Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Wien

Den zweiten Weihnachtsfeiertag kamen wir hier in Wien an, nachdem wir die Nacht vorher in Stockerau schon echt wienerisch gegessen und geschlafen hatten. An der Barriere wurden wir durch eine Instanz angehalten und an die andere zur Visitation gewiesen. Ich armer Teufel wurde hier in bester Form für einen Hebräer angesehen, der wohl Juwelen oder Brabanter Spitzen einpaschen könnte. Über die Physiognomen! Aber man mußte doch den casum in terminis gehabt haben. Mein ganzer Tornister wurde ausgepackt, meine weiße und schwarze Wäsche durchwühlt, mein Homer beguckt, mein Theokrit herumgeworfen und mein Virgil beschaut, ob nicht vielleicht etwas französischer Konterband darin stecke; meine Taschen wurden betastet und selbst meine Beinkleider fast bis an das heilige Bein durchsucht: alles sehr höflich; so viel nämlich Höflichkeit bei einem solchen Prozesse Statt finden kann. I must needs have the face of a smuggler. Meine Briefe wurden mir aus dem Taschenbuche genommen, und dazu mußte ich einen goldnen Dukaten eventuelle Strafe niederlegen, weil ich gegen ein Gesetz gesündigt hatte, dessen Existenz ich gar nicht wußte und zu wissen gar nicht gehalten bin. »Du sollst kein versiegeltes Blättchen in deinem Taschenbuche tragen.« Der Henker kann so ein Gebot im Dekalogus oder in den Pandekten suchen. Aus besonderer Güte, und da man doch am Ende wohl einsah, daß ich weder mit Brüssler Kanten handelte noch die Post betrügen wollte, erhielt ich die Briefe nach drei Tagen wieder zurück, ohne weitere Strafe, als daß man mir für den schönen vollwichtigen Dukaten, nach der Kaisertaxe, von welcher kein Kaufmann in der Residenz mehr etwas weiß, neue blecherne Zwölfkreuzerstücke gab. Übrigens ging alles freundlich und höflich her, an der Barriere, auf der Post, und auf der Polizei. Wider alles Vermuten bekümmerte man sich um uns nun mit keiner Silbe weiter, als daß man unsere Pässe dort behielt und sagte, bei der Abreise möchten wir sie wieder abholen. Sobald ich meine Empfehlungsbriefe von der Post wieder erhalten hatte, wandelte ich herum sie zu überliefern und meine Personalität vorzustellen. Die Herren waren alle sehr freundschaftlich und honorierten die Zettelchen mit wahrer Teilnahme. Ich könnte Dir hier mehrere brave Männer unserer Nation nennen, denen ich nicht unwillkommen war, und die ich hier zum ersten Mal sah; aber Du bist mit ihrem Wert und ihrer Humanität schon mehr bekannt als ich.

Gestern war ich bei Füger und hatte eine schöne Stunde wahren Genusses. Der Mann hat mich mit seinen Gesinnungen und seiner Handelsweise sehr interessiert. Er hatte eben Geschäfte, und ich konnte daher seine offene Ungezwungenheit desto besser bemerken: denn er besorgte sie so leicht, als ob er allein gewesen wäre, ohne uns dabei zu vernachlässigen. Wer in den Zimmern eines solchen Mannes lange Weile hat, für den ist keine Rettung. Er hatte soeben seinen Achilles bei dem Leichnam des Patroklus vollendet, der auch nun gezeichnet und in Kupfer gestochen werden soll. Ich hatte die Stelle nur noch einige Tage vorher in meinem Homer gelesen; Du kannst also denken, mit welcher Begierde ich an dem Stücke hing. Es ist ein bezauberndes Bild. Der junge Held in Lebensgröße bei dem Toten, der bis an die Brust neben ihm sichtbar ist, scheint sich soeben von seinem tiefsten Schmerz zu erholen und Rache zu beschließen. Die Figur ist ganz nackt, und scheint mir ein Meisterstück der Zeichnung und Färbung; aber der Kopf ist göttlich. Du weißt, ich hin nicht Enthusiast; aber ich konnte mich kaum im Anschauen sättigen. Wenn meine Stimme etwas gelten könnte, würde ich mit der himmlisch jugendlichen Schönheit des Gesichts nicht ganz zufrieden sein. Der Held, der hier vorgestellt werden sollte, ist nicht mehr der Jüngling, den Ulysses unter den Töchtern Lykomeds hervorsuchte; es ist der Pelide, der schon gefochten und gezürnt hat, der schon das Schrecken der Trojaner war. Um dieses zu sein, scheint mir der Kopf noch zu viel aus dem Gynäceum zu haben. Mich deucht, der Mann sollte schon etwas vollendeter sein: die Periode ist selbst nur sehr kurze Zeit vor seinem eigenen Tode. Ich bescheide mich gern, und überlasse dieses den Eingeweihten der Kunst. Ein Sklave steht hinter ihm, auf dessen Gesichte man Erstaunen und Furcht liest.

