Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Neapel

Ich erwachte im Hafen. Eine Mütze voll günstiger Wind und die Geschicklichkeit des Kapitäns hatten uns hereingebracht. Nun machte ich in drei Minuten meine Toilette, nahm den ersten besten Lazarone und wandelte in mein altes Wirtshaus auf Montoliveto, wo ich sogar meine alte Stube wieder leer fand. Das war mir sehr lieb; denn ich hin gar kein Freund von Veränderung. Mein alter Genuese war bei einem andern Fremden, und ich konnte den ersten Tag keinen Lohnbedienten erhalten, weil man gehört hatte, daß ich sehr viel zu Fuße herumlief und laufen wollte, ob ich mich gleich erbot einige Karlin mehr als gewöhnlich zu zahlen. Das nenne ich kampanische Bequemlichkeit, von der man eine Menge drollige Anekdoten hat. Den ersten Tag wollte mir keiner folgen; dann wollte ich keinen haben.

Ich machte mich ganz allein mit der Morgenröte auf nach Puzzuoli. Dort fehlte es nicht an Wegweisern, und ich wurde gleich beim Eingange in Beschlag genommen. Ich ließ mir gern gefallen, mich in dem Meerbusen von Bajä herumzurudern und da die alten Herrlichkeiten zu sehen. Du kennst sie aus andern Büchern; ich will Dich also mit ihrer Beschreibung verschonen. Wenn ich Dir auch alle Säulen des Serapistempels anatomierte, wir würden deswegen in unsern Konjekturen nicht weiter kommen. Was ich aus der sogenannten Brücke des Kaligula machen soll, weiß ich nicht: die Meinung der Antiquare, daß es ein Molo gewesen sein soll, will mir nicht recht einleuchten. Es sind noch dreizehn Stücke davon übrig, die in verschiedenen Distanzen aus dem Wasser hervorragen. Wenn es nicht zu idiotisch klänge, würde ich sie wohl für die Reste der berüchtigten Brücke halten. Die Entfernung von Puzzuoli nach Bajä ist nicht so groß, daß es einem Menschen, wie das Stiefelchen, nicht hätte einfallen können so einen Streich zu machen. Damals war der Meerbusen landeinwärts nach dem Monte Nuovo zu vielleicht noch etwas tiefer; der Lukriner See hing mit dem Avernus zusammen und half den Julischen Hafen bilden; der Umweg war also etwas größer als jetzt. Zum Molo für Puzzuoli scheinen mir die Trümmern weder Gestalt noch gehörige Richtung zu haben. Meinetwegen sei es wie man wolle. Ich stieg bei dem Lukriner See aus, der durch die Erdrevolutionen sehr viel eingeengt worden ist. Jetzt ist er nichts besser als ein großer Teich. Wir gingen, vermutlich durch den Einschnitt des Berges, hinein, durch welchen man ehemals die beiden Seen, den Lukriner und den Averner, zusammen verbunden hatte, um den Julischen Hafen zu bilden. Häufige Erdbeben und vulkanische Ausbrüche haben alles geändert. Der Zugang zum Avernus ist noch jetzt romantisch genug, und der Eintritt in die sogenannte Grotte der Sybille wirklich schön und schauerlich. Ich setzte mich am Eingange hin und sah rechts gegenüber den alten Tempel, der für den Tempel des Apollo gilt. Es ist ein Wunder, wie dieser Tempel bei der Erhebung des neuen Berges stehen blieb, die doch ohne große Erschütterung der Nachbarschaft unmöglich geschehen konnte. Man kann nichts romaneskeres haben, als den kleinen Gang von dem Averner See bis zum Eintritt in die Grotte, zumal wenn man den Kopf voll Fabel hat. Hier zündeten wir die Fackel an und gingen nun in dem Gewölbe hinter, bis man rechts tief hinunter in das Sakrarium steigt. Vermutlich hat Virgil seine Erzählung nach diesem Orte gearbeitet; denn das Facilis descensus Averni scheint wörtlich hier weggenommen zu sein. Es ging immer tiefer und tiefer, bis wir an ein etwas weites Gemach kamen, welches ziemlich voll Wasser war. Hier mußte ich mich auf den Rücken meines Führers setzen und hinüber reiten. Rechts und links fand ich jenseits einen langen Katalog von Neugierigen aller Nationen. Mein Name steht oben auf dem Erkta, wo die Karthager so brav und lange schlugen, der heiligen Rosalia auf der Nase; und damit genug. So ganz allein mit einem Wildfremden in dieser Höhle herumzuschleichen, mein Freund, macht doch etwas unheimisch.

