme Lage der Klägerin versetzten; sie erwiderte kühl: »So? Byron heißt er? Danke. Ich hatte es vergessen.«

Sie wollte sich gerade entfernen, als Lydia auf sie zukam, um ihr Alice vorzustellen und ihr gemeinsames unangemeldetes Erscheinen zu erklären. Lord Worthington benutzte die Gelegenheit um Cashels guten Ruf durch einen Hinweis auf Lydias Bekanntschaft mit ihm tunlichst wieder zu verbessern.

»Haben Sie unseres Freundes Byron Rede gehört, Miß Carew? Sehr bezeichnend, nicht wahr?«

»Sehr!« entgegnete Lydia. »Ich hoffe nur, Mrs. Hoskyns Gäste sind alle mit seiner Art vertraut. Sonst müßte er ihnen einen etwas absonderlichen Eindruck machen.«

»Allerdings,« meinte die Frau des Hauses, die sich verwundert zu fragen begann, ob Cashel nicht allenfalls ein allgemein bekanntes, etwas exzentrisches Genie wäre. »Er ist sehr seltsam. Mr. Webber ist doch hoffentlich nicht beleidigt?«

»Er ist um so weniger beleidigt, weil er unrecht hat!« sagte Lydia. »Das unduldsame Schweigen, den Gegner anzuhören, ist eine Art von Gewalttätigkeit, die sich nicht schickt in solch einem das neunzehnte Jahrhundert repräsentierenden Salon, wie es der Ihrige ist, Mrs. Hoskyn. Es war eine geschickte Art der Züchtigung durch kunstgerechte Anwendung physischer Gewalt. Und bei alledem dieser erstaunliche Takt. Ein Gentleman stößt einen andern den halben Weg durch einen mit Menschen erfüllten Salon, und doch nimmt niemand daran Anstoß.«

»Sie sehen also, Mrs. Hoskyn, der allgemeine Urteilsspruch lautet: Es geschieht ihm recht!« fügte Lord Worthington hinzu.

»Mit dem Zusatz, daß beide Herren die weitestgehende Gleichgültigkeit gegen die Empfindungen ihrer Wirtin an den Tag gelegt haben,« ergänzte Lydia. »Indes pflegen Männer ihr Gebaren ihrer Gemütsstimmung derartig selten zum Opfer zu bringen, daß es wirklich verlorene Mühe wäre, ihnen Vorwürfe zu machen. Sie sind sicherlich nicht für konventionelle Formen, Mrs. Hoskyn?«

»Ich bin für gute Manieren – entschieden nicht für konventionelle Manieren!«

»Und Sie glauben hierin an einen Unterschied?«

»Ich fühle hierin einen Unterschied,« entgegnete Mrs. Hoskyn würdevoll.

»Ich fühle ihn ebenfalls,« meinte Lydia. »Nur kann man andere Leute schlecht für seine subjektiven Anschauungen verantwortlich machen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Lydia zu einem anderen Teil des Zimmers hinüber. Die ganze Zeit hindurch hatte Cashel allein und freundlos dagestanden, die meisten der Anwesenden starrten ihn an und keiner richtete das Wort an ihn. Die Damen maßen ihn mit kühlen Blicken, um ja nicht den Verdacht zu erwecken, daß sie ihn vielleicht bewunderten; die Männer befleißigten sich einer nationalen Gewohnheit gemäß der denkbar abstoßenden Steifheit.

