Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Mein Freund, Du suchest in Salerne
Den Menschensinn umsonst mit der Laterne;
Denn zeigt er sich auch nur von ferne,
So eilen Kutten und Kapuzen,
Der heiligen Verfinsterung zum Nutzen,
Zum dümmsten Glauben ihn zu stutzen.
Da löscht man des Verstandes Zunder,
Und mischt mit Pfaffenwitz des Widersinnes Plunder,
Zum Trost der Schurkerei, zum Wunder:
Und jeder Schuft, der fromm dem Himmel schmeichelt,
Und wirklich dumm ist, oder Dummheit heuchelt,
Kniet hin und betet, geht und meuchelt;
Gewiß, Vergebung seiner Sünden
Beim nächsten Plattkopf lästerlich zu finden.

Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich muß es Dir nur gestehen, daß ich den Artikel von der Vergebung der Sünden für einen der verderblichsten halte, den die Halbbildung der Vernunft zum angeblichen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden können. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedanke, daß Sünde vergeben werde: jeder wird wohl mit allen seinen bösen und guten Werken hingehen müssen, wohin ihn seine Natur führt. Eine mißverstandene Humanität hat den Irrtum zum Unglück des Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht besser machen. Was ein Mensch gefehlt hat, bleibt in Ewigkeit gefehlt; es läßt sich keine einzige Folge einer einzigen Tat aus der Kette der Dinge herausreißen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Natur selbst gegeben, und die Herrscherin Vernunft soll sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich davon zu überzeugen. Soll vielleicht dieser Trost großen Bösewichtern zu Statten kommen? Alle Schurken, die sich nicht bessern können, die von Beichte zu Beichte täglich schlechter, weggeworfener und niederträchtiger werden; diese sollen zum Heile der Menschheit verzweifeln. Jeder soll haben, was ihm zukommt. Die Verzweiflung der Bösewichter ist Wohltat für die Welt; sie ist das Opfer, das der Tugend und der Göttlichkeit unserer Natur gebracht wird. Verzweifle, wer sich nicht bessern, sich nicht vernünftig beruhigen kann; die Vergebung der Sünden kann ich nicht begreifen: sie ist ein Widerspruch, gehört zu den Gängelbändern der geistlichen Empirik, damit ja niemand allein gehen lerne. Man darf nur die Länder recht beschauen, wo diese entsetzliche Gnade im größten Umfange und Unfuge regiert; kein rechtlicher Mann ist dort seiner Existenz sicher. Die Geschichte belegt.

Hier in Salerne erhielt ich einen neuen Führer, der mir sehr problematisch aussah. Er machte mich dadurch aufmerksam, daß ich bei ihm außerordentlich sicher sei, weil er alles schlechte Gesindel als freundliche Bekannte grüßte, und meinte, in seiner Gesellschaft könne mir nichts geschehen. Das begriff ich und war ziemlich ruhig, obgleich nicht wegen seiner Ehrlichkeit. Er hätte mich öffentlich in der Stadt übernommen; es galt also seine eigene Sicherheit, mich dahin wieder zurückzuliefern: weiter hätte ich ihm dann nicht trauen mögen. Wir fuhren noch diesen Abend ab, und blieben die Nacht an der Straße in einem einzelnen Wirtshause, wo sich der Weg nach Pästum rechts von der Landstraße nach Eboli und Kalabrien trennt. Diese Landstraße geht von hier aus nur ungefähr noch vierzig Millien; dann fängt sie an sizilianisch zu werden, und ist nur für Maulesel gangbar. Es war herrliches Wetter; der Himmel schien mir an dem schönen Morgen vorzüglich wohl zu wollen: meine Seele ward lebendiger als gewöhnlich.