Ein Schauerchen fuhr mir beim Fackelschein
Im Heiligtum durch das Gebein;
Das Wasser ging mir in der Höhle
Des Mütterchens bis an die Seele.
Mir ward so ernst und feierlich,
Und voll von Ehrfurcht setzt' ich mich
An einem dreifach dunkeln Flecke
Auf einen Stein in einer Ecke.
Mein Führer ließ mir eben etwas Zeit
Mit seiner Stromgelehrsamkeit,
Und machte sich zur Fahrt ins Licht bereit:
Da hab ich denn in aller Stille
Die alte kumische Sibylle
Für Dich und mich um Rat gefragt;
Sie hat mir aber – nichts gesagt.
Mit Danke nahm ich ihr Orakel an,
Und glaube, sie hat wohl getan.

Kaum hatte ich diese Verschen kumisiert, als mein Leiter mich aus meiner Andacht mit der Bemerkung drollig genug weckte: Era questa Sibylla una grande putana; e era questo qui un gabinetto segreto, dove fece – – Hier brauchte er einige Töne, die in allen Sprachen ziemlich verständlich sind. Nun war meine Prophetin sogleich eine gemeine Zigeunerin. Was doch die Phantasie nicht alles macht, nachdem man nur die Sache ein wenig höher oder tiefer nimmt! Die Leute fabeln hier, daß aus der Höhle ein Gang nach Bajä und ein anderer nach Kumä gegangen sei, wo die Hexe ein zweites Heiligtum hatte. Das ist sehr leicht möglich und war vielleicht weiter nichts als der jetzige große Gang, der nach dem Avernus und also nach Kumä offen und nach dem Lukriner oder nach Bajä verschüttet ist. Auch hier könnte er sehr leicht wieder geöffnet werden. Die ganze Anlage ist ein Werk der Kunst, vielleicht durch die schöne romantische Lage der Berge und Seen und einige Felsenspalten veranlaßt; aber vermutlich von hohem Alter. Die Wasservögel schwimmen recht lustig auf dem Avernus herum, und die Luft war auch nicht leer von Geflügel; so daß der Ort nunmehr die Antiphrase seines Namens ist.

Nun wandelte ich an dem Meerbusen hinunter und sah die ehemaligen Thermen des Nero. Solltest Du glauben, daß ich nicht im Stande war hinunterzusteigen? Ich hatte mich ausgezogen und versuchte es zwei Mal. Der Dampf trieb mir aber auf den vierzig Schritten, die ich ungefähr vorwärts ging, einen so entsetzlichen Schweiß aus, daß ich umkehrte. Ich ließ den Kerl allein seine Eier kochen. Meine vornehmen Landsleute, die unten gewesen sein sollen, müssen den Schwitzkasten besser vertragen können als ich: das Experiment war mir zu heiß. Ob die alten Gebäude, die am Strande hin stehen, Tempel oder Bäder gewesen, vermag ich nicht zu entscheiden. Sie gehören augenscheinlich zu Bajä, und zu Bajä waren viele berühmte Bäder; doch findet man sie sonst wohl nicht leicht von dieser Tempelform. Es sind zwei Rotunden, jetzt ziemlich hoch mit Erde angefüllt, und das Echo darin ist furchtbar stark. Das sogenannte Grab Agrippinens verdient wohl gesehen zu werden, es mag gehören wem es will. Die Arbeit ist gut und die Wandverzierungen sind sehr niedlich und geschmackvoll. Ich fand darin ein Stückchen Bernstein von der Gestalt eines Diskus, mit einem kleinen Loche in der Mitte, durch welches ein Draht oder Ring gegangen zu sein schien. Der Himmel mag wissen, ob es alt ist, oder wie es sonst dahin gekommen sein mag. Von dem Tempel des Herkules, in dessen Nähe Agrippine umgekommen sein soll, werden, hart unter dem Vorgebirge Misene, noch einige Trümmern gezeigt. Baulä ist jetzt ein kleines, armseliges Dörfchen. Was die Piscine und die Felsengänge oder die sogenannten Gefängnisse des Nero mögen gewesen sein, darüber zanken sich noch die Gelehrten. Ich begreife nicht, warum sie nicht von Menschen, wie die römischen Cäsarn von der schlechtesten Sorte waren, zu Kerkern sollen gebraucht worden sein. Sie sind gräßlich und die Gefängnisse in Syrakus sind Ballsäle dagegen: wie denn alles Grausame bei den Römern schrecklicher und scheußlicher war, als bei den Griechen, die Spartaner vielleicht ausgenommen, die mehr einen römischen Stempel trugen. Bis fast hinaus auf die Spitze des Vorgebirges und bis hinab an die elyseischen Felder und das tote Meer sind schöne Pflanzungen von Wein und Feigen. Misene ist eine von dieser Seite auslaufende Erdzunge, die sich mit dem hohen Felsen dieses Namens schließt. Gegenüber liegt nicht weit davon sogleich Procida, und man erzählte, daß die Engländer im vorigen Kriege von dort herüber nach Baulä geschossen haben. Das ist aber doch nicht wohl möglich; es muß aus den Schiffen auf dem Passe zwischen Procida und Misene geschehen sein. Im Vorbeigehen darf ich Dir noch sagen, daß ich neulich in Rom in den deutschen Propyläen eine Rezension von Gmelins Blättern von dieser Gegend gesehen habe, wo man sich fast ausdrückt, als ob das Mare Morto und der Avernus eine und die nämliche See wären; eine Unbestimmtheit, die man doch in den Propyläen nicht antreffen sollte.