Mehr als alles war mir wichtig sein Zimmer der Messiade. Hier hängt fast zu jedem Gesange eine Meisterzeichnung, an der sein Geist mit Liebe und Eifer gearbeitet hat. Er sagte mir, daß er vor Angst einige Wochen nicht zum Entschlusse habe kommen können, was er mit dem Gedicht anfangen solle, bis auf einmal die ganze Reihe der Szenen sich ihm dargestellt habe. Es sind zwanzig, und nur von vieren hat Göschen die Kupfer zu seiner schönen Ausgabe erhalten. Es wäre wert, daß Göschen mit seinem gewöhnlichen Enthusiasmus für Wahrheit und Schönheit in der Kunst mit wackern Künstlern sich entschlösse, sie dem Publikum alle mitzuteilen: aber die Unternehmung würde keinen kleinen Aufwand erfordern, wenn Füger auf keine Weise leiden sollte. Figuren und Gruppen sind vortrefflich, die apostolischen Gesichter bezaubernd, und Judas mit dem Satan gräßlich charakteristisch, ohne Karikatur. Vorzüglich hat mich das Blatt gerührt, wo der Apostel nach dem Tode des geliebten Lehrers den Weibern die Dornenkrone bringt. Die Stelle ist ein Meisterwerk des Pathos im Gedicht; das hat der Künstler gefühlt und sein Gefühl mit voller Seele der Gruppe eingehaucht. Der Eifer des Kaifas ist ein Feuerstrom, und der Hauptmann der Römer gleicht Einem, der in seinem Schrecken es noch zeigt, daß er zu dem alten Kapitol gehört. Porcia ist ein göttliches Weib. Am wenigsten hat mich das erste und letzte Blatt befriedigen wollen, weil ich mich mit der Personifizierung der Gottheit nicht vertragen kann. Man nehme das Ideal noch so hoch, es kommt immer nur ein Jupiter Olympius: und diesen will ich nicht haben; er ist mir nicht genug. Christus ist das erhabenste Ideal der christlichen Kunst. Er ist selbst nach der orthodoxesten Lehre noch unser Bruder. Bis zu ihm kann sich unsere Sinnlichkeit erheben, aber weiter nicht. Unsere Apostel und Heiligen sind die Götter und Heroen des alten Mythus. Bis zu Platos einzig wirklichem Wesen hat sich auch kein griechischer Künstler emporgewagt. Der olympische Jupiter ist der homerische. Ich wünschte Klopstock und Wieland nur eine Stunde hier in diesem Zimmer: sie würden Lohn für ihre Arbeit finden, und Füger für die seinige.

