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Uebersetzungen

Vorwort zu einem Bändchen Bemerkungen und Conjecturen zu schwereren Stellen des Plutarch.

 

Der Wahrheit treu sein und sie verehren, die Gerechtigkeit
bewahren, gegen Alle ebenso wohl gesinnt
sein als handeln, vor Niemand sich fürchten.

 

Es ist schon lange her, daß ich aufgehört habe, Lateinisch zu sprechen und zu schreiben; aber da es die Sitte mit sich bringt, daß, wer der gelehrten Welt etwas mittheilen will, dies lateinisch thut, so muß ich versuchen, ob, was ich etwa einstmals von Römischem besessen habe, nach meiner langen Entwöhnung davon wieder zum Leben aufwachen kann. Einem Manne, der zu Lande und zu Wasser weit umhergetrieben und, ein Vierteljahrhundert hindurch von wissenschaftlicher Thätigkeit entfernt, jetzt endlich einmal zu ihr zurückgekehrt ist, darf man, glaube ich, zu Gute halten, wenn er in sachlichen Dingen etwas herbe, in Worten hart und in der Schreibweise veraltet ist, einem Manne zumal, für den es im öffentlichen und im Privatleben keine andre Richtschnur giebt als Wahrheit und Gerechtigkeit.

Wenn es für einen Bürger Zeit und Raum zu ehrenvollem Handeln gäbe, so hätte ich mich niemals allein auf Lectüre und schriftstellerische Thätigkeit eingelassen; aber das ist schon der Geist oder vielmehr der böse Dämon unsers Jahrhunderts, daß für den rechtschaffenen und wahrheitsvollen Mann kein Trost außer den Wissenschaften übrig bleibt, und selbst diese kaum, wenn nicht Jemand für die göttliche Macht der Wahrheit kühn und auf alles Aeußerste gefaßt ist.