Seit Cashel Lydias Anwesenheit bemerkt hatte, war sein Selbstvertrauen der beunruhigenden Empfindung gewichen, daß er sich allem Anscheine nach höchst lächerlich gemacht habe. Er fühlte sich niedergeschlagen und einsam: wäre es nicht eine seiner Berufsgewohnheiten gewesen, selbst unter widerwärtigen Umständen ein möglichst vergnügtes Aussehen zur Schau zu tragen, er hätte sich am liebsten im dunkelsten Winkel des Zimmers versteckt. Er suchte eine boshafte Tröstung bei dem Gedanken, wie gut er doch sein Recht wahren konnte gegen einen steifen, schwarzbefrackten Gentleman, der es mit ihm ausfechten mußte, Mann gegen Mann, als Lord Worthington sich ihm eilig näherte:

»Ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie ein so glänzender Redner wären, Byron,« sagte er. »Sie können zur Geistlichkeit übergehen, wenn Sie das andere Geschäft aufgeben. Was meinen Sie?«

»Ich war ursprünglich nicht für dies andere Geschäft bestimmt,« entgegnete Cashel. »Und ich weiß zu feinen Damen und Herren ebenso gut zu sprechen, wie zu solchen Leuten, die Sie für meinesgleichen halten. Machen Sie sich meinetwegen nur keine Sorgen, Mylord. Ich finde mich schon allein zurecht.«

»Natürlich, natürlich,« erwiderte Worthington beruhigend. »Jedermann kann es an Ihrem Benehmen sehen, daß Sie ein Gentleman sind – das anerkennt man sogar im Ring. Andernfalls, wissen Sie – Sie nehmen es mir ja nicht übel, wenn ich's Ihnen offen sage – andernfalls hätte ich es nicht gewagt. Sie hier einzuführen.«

Cashel schüttelte den Kopf. Im Grunde genommen aber war er sehr befriedigt. Er hielt sich für aller Schmeichelei abhold: Hätte Worthington ihm gesagt, er wäre der beste Boxer in England – und das war er allem Anschein nach – er hätte den Lord verachtet; das heuchlerische Kompliment über sein gutes Benehmen aber wollte er glauben und er war daher von dessen Aufrichtigkeit völlig überzeugt.

Lord Worthington entging dies keineswegs; er zog sich mit großer Befriedigung über seinen eigenen Takt auf der Suche nach Mrs. Hoskyn zurück, um sie an ihr Versprechen der persönlichen Einführung der Madame Szczympliça zu erinnern – ein Versprechen, das die Frau des Hauses nicht zu halten sich innerlich vorgenommen hatte, um ihn auf diese Weise für Cashels minderwertiges Benehmen zu strafen.

Allmählich hielt Cashel es für besser, sich langsam zu entfernen. Lydia war von einer Gruppe von Herren umgeben, die in deutscher Sprache auf sie einredeten. Er wurde sich seiner eigenen Unfähigkeit, sogar in englischer Sprache an einer gebildeten Unterhaltung teilzunehmen, bewußt; zudem zweifelte er nicht an ihrem Ärger über die ihrem Vetter verursachte Aufregung, der gerade in eine ernste Unterhaltung mit Miß Goff vertieft war.

Plötzlich rief ein ohrenbetäubendes Geräusch ein allgemeines Auffahren und Stillschweigen hervor. Mr. Jack, der bedeutende Komponist, hatte den Flügel geöffnet und beschäftigte sich damit, einige in Zweifel gezogene Punkte musikalischer Komposition dadurch zu veranschaulichen, daß er mit seiner Stimme unharmonische Töne hervorbrachte und diese mit einigen wenigen Akkorden begleitete. Während Cashel sich durch die Menge seinen Weg zur Tür bahnte, machte er seiner Belustigung durch ein lautes Lachen Luft. Die Gäste sammelten sich gerade um das Instrument, da Madame Szczympliça zur Unterstützung ihres Freundes Jack herbeigeeilt war. In der Nähe der Tür, in einem entlegenen Teil des Zimmers stieß Byron auf Lydia und einen Herrn in mittleren Jahren, der offenbar weder ein Professor noch ein Künstler sein konnte.

»Abngas ist ein riesig kluger Kerl,« meinte der Herr gerade. »Schade, daß ich seinen Vortrag nicht gehört habe. Diesen ganzen Kram überlasse ich immer meiner Mary; sie empfängt oben die Leute, die sich an der hohen Kunst erfreuen, und ich nehme mir die vernünftigen Männer je nach dem Wetter in den Garten oder ins Rauchzimmer hinunter.«

»Und was machen die vernünftigen Frauen?« fragte Lydia.