Ich muß Dir noch über zwei Stücke von Füger etwas sagen, die ich in den Zimmern des Grafen Fries antraf und die Du vielleicht noch nicht kennst. Der Graf erinnerte sich meiner mit Güte von der Akademie her, und seine Freundlichkeit und Gefälligkeit gegen Fremde, so wie sein Enthusiasmus für Kunst und Wissenschaft, in denen er seinen besten Genuß hat, sind allgemein bekannt. Die beiden Gemälde sind ziemlich neu; denn das erste ist nur zwei Jahre alt und das zweite noch jünger. Das erste ist Brutus der Alte, wie er seine Söhne verdammt; und der Moment ist das furchtbare: Expedi secures! Man muß das Ganze mit Einem Blicke umfassen können, um die Größe der Wirkung zu haben, die der Künstler hervorgebracht hat. Jede Beschreibung, die aus einander setzt, schwächt. Das Stück ist reich an Figuren; aber es ist keine müßig: sie gehören alle zur Katastrophe, oder nehmen Anteil daran. Alles ist richtiger, eigentümlicher Charakter, vom Konsul bis zum Liktor. Alles ist echt römisch, und schön und groß. Ich darf nicht wagen zu beschreiben; es muß gesehen werden. Vorzüglich rührend für mich war eine sehr glückliche Episode, die, soviel ich mich erinnere, der alte Geschichtschreiber nicht hat: oder wenn er sie hat, wirkt sie hier im Bilde mächtiger als bei ihm in der Erzählung. Ein ziemlich alter Mann steht mit seinen zwei Knaben in der Entfernung und deutet mit dem ganzen Ausdruck eines flammenden Patriotismus auf den Richter und das Gericht hin, als ob er sagen wollte: Bei den Göttern, so müßte ich gegen euch sein, wenn ihr würdet wie diese! Vater und Söhne sind für mich unbeschreiblich schön.

Das zweite Stück ist Virginius, der soeben seine Tochter geopfert hat, das Messer dem Volke und dem Decemvir zeigt, und als ein furchtbarer Prophet der künftigen Momente nur einen Augenblick dasteht. Dieser Augenblick war einzig für den Geist des Künstlers. Die beiden Hauptfiguren, Virginius und Appius Klaudius sind in ihrer Art vortrefflich: aber unbeschreiblich schön, rührend und von den Grazien selbst hingehaucht ist die Gruppe der Weiber, die das sterbende Mädchen halten. Diese bekümmern sich nicht um den Vater, nicht um den tyrannischen Richter, nicht um das Volk, um nichts, was um sie her geschieht; sie sind ganz allein mit dem geliebten Leichnam beschäftiget. Eine so reizende Verschlingung schwebte selten der Seele eines Dichters vor: nimm nun noch die Vollendung und Zartheit der Figuren und das Pathos des Augenblicks dazu. Es ist eine der schönsten Kompositionen aus der Seele eines Künstlers, den der Genius der hohen und schönen Humanität belebte. Ich würde niederknien und anbeten, wenn ich die Römer nicht besser kennte. Du weißt aber schon hierüber meine etwas ketzerische Denkungsart. Als Philanthrop betrachtet möchte ich lieber in Rußland leben, an der Kette der dortigen Knechtschaft, als unter dem Palladium der römischen Freiheit. Beschuldige mich nicht zu schnell eines Paradoxons. Wehe den neuen Galliern, wenn sie die altrömische Freiheit ihrer Nation oder gar ihren Nachbarn aufdringen, oder, wie Klopstock spricht, aufjochen wollen! Aber wo gerate ich hin?

Fügers neuestes Werk, an dem er jetzt, wie ich höre, für den Herzog Albert von Sachsen-Teschen arbeitet, ist ein Jupiter, der dem Phidias erscheint, um ihn zu seinem Bilde vom Olympus zu begeistern. Da es in die Höhe kommen soll, ist die Anlage etwas kolossalisch. Der Gedanke ist kühn, sehr kühn: aber Füger ist vielleicht gemacht solche Gedanken auszuführen. Mit einer liebenswürdigen Offenheit gesteht der große Künstler, daß er einige seiner herrlichsten Kompositionen aus Vater Wielands Aristipp genommen hat. Nun wünschte ich auch David einige Stunden so nahe zu sein, wie ich es Füger war; und ich hoffe es soll mir gelingen.