Ich ließ mich von Misene gern über den Meerbusen hinüber nach Puzzuoli rudern, wo ich zwar etwas spät, aber mit desto besseren Appetit eine herrliche Mahlzeit nahm. Der Bajische Meerbusen ist wegen seiner Schönheiten berühmt: aber überall, wohin man blickt, findet man nur Trümmern, Zerstörungen der Zeit, der Barbarei und der Erdrevolutionen, als ob sich alles vereinigt hätte, diesen Sitz der schändlichsten Despotie zu vernichten und nur die Reize der Natur übrigzulassen. Der neue Berg wird jetzt ziemlich bearbeitet und gibt guten Wein, wie man sagt. Die Leute behaupten hier mit Gewalt, hier habe ehemals der Falerner Berg gestanden und sei in den verschiedenen Erdrevolutionen mit verschüttet worden; geben auch noch eine Sorte Wein für Falerner, der allerdings besser sein soll, als der echte Falerner bei Sessa auf der andern Seite des Gaurus. Eine sonderbare Phantasie ist mir vorgekommen; ich weiß nicht, ob ich der erste bin, der sie gehabt hat. Kapri sieht von hier, und noch mehr von der Spitze des Posilippo und bei Nisida aus, wie der Kopf eines ungeheuern Krokodils, das seinen Rachen nach Surrent dreht. Diese Einbildung kam mir immer wieder, so oft ich dahin sah; und sie gibt der Tiberiade einen abscheulichen Stempel.

Der Weg von Puzzuoli nach Neapel zurück, geht durch ein üppig reiches Tal an dem Posilippo hin. Die Gegend ist aber als sehr ungesund bekannt, wegen der Solfatara und des Agnano, die links in der Nähe liegen. Der beträchtliche Berg Posilippo liegt rechts vor Dir; alles ist geschlossen und nirgends eine Schlucht zu sehen, und Dir wird vielleicht etwas bange vor der Auffahrt und Abfahrt. Diese ersparst Du; denn Du fährst, wie ein Erdgeist, gerade durch den Berg hin. Dies ist die berühmte Grotte. Vermutlich war die Veranlassung dazu der Steinbruch, den man tief hinein arbeitete. Man konnte dabei leicht auf den Gedanken kommen durchzugehen, und so einen geraden Weg zu machen. Der Eingang von Neapel ist schöner als von Puzzuoli, und wenn man bei einer gewissen Mischung der Atmosphäre aus der Mitte in die schöne Beleuchtung hinaussieht, ist es ein unbeschreiblicher Anblick. Auch von dieser Arbeit ist die Zeit der Entstehung unbekannt. Zur Zeit der Römer muß das Werk nicht unternommen worden sein; denn diese hätten wahrscheinlich etwas davon aufgezeichnet, weil sie, als sie hierher in diese Gegend kamen, schon ziemlich eitel waren. In der Mitte der Höhle ist, links von Neapel aus, ein Behältnis eingehauen, welches jeder Vernünftige sogleich einer Polizeiwache anweisen würde. Aber hier gibt man es der heiligen Jungfrau zur Kapelle, und dann und wann sollen sich Räuber darin aufhalten und daraus die Gegend unsicher machen!

Eben komme ich vom Vesuv. Aber da ich auch von Pästum komme, muß ich vom Anfange anfangen, wenn Du nur einigermaßen mit mir promenieren sollst. Meine Absicht war, so ganz gemächlich über Salerne in einigen Tagen allein hinunter nach Pästum zu gehen: aber ohne alle Kunde möchte es doch etwas bedenklich gewesen sein. Überdies drückte mich die Hitze auf dem staubigen Wege nach Pompeji unerträglich; meine Fußsohlen hatten durch langen Gebrauch einige Hühneraugen gewonnen, die den Marsch in der Hitze eben nicht befördern. Ich ließ mich also in Torre del Greco, wo jetzt der beste Wein wächst, überreden eine Karriole zu nehmen. Eine der schönsten Partien, vielleicht in ganz Italien, ist der Weg von Pompeji nach Salerne, vorzüglich um Kava herum. Ohne mich um die Altertümer zu bekümmern, ergötzte ich mich an dem, was da war; ob ich gleich nicht leugnen kann, daß Fleiß und Anhaltsamkeit es hier und da noch schöner hätte machen können.