»Sie kommen zu spät,« entgegnete Mr. Hoskyn mit einem wohlgefälligen Lächeln über seine eigene Antwort. Dann wurde er plötzlich der Nachbarschaft Cashels gewahr, erkundigte sich augenblicklich nach dessen Wohlbefinden und schüttelte ihm herzlich die Hand, wofür er im Austausch eine atemberaubende Umklammerung der seinen verspürte. Kaum hatte er bemerkt, daß Lydia und Cashel sich kannten, als er auch schon eilig das Weite suchte und die beiden einander überließ.

»Ich möchte wohl wissen, woher er mich kennt,« meinte Cashel, dessen Mut bei der liebenswürdigen Aufnahme seiner etwas linkischen Verbeugung wiederkehrte. »Ich habe ihn nie in meinem Leben zu sehen bekommen.«

»Er kennt Sie auch gar nicht,« entgegnete Lydia mit nachdrücklichem Ernst. »Er ist Ihr Wirt und zieht aus dieser Tatsache den Schluß, daß er Sie kennen müßte.«

»Aha, so also steht die Sache?« Er hielt inne, da ihm jeglicher Gesprächsstoff fehlte. Sie kam ihm nicht zu Hilfe. Endlich sagte er:

»Ich habe Sie lange nicht gesehen, Miß Carew.«

»Es ist nicht so lange her, daß ich Sie gesehen habe, Herr Cashel Byron. Ich hatte erst gestern in einiger Entfernung von London das Vergnügen.«

»Großer Gott!« rief Cashel. »Sagen Sie nur das nicht! Sie machen bloß Spaß, nicht wahr?«

»Nein. Spaßmachen bereitet mir in diesem Sinne kein Vergnügen.«

Cashel starrte sie bestürzt an: »Sie wollen doch damit hoffentlich nicht sagen, daß Sie hinausgefahren sind und dann dabei waren – wie –. Wo – wann haben Sie mich gesehen? So sagen Sie's mir doch!«

»Das will ich gern tun. In Clapham Junction – um ein Viertel nach sechs.«

»War noch jemand bei mir?«

»Ihr Freund, Herr Mellish, Lord Worthington und einige andere Persönlichkeiten.«

»Das stimmt – Lord Worthington war dabei. Wo aber waren Sie?«

»Im Wartezimmer, ganz in Ihrer Nähe.«

»Ich habe Sie nirgends bemerkt,« entgegnete Cashel über und über errötend, als er sich der Szene erinnerte. »Wir haben wohl etwas merkwürdig ausgesehen? Ich hatte eine Verletzung am Auge; und Mellish war nicht nüchtern. Waren Sie der Ansicht, daß ich mich in schlechter Gesellschaft befand?«

»Das ging mich nichts an, Herr Cashel Byron.«

»Nee!« bestätigte Cashel mit plötzlicher Bitterkeit. »Was kümmern Sie sich darum, in welcher Gesellschaft ich verkehre. Sie sind eben wütend auf mich, weil ich Ihren Vetter lächerlich gemacht habe – da liegt der Hund begraben.«

Lydia antwortete ihm in gedämpftem Tone, um ihn hiermit auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß sie nicht allein wären:

»Hier liegt gar kein Hund begraben. – Es handelt sich nur darum, daß Sie wie ein ausgewachsener Schuljunge sprechen und handeln, und nicht wie ein Mann. Ich bin über Ihren Angriff auf meinen Vetter keineswegs ärgerlich. Ihn aber hat es natürlich sehr unangenehm berührt – und ebenso Mrs. Hoskyn, auf deren Gäste Sie hätten Rücksicht nehmen müssen.«

»Ich wußte, daß Sie es mir krumm genommen haben. Hätte ich nur eine Ahnung davon gehabt, daß Sie zugegen waren – es wäre kein Wort über meine Lippen gekommen,« meinte Cashel völlig niedergeschmettert. »Wissen Sie, wozu Sie mich für gut genug halten? Um mich niederzulegen und auf mir herumtrampeln zu lassen. Ein anderer hätte ihm das Genick umgedreht.«