Ich eilte fort und Nachtigallen schlugen
Mir links und rechts in einem Zauberchor
Den Vorgeschmack des Himmels vor,
Und laue, leise Weste trugen
Mich im Genuß für Aug' und Ohr
Durch Gras wie Korn und Korn wie Rohr.
Balsamisch schickte jede Blume
Mir üppig ihren Wohlgeruch,
Der Göttin um uns her zum Ruhme,
Aus Florens großem Heiligtume;
Und rund umher las ich das schöne Buch
Der Schöpfung, jauchzend, Spruch vor Spruch.
Die goldnen Hesperiden schwollen
Am Wege hin in freundlicher Magie,
Und Mandeln, Wein und Feigen quollen
Am Lebenstrahl des Segensvollen
In stillversteckter Eurhythmie;
Und Klee wie Wald begrenzte sie.
Ich eilte fort, hochglühend ward die Sonne,
Und fühlte schon voraus die Wonne,
Mit Pästums Rosen in der Hand,
An eines Tempels hohen Stufen,
Wo Maro einst begeistert stand,
Die Muse Maros anzurufen.
Die Tempel stiegen, groß und hehr,
Mir aus der Ferne schon entgegen,
Da ward die Gegend menschenleer
Und öd' und öder um mich her,
Und Wein wuchs wild auf meinen Wegen.
Da stand ich einsam an dem Tore
Und an dem hohen Säulengang,
Wo ehmals dem entzückten Ohre
Ein voller Zug im vollen Chore
Das hohe Lob der Gottheit sang.
Verwüstung herrscht jetzt um die Mauer,
Wo einst die Glücklichen gewohnt,
Und mit geheimem tiefem Schauer
Sah ich umher und sahe nichts verschont;
Und meine Freude ward nun Trauer.
Umsonst blickt Titan hier so milde,
Umsonst bekrönet er im Jahr
Zwei Mal mit Ernte die Gefilde;
Du suchst von allem, was einst war,
Umsonst die Spur; ein zottiger Barbar
Schleicht mit der Dummheit Ebenbilde,
Ein Troglodyt, erbärmlicher als Wilde,
Um den verschütteten Altar.
Nur hier und da im hohen Grase wallt,
Den Menschensinn noch greller anzustoßen,
Dumpf murmelnd eine Mönchsgestalt.
Freund, denke Dir die Seelenlosen,
In Pästum blühen keine Rosen.

Ich gebe Dir zu, daß in diesen Versen wenig Poesie ist; aber desto mehr ist darin lautere Wahrheit. Ich hielt mich hier nur zwei Stunden auf, umging die Area der Stadt, in welcher nichts als die drei bekannten großen, alten Gebäude, die Wohnung des Monsignore, eines Bischofs wie ich höre, ein elendes Wirtshaus und noch ein anderes jämmerliches Haus stehen. Das ist jetzt ganz Pästum. Hier dachte ich mir Schillers Mädchen aus der Fremde; aber weder die Geberin noch die Gaben waren in dem zerstörten Paradiese. Ich suchte, jetzt in der Rosenzeit, Rosen in Pästum für Dich, um Dir ein klassisch sentimentales Geschenk mitzubringen; aber da kann ein Seher keine Rose finden. In der ganzen Gegend rundumher, versicherte mich einer von den Leuten des Monsignore, ist kein Rosenstock mehr. Ich durchschaute und durchsuchte selbst alles, auch den Garten des gnädigen Herrn; aber die Barbaren hatten keine einzige Rose. Darüber geriet ich in hohen Eifer und donnerte über das Piakulum an der heiligen Natur. Der Wirt, mein Führer, sagte mir, vor sechs Jahren wären noch einige da gewesen; aber die Fremden hätten sie vollends alle weggerissen. Das war nun eine erbärmliche Entschuldigung. Ich machte ihm begreiflich, daß die Rosen von Pästum ehedem als die schönsten der Erde berühmt gewesen, daß er sie nicht mußte abreißen lassen, daß er nachpflanzen sollte, daß es sein Vorteil sein würde, daß jeder Fremde gern etwas für eine pästische Rose bezahlte; daß ich, zum Beispiel, selbst jetzt wohl einen Piaster gäbe, wenn ich nur eine einzige erhalten könnte. Das letzte besonders leuchtete dem Manne ein; um die schöne Natur schien er sich nicht zu bekümmern: dazu ist die dortige Menschheit zu tief gesunken. Er versprach darauf zu denken, und ich habe vielleicht das Verdienst, daß man künftig in Pästum wieder Rosen findet: wenigstens will ich hiermit alle bitten, die nämlichen Erinnerungen eindringlich zu wiederholen, bis es fruchtet.