Während der vierzehn Tage, die ich hier hausete, war nur einige Mal ein Stündchen reines, helles Wetter, aber nie einen ganzen Tag; und die Wiener klagen, daß dieses fast beständig so ist. Da ging ich denn so finster zuweilen allein für mich auf dem Walle und etymologisierte. Vindobona, quia dat vinum bonum; Danubius, quia dat nubes; und dergleichen mehr: wer weiß, ob die Römer bei ihrer Nomenklatur nicht an so etwas gedacht haben. Wenn Harrach, Füger, Retzer, Ratschky, Miller und einige andere nicht gewesen wären, die mir zuweilen ein Viertelstündchen schenkten, ich hätte den dritten Tag vor Angst meinen Tornister wieder packen müssen.

Von dem Wiener Theaterwesen kann ich Dir nicht viel Erbauliches sagen. Die Gesellschaft des Nationaltheaters ist abwechselnd in der Burg und am Kärntner Tore, und spielt so gut sie kann. Das männliche Personale ist nicht so arm als das weibliche; aber Brockmann steht doch so isoliert dort und ragt über die andern so sehr empor, daß er durch seine Überlegenheit die Harmonie merklich stört. Die andern, unter denen zwar einige gute sind, können ihm nicht nacharbeiten, und so geht er oft zu ihnen zurück; zumal da auch seine schöne Periode nun vorbei ist. Man gab eben das Trauerspiel Regulus. Ich gestehe Dir, daß es mir ungewöhnlich viel Vergnügen gemacht hat; vielleicht schon deswegen, weil es einen meiner Lieblingsgegenstände aus der Geschichte behandelte. Ich halte das Stück für recht gut gearbeitet, so viel ich aus einer einzigen Vorstellung urteilen kann, wo ich mich aber unwillkürlich mehr zum Genuß hingab, als vielleicht zur Kritik nötig war. Es sind allerdings mehrere kleine Verzeichnungen in den Charaktern; aber das Ganze hat doch durchaus einen sehr festen, ernsthaften nicht unrömischen Gang: die Sprache ist meistens rein und edel, und ich war zufrieden. Zum Meisterwerke fehlt ihm freilich noch manches; aber Apollo gebe uns nur mehrere solche Stücke, so haben wir Hoffnung auch jene zu erhalten. Es wird mir noch lange einen großen Genuß gewähren, Brockmann in der Rolle des Regulus gesehen zu haben. Der weibliche Teil der Gesellschaft, der auf den meisten Theatern etwas arm zu sein pflegt, ist es hier vorzüglich; und man ist genötigt die Rolle der ersten Liebhaberin einer Person zu geben, die mit aller Ehre Äbtissin in Quedlinburg oder Gandersheim werden könnte. Die Dame ist gut, auch gute Schauspielerin; aber nicht mehr für dieses Fach.

Die Italiener sind verhältnismäßig nicht besser. Man trillert sehr viel, und singt sehr wenig. Der Kastrat Marchesi kombabusiert einen Helden so unbarmherzig in seine eigene verstümmelte Natur hinein, daß es für die Ohren des Mannes ein Jammer ist; und ich begreife nicht, wie man mit solcher Unmenschlichkeit so traurige Mißgriffe in die Ästhetik hat tun können. Das mögen die Italiener, wie vielen andern Unsinn, bei der gesunden Vernunft verantworten, wenn sie können.

Ich, meines Teils, will keine Helden,
Die uns, entmannt und kaum noch mädchenhaft,
Sogleich den Mangel ihrer Kraft
Im ersten Tone quiekend melden,
Und ihre lächerliche Wut
Im Schwindel durch die Fistelhöhen
Von ihrem Brett herunterkrähen,
Wie Meister Hahns gekappte Brut.
Wenn ich des Hämmlings Singsang nicht
Wie die Taranteltänze hasse,
So setze mich des Himmels Strafgericht
Mit ihm in Eine Klasse.

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