»Offenbar ist es Ihnen nicht bekannt, daß Herren in der Gesellschaft sich gemeiniglich nicht gegenseitig das Genick umdrehen – wie schwerwiegender Art die Herausforderung auch sein mag.«

»Ach ja, mir ist gar nichts bekannt,« entgegnete Cashel mit wehmütigem Eigensinn. »Alles was ich anfange, ist verkehrt. So – sind Sie jetzt mit mir zufrieden?«

»Mir liegt gar nichts daran, Sie gleichsam zum Geständnis eines Unrechts zu zwingen; eine niedrigere Meinung von mir können Sie nicht haben, als wenn Sie mir dergleichen zutrauen.«

»Gerade damit sind Sie auf dem Holzwege,« erwiderte Cashel halsstarrig. »Ich habe keineswegs eine niedrige Meinung von Ihnen. Ich meine nur, man kann auch zu klug sein.«

»Sie sind sich vielleicht nicht darüber klar, daß Ihre Annahme eine niedrige Meinung in sich schließt; nichtsdestoweniger verhält es sich so.«

»Meinetwegen, Sie sollen Ihren Willen haben. Ich bin wieder im Unrecht und Sie im Recht.«

»Damit bereiten Sie mir keine Genugtuung. Mir wäre es viel lieber, wir hätten beide recht und stimmten demzufolge überein. Verstehen Sie mich?«

»Das könnte ich nicht behaupten. Aber ich erkläre mich damit einverstanden. Alles übrige kann Ihnen ja ganz gleichgültig sein.«

»Entschuldigen Sie – mir liegt sehr viel daran, daß Sie mich verstehen. Darf ich es Ihnen noch einmal erklären? Sie glauben, ich möchte klüger sein als andere Leute. Darin irren Sie sich. Ich wollte, sie wüßten alles, was ich allenfalls weiß.«

Cashel lachte verschmitzt und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Streuen Sie sich nur selbst keinen Sand in die Augen,« sagte er. »Sie wollen keinen Menschen ebenso klug wissen wie sich selbst: das läge auch gar nicht im menschlichen Wesen begründet. Sie möchten, die Leute sollen gerade klug genug sein, damit Sie sich vorteilhaft von ihnen abheben können – damit es der Mühe lohnt, sie zu besiegen. Hingegen wäre es Ihnen gar nicht angenehm, wenn die anderen die Fähigkeiten besäßen, Sie zu besiegen. Gerade klug genug, um erkennen zu können, wieviel klüger Sie selbst sind – das ist ungefähr die Grenze. Stimmt das?«

Lydia machte keinen weiteren Versuch zu seiner geistigen Erleuchtung. Sie sah ihn gedankenverloren an und sagte dann langsam:

»Offenbar ist also die immerwiederkehrende Metapher vom Wettstreit und Kampf der erklärende Schlüssel zu Ihrer Idiosynkrasie. Sie haben sich auf die Seite der modernen Lehre vom Kampf ums Dasein geschlagen und betrachten das Leben als einen immerwährenden Wettstreit.«

»Einen Kampf? Stimmt aufs Haar! Was ist denn das Leben anders als ein Faustkampf? Die Minderwertigen stecken es auf, oder sie werden geschlagen; die Halunken sind käuflich, verschachern den Ausgang des Kampfes und verlieren das Vertrauen ihrer Wetter; die Schneidigen und die Tüchtigen gewinnen die Stakes und dann müssen sie den Löwenanteil den geldgespickten Müßiggängern aushändigen, die für die Kosten aufgekommen sind. Und mit allen der Reihe nach spielt das Glück Schindluder. Solchermaßen wird das Leben allerdings in Büchern nicht beschrieben – und doch kommt es schließlich nur darauf hinaus.«