In Salerne, wo ich sehr zeitig ankam, wollte ich die Nacht bleiben, und den folgenden Morgen weiter fahren. Ich wandelte also in der Stadt herum, und bald faßte mich ein Geistlicher bei der Krause, der mir alle Herrlichkeiten seiner Vaterstadt zeigte. Die Kathedrale mit ihren Wundern war das erste. Das Bassin am Eingange, von einem einzigen Stücke gearbeitet, ließe sich wirklich auch in Rom noch sehen. Man zeigte mir eine Menge Gräber von alten Erzbischöfen und Salernitaner Advokaten, die den Leuten gewaltig wichtig waren. Einige schöne alte Basreliefs aus Pästum hat man hier und da mit zur Verzierung neuer Monumente gebraucht. Das Merkwürdigste sind mehrere sehr schöne antike Säulen, die man auch aus Pästum geholt hat. Man führte mich in das Adyton der Krypte des Schutzpatrons, welches Matthäus ist. Hier stand die statua biformis des Heiligen, die einem Janus ziemlich ähnlich sieht. Bei dieser Gelegenheit wurden mir denn alle Wunder erzählt, die der Apostel zum Heile der Stadt gegen die Sarazenen getan hatte. Es läßt sich wohl begreifen, wie das zuging, und wie irgend ein Spruch von ihm und der Enthusiasmus für ihn so viel wirkten, daß die Ungläubigen abziehen mußten. Und nach der alten Rechtsregel, quod quis per alium – kommt ihm dann die Ehre billig zu. Das wissen die Spitzköpfe unter den Herren gar trefflich zu amalgamieren: die Plattköpfe haben es gar nicht nötig, die nehmen es starkgläubig geradezu. Im Hintergrunde der Krypte stehen noch ein Paar weibliche Heiligkeiten, deren Namen ich vergessen habe, deren Blut aber noch beständig fließt. Ich hörte es selbst rauschen und kann es also bezeugen; ich wagte gläubig keine Erklärung des Gaukelspiels. Unter den vielen Narren war auch ein Vernünftiger, der mir vorzüglich die Säulen aus Pästum alle und von allen Seiten in den schönsten Beleuchtungen zeigte: er drückte mir stillschweigend die Hand als ich fortging. Nun brachte man mich noch mit Gewalt in eine andere Kirche, wo eine schöne Kreuzigung weder gemalt noch gehauen noch gegossen, sondern ins Holz gewachsen war. Mit Hilfe einiger Phantasie konnte man wohl so etwas heraus- oder vielmehr hineinbringen; und die Wunder überlasse ich den Gläubigen. Einige wunderten sich, daß ich doch gar nichts aufschrieben wie andere Reisende; und einer der jungen Herren, die mich begleiteten, sagte zu meinem Lobe, ich wäre von allem hinlänglich unterrichtet und überzeugt. Da sagte er denn in beidem eine große Lüge. Als ich wegging, bat sich mein Hauptführer, der sich, glaube ich, einen Kastellan des Erzbischofs nannte, etwas für die Armen aus; das gab ich: sodann etwas zu einer Seelenmesse für mich; das gab ich auch. Schadet niemand und hilft wohl; man muß die Gläubigen stärken, lautet das Schibolet, das Goethens Reinecke der Fuchs von seiner Frau Mutter bekommt. Dann bat er sich auch noch etwas für seine Mühe aus. Dazu machte ich endlich ein grämliches Gesicht und zog noch zwei Karlin hervor. Als ich sie ihm hinreichte, schnappte sie ein Profaner weg, der sich einen Korporal nannte, und von dem ich ebenso wenig wußte, wie er zur Gesellschaft, noch wie er in den Dienst der Kirche gekommen war. Darüber entstand Streit zwischen dem Klerikus und dem Laien. Der geistliche Herr sagte mir ins rechte Ohr, daß der Korporal ein liederlicher Säufer wäre; dieser zischelte mir gelegentlich ins linke, das Mönchsgesicht sei ein Gauner und lebe vom Betruge: ich antwortete beiden ganz leise, daß ich das nämliche glaube und es wohl gemerkt habe. Es ist ein heilloses Leben.


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