Eine Abhandlung über die Tempel erwarte nicht. Ich setzte mich an einem Rest von Altar hin, der in einem derselben noch zu finden ist, und ruhte eine Viertelstunde unter meinen Freunden, den Griechen. Wenn einer ihrer Geister zurückkäme und mich Hyperboreer unter den letzten Trümmern seiner Vaterstadt sähe! Hier ist mehr als in Agrigent. Ich bin nicht der erste, welcher es anmerkt, was die Leute für gewaltig hohe Stufen gemacht haben, hier und in Agrigent. Man muß sehr elastisch steigen, oder man ist in Gefahr sich einen Bruch zu schreiten. Daß einer von den Tempeln dem Neptun gehöre, beruht wahrscheinlich nur auf dem Umstand, daß Neptun der vorzügliche Schutzgott der Stadt war: so wie man eines der Gebäude für eine Palästra hält, weil es anders als die gewöhnlichen Tempel mit zwei Reihen Säulen übereinander gebauet ist. Sollte dieses nicht vielmehr ein Buleuterion gewesen sein? Denn es läßt sich nicht wohl begreifen, wozu die obere Säulenreihe in einer Palästra dienen sollte. Vielleicht war es auch Buleuterion und Palästra zugleich; unten dieses, oben jenes. Nicht weit von den Gebäuden zeigte man mir noch als eine Seltenheit einen Stein, der nur vor kurzem gefunden sein muß, weil ich ihn noch von niemand angeführt gefunden habe. Es ist aber nur ein gewöhnlicher Leichenstein, und zwar ziemlich neu aus der lateinischen Zeit. Das Quadrat der Stadt ist noch überall sehr deutlich zu unterscheiden durch die Trümmern der Mauern. Das Tor nach Salerne hin hat noch etwas hohes Gemäuer, und das Bergtor ist noch ziemlich ganz und wohl erhalten. Die beiden übrigen, die man mir als das Seetor und Justiztor nannte, zeigen nur noch ihre Spuren. Die Hauptursache, warum dieser Ort vor allen übrigen so gänzlich in Verfall geraten ist, scheint mit das schlechte Wasser zu sein. Ich versuchte zwei Mal zu trinken, und fand beide Mal Salzwasser: das Meer ist nicht fern, die Gegend ist tief, und auch aus den nahen Bergen kommt Salzwasser. Das süße Wasser mußte weit und mit großen Kosten hergeleitet werden. Die Vegetation rechtfertigt noch jetzt Virgils Angabe. Der Anblick ist einer der schönsten und der traurigsten. Als ich auf dem Rückwege zu Fuße etwas vorausging, lag auf den Ästen eines Feigenbaums eine große Schlange geringelt, die mich ruhig ansah. Sie war wohl stärker als ein Mannsarm, ganz schwarz von Farbe und ihr Blick war furchtbar. Sie schien sich gar nicht um mich zu bekümmern, und ich hatte eben nicht Lust ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Es fiel mir ein, daß Virgil atros colubros anführt, die er eben nicht als gutartig beschreibt: diese schien von der Sorte zu sein.