»Sonderbar ausgedrückt – aber vielleicht wahr. Das ist aber nicht das Glaubensbekenntnis des blöden Toren, der Sie erst vor wenigen Augenblicken zu sein vorgaben. Sie spielen mit mir – Sie enthüllen Ihr Wissen stellenweise unter dem Schleier knabenhafter Arglosigkeit. Ich habe nichts mehr zu sagen.«

»Ich will gehenkt werden, wenn ich ein Wort davon verstehe! Ich habe nie den Arglosen gespielt. Geben Sie es doch endlich zu – nur weil ich Ihnen Ihren Vetter ein bißchen lächerlich gemacht habe, deshalb sind Sie jetzt so eklig.«

Lydia sah ihn ernst und zweifelnd an; und er zog gleichsam instinktiv seinen Kopf zurück, als ob er eine drohende Gefahr verspürte. »Sie verstehen mich also wirklich nicht?« fragte sie. »Ich werde nunmehr die Echtheit Ihrer Beschränktheit durch einen Appell an Ihren Gehorsam auf die Probe stellen.«

»Beschränktheit! Na, weiter im Text!«

»Wollen Sie mir auch wirklich gehorchen, wenn ich Ihnen einen Befehl erteile?«

»Ich gehe für Sie durch Feuer und Wasser.«

Eine leichte Röte huschte über Lydias Wangen; sie hielt in innerlicher Verwunderung über ihre neuartige Regung einen Augenblick inne, ehe sie weitersprach.

»Sie tun besser, sich bei meinem Vetter nicht zu entschuldigen – einesteils würden Sie die Sache damit nur verschlimmern – und vor allen Dingen verdient er es auch nicht. Wenn Sie sich aber nachher verabschieden, müssen Sie Mrs. Hoskyn folgende Rede halten: Es tut mir leid, ich habe mich vergessen.«

»Das klingt ja fast wie Shakespeare, nicht wahr?« bemerkte Cashel.

»Aha, die Probe hat Sie verraten! Sie schauspielern also doch! Das ändert aber nichts an meiner Meinung, daß Sie sich entschuldigen sollten.«

»Abgemacht! Ich weiß zwar nicht, was Sie mit der Probe und mit dem Schauspielern meinen – und ich hoffe nur, daß Sie es selbst wissen. Ganz egal! Ich werde mich entschuldigen – ein Mann wie ich, kann sich das schon leisten. Wenn Sie es wünschen, entschuldige ich mich auch bei Ihrem Vetter.«

»Ich wünsche es nicht. Darauf kommt es offenbar auch nicht an. Sie sollten sich darüber klar sein, daß ich diese Entschuldigung um Ihretwillen und nicht meinetwegen in Vorschlag bringe.«

»Soweit es sich um mich handelt, schere ich mich keinen Deut darum. Ich tue es alles nur Ihretwegen. Ich frage nicht einmal, ob zwischen ihm und Ihnen etwas los ist.«

»Möchten Sie das gar so gern wissen?« fragte Lydia entschlossen nach einer kurzen Pause des Staunens.

»Sie wollen's mir wirklich und wahrhaftig sagen?« rief er. »Wenn Sie das tun, dann sind Sie das reizendste Mädel unter der Sonne.«

»Warum sollte ich es Ihnen nicht sagen? Zwischen uns beiden besteht eine alte Freundschaft und die Verwandtschaft; wir sind aber keineswegs verlobt, und es besteht auch nicht die geringste Aussicht dazu. Ich sage Ihnen dies, weil Sie, wenn ich Ihren Fragen auswiche, den entgegengesetzten und demgemäß falschen Schluß ziehen würden.«

»Da bin ich wirklich herzlich froh,« entgegnete Cashel, dessen Gesichtsausdruck sich unerwartet verdüsterte. »Er ist nicht Manns genug für Sie. Aber er ist Ihresgleichen und der Teufel soll ihn holen!«

»Er ist mein Vetter und, ich glaube, mein aufrichtiger Freund. Ich bitte, ihn daher nicht zu verfluchen.«

»Ich weiß, ich hätte das nicht sagen sollen. Ich verfluche auch nur mein eigenes Geschick.«

»Womit Sie es nicht im geringsten verbessern.«

»Das weiß ich. Das hätten Sie mir nicht erst zu sagen brauchen. So dumm ich auch sein mag – ich hätte Ihnen so etwas nicht gesagt.«

»Natürlich glauben Sie, ich hätte mehr gemeint, als ich wirklich tat. Aber das spielt ja auch gar keine Rolle. Sie sind und bleiben für mich ein Rätsel. Wollen wir nicht lieber versuchen, etwas von Madame Szczympliças Spiel zu hören?«

»Ich sollte denken, ich wäre ein recht leicht lösbares Rätsel,« entgegnete Cashel betrübt. »Ich möchte Sie lieber zur Frau haben, als irgendein anderes Mädel auf der Welt. Sie sind aber viel zu reich und zu vornehm. Wenn ich schon nicht die Freude erleben soll, Sie zu heiraten, so will ich wenigstens die Befriedigung haben, Ihnen zu sagen, daß ich es gern möchte.«

»Wohl kaum eine ganz einwandfreie Art und Weise, diesen Gegenstand zu berühren,« entgegnete Lydia mit gemessener Würde, aber auch mit einem erneuten wechselvollen Farbenspiel auf ihren Wangen. »Gestatten Sie, daß ich mich bedingungslos dagegen verwahre. Mit Ihnen muß man deutlich reden, Herr Cashel Byron. Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie sind. Mich deucht, Sie haben mich in diesen beiden Punkten hinters Licht zu führen versucht –«

»Und Sie sollen auch weder das eine noch das andere jemals ausfindig machen – wenn ich etwas dazu tun kann,« unterbrach Cashel. »Wir befinden uns also offenbar nicht auf dem richtigen Wege, um zu einer Verständigung zu gelangen.«

»Allerdings,« bestätigte Lydia. »Ich umgebe mich nicht mit Geheimnissen, ich bewahre keine Geheimnisse und ich achte auch keine Geheimnisse. Ihre humorvollen Spiegelfechtereien stehen mit meinen Prinzipien im Widerspruch.«

»Sie reden auch noch von Humor?« erwiderte Cashel ärgerlich. »Sie halten mich womöglich für einen verkleideten Herzog? Wenn Sie es tun, so sollten Sie anders darüber denken. Angenommen, Sie hätten ein Geheimnis, und die Entdeckung dieses Geheimnisses würde zur Folge haben, daß Sie aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen würden – dann würden Sie schon dicht halten! Besonders, wenn es nicht Ihre eigene Schuld ist – bedenken Sie das – sondern einzig und allein die Folge von anderer Leute Feigheit und Vorurteil.«

»Gewiß gibt es in der Gesellschaft einige gemeingültige Befürchtungen und Vorurteile, denen ich nicht beistimme,« meinte Lydia nach einigem Nachdenken. »Sollte ich das Geheimnis herausfinden, so brauchen Sie nicht den voreiligen Schluß zu ziehen, daß Sie deshalb meine Wertschätzung verscherzt haben.«

»Sie sind gerade das letzte Wesen auf dieser Welt, von dem ich möchte, daß es hinter mein Geheimnis käme. Aber Sie werden es schon bald genug herauskriegen! Haha!« rief Cashel laut lachend. »Ich bin so bekannt wie ein bunter Hund. Aber ich kann es nicht über mich bringen, Ihnen die Wahrheit zu sagen – und dabei sind mir Geheimnisse ebenso verhaßt wie Ihnen. Lassen wir also die Sache fallen und reden wir von etwas anderem.«

»Wir haben schon lange genug geredet. Die Musik ist vorüber. Die Gäste werden bald in dies Zimmer zurückkehren und mich dann vielleicht fragen, wer und was der fremde Herr ist, der ihnen die bedeutsame Rede gehalten hat.«

»Noch ein Wort! Versprechen Sie mir, daß Sie diese Frage an niemand von den Leuten richten werden.«

»Ihnen versprechen? Nein. Das kann ich nicht versprechen.«

»Ach, du lieber Gott!« stöhnte Cashel.