Auf meiner Rückkehr hatte ich Gelegenheit zwei sehr ungleichartige Herren von dem neapolitanischen Militär kennenzulernen. Ich wurde einige Millien von Salerne an der Straße angehalten, und ein Offizier nicht mit der besten Physiognomie setzte sich geradezu zu mir in die Karriole, ohne eine Silbe Apologie über ein solches Betragen zu machen, und wir fuhren weiter. Ich hörte, daß mein Fuhrmann vorher entschuldigend sagte: E un signore Inglese: das half aber nichts; der Kriegsmann pflanzte sich ein. Als er Posten gefaßt hatte, wollte er mir durch allerhand Wendungen Rede abgewinnen: seine Grobheit hatte mich aber so verblüfft, daß ich keine Silbe vorbrachte. Vor der Stadt stieg er aus und ging fort ohne ein Wörtchen Höflichkeit. Das ist noch etwas stärker als die Impertinenz der deutschen Militäre hier und da gegen die sogenannten Philister, die doch auch zuweilen systematisch ungezogen genug ist. Als ich gegen Abend in der Stadt spazieren ging, redete mich ein Zweiter an: Sie sind ein Engländer? – Nein. – Aber ein Russe? – Nein. – Doch ein Pole? – Auch nicht. – Was sind Sie denn für ein Landsmann? – Ich bin ein Deutscher. – Tut nichts; Sie sind ein Fremder und erlauben mir, daß ich Sie etwas begleite. – Sehr gern, es wird mir angenehm sein. Ich sah mich um, als ob ich etwas suchte. Er fragte mich, ob ich in ein Kaffeehaus gehen wollte. Wenn man Eis dort hat; war meine Antwort. Das war zu haben: er führte mich und ich aß tüchtig, in der Voraussetzung ich würde für mich und ihn tüchtig bezahlen müssen. Das pflegte so manchmal der Fall zu sein. Aber als ich bezahlen wollte, sagte die Wirtin, es sei alles schon berichtigt. Das war ein schöner Gegensatz zu der Ungezogenheit vor zwei Stunden. Er begleitete mich noch in verschiedene Partien der Stadt, besonders hinauf zu den Kapuzinern, wo man eine der schönsten Aussichten über den ganzen Meerbusen von Salerne hat. Ich konnte mich nicht enthalten, dem jungen, artigen Manne das schlimme Betragen seines Kameraden zu erzählen. Ich bin nicht gesonnen, sagte ich, mich in der Fremde in Händel einzulassen; aber wenn ich den Namen des Offiziers wüßte und einige Tage hier bliebe, würde ich doch vielleicht seinen Chef fragen, ob dieses hier in der Disziplin gut heiße. Der junge Mann fing nun eine große, lange Klage über viele Dinge an, die ich ihm sehr gern glaubte. Wir gingen eben vor einem Gefängnisse vorbei, aus dessen Gittern ein Kerl sah und uns anredete. Dieser Mensch hat vierzig umgebracht, sagte der Offizier, als wir weitergingen. Ich sah ihn an. Hoffentlich kann es ihm nicht bewiesen werden; erwiderte ich. – Doch, doch; für wenigstens die Hälfte könnte der Beweis völlig geführt werden. Mich überlief ein kalter Schauder: und die Regierung? fragte ich. Ach Gott, die Regierung, sagte er ganz leise, – braucht ihn. Hier faßte es mich wie die Hölle. Ich hatte dergleichen Dinge oft gehört; jetzt sollte ich es sogar sehen. Freund, wenn ich ein Neapolitaner wäre, ich wäre in Versuchung aus ergrimmter Ehrlichkeit ein Bandit zu werden und mit dem Minister anzufangen. Welche Regierung ist das, die so entsetzlich mit dem Leben ihrer Bürger umgeht! Kann man sich eine größere Summe von Abscheulichkeit und Niederträchtigkeit denken? Jetzt wird er doch nun hoffentlich seine Strafe bekommen; sagte ich zu meinem unbekannten Freund. Ach nein, antwortete er; jetzt sitzt er wegen eines kleinen Subordinationsfehlers, und morgen früh kommt er los. – Wieder ein hübsches Stückchen von der Vergebung der Sünde. Die Amnestie des Königs hat die Armee und die Provinzen mit rechtlichen Räubern angefüllt. Er nahm die Banditen auf, sie waren brav wie ihr Name sagt, er belohnte sie königlich, gab Ämter und Ehrenstellen; und jetzt treiben sie ihr Handwerk als Hauptleute der Provinzen gesetzlich. Dieses wird in der Residenz erzählt, auf den Straßen und in Provinzialstädten, und es werden mit Abscheu Personen und Ort und Umstände dabei genannt.


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