»Ich habe Ihnen schon erklärt, daß ich nichts von Geheimnissen halte. Fürs erste also werde ich nicht fragen – aber ich könnte später doch anderen Sinnes werden. Für die nächste Zeit wollen wir auch längere Unterhaltungen vermeiden. Ich hoffe sogar, daß wir nicht zusammentreffen werden. Es gibt nämlich nur eine Sache auf der Welt, für die ich zu reich und zu vornehm bin – um mich hinters Licht führen zu lassen. Adieu.«

Ehe er eine Antwort hervorbringen konnte, war sie von seiner Seite gewichen, stand inmitten einer Anzahl von Herren und war mit einem von ihnen in ein Gespräch vertieft. Cashel blieb fassungslos und überwältigt zurück. Im nächsten Augenblick aber hatte er sich wieder gesammelt und trat keck und munter vor Mrs. Hoskyn hin, die sich gerade in erreichbarer Nähe befand.

»Ich gehe jetzt, gnädige Frau,« sagte er. »Meinen verbindlichsten Dank für den schönen Abend. Es tut mir leid, ich habe mich vergessen. Gute Nacht.«

Mrs. Hoskyn fühlte bei ihrem freimütigen und offenherzigen Naturell in unbestimmter Form das Bedürfnis nach einer Antwort auf diese Ansprache in ihrem Innern aufsteigen. Wenngleich sie sonst bei gesellschaftlichen Zwischenfällen um Worte nicht verlegen war, so vermochte sie ihn jetzt nur sprachlos anzublicken und ihm mit leichtem Erröten die Hand zu reichen. Er ergriff sie, als ob sie eine kleine Babyhand gewesen wäre, kniff sie unmerklich und wendete sich zum Gehen. Herr Adrian Herbert, der Maler, stand mit dem Rücken gegen ihn gerade in seinem Weg.

»Sie gestatten wohl, mein Herr,« sagte er, indem er ihn sanft um die Taille faßte und beiseite stellte, als ob er eine Modellpuppe wäre. Der Künstler wendete sich voll Empörung um; Cashel aber schritt bereits durch die Tür hinaus. Auf der Treppe begegnete er Lucian und Alice, und blieb einen Augenblick stehen, um von ihnen Abschied zu nehmen.

»Gute Nacht, Miß Goff!« rief er. »Es macht wirklich Freude, wenn man die roten Heideröschen auf Ihren Backen glühen sieht.« Dann dämpfte er seine Stimme und wendete sich an Lucian. »Lassen Sie sich von dem kleinen Trick, den ich Ihnen gezeigt habe, nicht die Laune verderben. Wenn einer Ihrer Freunde Sie deswegen hänselt, so sagen Sie ihm nur, daß es Cashel Byron war, der es getan hat. Und dann fragen Sie sie, ob es wohl einer von ihnen hätte besser machen können, als er es gemacht hat. Sorgen Sie auch dafür, daß Ihnen niemals einer in den Weg kommt, so lange Sie in derartig unbeholfener Weise auf Ihren Beinen stehen. Glauben Sie mir – wenn ein Mensch nicht ordentlich auf seinen Ständern ruht, dann muß er umfallen, sobald ihn ein Besenstiel berührt. So geht's nun einmal in der Welt! Gute Nacht.«

Lucian erwiderte seinen Gruß, da sein Unwille von einem gewissen gefahrdrohenden Eindruck in Cashels ganzem Wesen im Zaum gehalten wurde, insofern er der Wahrscheinlichkeit Raum gab, daß Cashel auf eine Abweisung hin den Beleidiger allenfalls über das Geländer schleudern könnte. Alice aber brachte ihm, seitdem Lydia ihn als einen Raufbold bezeichnet hatte, längst eine Art abergläubischer Furcht entgegen. Sie verspürten beide eine aufrichtige Erleichterung, als die Haustür sich schloß und sie hiermit von ihm trennte.


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