Ein Vaterland – mich schaudert, es zu sagen – ein Vaterland haben wir nicht mehr; der Fremde hat uns gänzlich in seiner Gewalt, hat uns unterjocht, zu Sclaven gemacht. Der Rhein, der Main sind nicht mehr unser, nicht die Weser, wo einst unsere Vorfahren mit Arminius die Römer vernichteten; unsicher sind Donau und Elbe; Hessen giebt es nicht mehr, zu Grunde gegangen sind die Cherusker, der Brukterer existirt nicht mehr. Schon giebt es keine Feste und keine Stadt des Vaterlandes, welche die Feinde nicht mit dem äußersten Uebermuthe in Besitz behalten hätten und noch behielten. Ueberall sind die Unsrigen zu Boden geworfen, niedergemacht, in die Flucht geschlagen, verhöhnt, oder sie dienen – ein Ruhm, der der Barbaren würdig ist – im eigentlichen Sinne als Sclaven unter den Fahnen der Fremden; überall sehen wir Niederlagen unsers Volkes, tadelhaftes Verhalten der Staaten, Schädigung und Schmach. Mit blinder Wuth schwelgen Deutsche im Blute ihrer Landsleute, verfolgen und verzehren sich wechselseitig in dem glühendsten Hasse, so daß alle in gleicher Weise in Folge ihrer Sinnlosigkeit dem Fremden zum Spotte werden. Bürger werden ohne Urteilsspruch niedergesäbelt. Unsre Feldfrüchte verzehrt der fremde, gewaltthätige, wein- und blutdürstige Soldat; Bauer und Bürger erfahren gleich schlechte Behandlung, überall herrscht Armuth. Die zügellose Schamlosigkeit der Sieger geht bis zu unmenschlicher Grausamkeit. Keusche Jungfrauen sind geraubt, geschändet und durch einen schmählichen Tod, einen schmählicheren, als ihn unvernünftige Thiere geben können, besudelt, nachher in Mist und Unrath begraben worden, damit das Gräßliche und Ruchlose schauderhafter Verbrechen verborgen bliebe; Mädchen, mit offener Gewalt von der Straße am hellen Tage vor Aller Augen zur Wollust der Soldaten in die Wachlokale geschleppt, kamen nicht wieder zum Vorschein. Schonung und Milde war, mit unsrer Zeit verglichen, die Wuth Tilly's, des so unheilbringenden Zerstörers von Magdeburg. Woher kommt das Alles? Was wird daraus werden? Schon sind wir der verdorbene Wein und Ballast unter den Völkern; schon kann man nichts Wertloseres, Verächtlicheres, Sclavischeres aussprechen als den deutschen Namen. Welches ist denn aber die Ursache und der Ursprung dieser so großen und unzähligen Uebel, die unser gemeinsames Vaterland bedrängen, zu Grunde richten und schließlich vernichten? Eine Heilung giebt es schon nicht mehr; so weit sind wir in Elend, Sinnlosigkeit, ja Wahnsinn versunken. Ja, diese Fäulniß, Seuche, Pestilenz und Vernichtung ist eine Folge der Prärogative, der Ausnahmezustände und der Privilegien. Jeder für sich, Keiner für das Vaterland. Je mehr Vermögen Jemand besitzt, um so mehr strebt er nach Privilegien, damit er die Uebrigen quälen, unterdrücken, wie Klötze und Dummköpfe behandeln kann. Es giebt nur eine Gerechtigkeit, eine Freiheit, nämlich gleiches Recht für Alle; bei uns nennt man in mehr als barbarischer Weise Gerechtigkeiten und Freiheiten Alles, was Vernichtung und Untergang der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Gemeinwesens ist. – Das ist unser Elend, daher unsre Thränen. Ueberall giebt es bei uns despotische Ansprüche, Königreiche, Herrschaften, Dynastien, Grafen, Barone: Namen, barbarisch wie ihre Bedeutung; einen gesetzlichen bürgerlichen und militärischen Oberbefehl giebt es nirgends, nirgends eine Bürgerschaft. Der Name Bürgerschaft ist ein Verbrechen, der Name Bürger eine Schande. Wer von einem gerechten, das Volk zufriedenstellenden Verfahren spricht, wird zu den Rasenden in die Arbeitshäuser gejagt. Die ganze Anhäufung unseres öffentlichen Rechtes besteht aus Bestimmungen von Halbbarbaren, die ihre Aufgabe mit Waffengewalt, aber nicht mit gesunder Vernunft ausführen; die meisten Gesetze, an denen viele Kameele zu tragen hätten, sind Beweise der offenbarsten Härte, da sie meistentheils jeder gesunden Grundlage entbehren und mit dem Schwerte, aber nicht mit wohlwollender Gerechtigkeit verfaßt werden. Aus der Barbarei haben wir uns nicht emporheben können; daher war es nothwendig, daß wir in Knechtschaft versinken mußten. Eins sei das Volk, eins die Oberherrschaft, eins die Staatsgewalt, eins die Autorität und die Majestät des Vaterlandes! Schon von der Zeit an begann unser Vaterland dem Untergange entgegenzugehen, als unsre Fürsten und Adeligen es wagten, sich aus der Zahl der Bürger auszuscheiden; der Untergang war sicher, als sie es ausgeführt hatten. Sobald die Einheit verloren gegangen war, mußte die Einigung schwer und fast hoffnungslos sein. Durch Zwietracht aber sind schon die größten Staaten zerfallen. Das erkannte der Mann, der einst die Stütze und der Ruhm unsers Volkes war, der der Wahrheit standhaft und unerschüttert anhängende Luther, schon zu seiner Zeit und stimmte fruchtlose Klagen an. Jetzt haben wir Haufen von Fürsten und Schaaren von Edelleuten, während es auf der Welt nichts Unedleres als diese geben kann; das Vaterland ist dahin. Unsre Fürsten sind Leibwächter und Trabanten von Fremden, und was bei ihnen die Schande noch erhöht, von Emporkömmlingen, die sie vor fünfundzwanzig Jahren nicht an ihre Tafel gezogen, ja nicht eines Wortes gewürdigt hätten. Es ist so gekommen, weil ihnen die alte Gerechtigkeit und Billigkeit und das Volk überhaupt für nichts galt. Bei Allem handelt es sich nur um Einkünfte, Zölle, Pracht, Hochmuth, ohnmächtige Schaustellung von Macht; das Wohl des Staates ist das Letzte von Allem. Eingeschlossen in ihren Palästen und Schlössern, wurden sie von Hofleuten, die oftmals nichtsnutzige und intrigante Menschen waren, umlagert; inzwischen wurde das elende Volk vernachlässigt, geplagt und geschlagen. Tugenden für das Gemeinwesen giebt es nicht, wo es kein Gemeinwesen giebt. Wo das Volk rein zum persönlichen Eigenthum und Gegenstande der Erbschaft wird, ist Freiheit, Gerechtigkeit und jede gesunde und rationelle Politik verloren: der Wahnwitz herrscht, die Knechtschaft ist da. Zwar kann die Kaiserwürde, damit man gefährliche Anlässe zu Spaltungen vermeidet, durch Erbschaft übertragen, nirgends aber darf das Volk, nirgends als Sache angesehen werden. Der Begriff Eigenthum erstreckt sich nur auf Dingliches; niemals giebt es einen Eigenthümer von Personen. In der menschlichen Natur liegt jener Strahl und Glanz göttlicher Macht, daß Jeder, der die Freiheit aufzuheben wagt, vor dem ganzen Menschengeschlechte als der Schuld einer bösen That und dem Sacrileg des größten Verbrechens verfallen erscheint. Aber mag man dies Palladium auch hundertmal mit ruchloser Hand zerstören, hundertmal wird es mit größerem Glanze sich wieder erheben. Diejenigen, welche über die deutsche Freiheit phantasirt haben, wußten nicht, was sie wollten. Die Freiheit ist die Gleichheit der Bürger im Staate, die Gleichberechtigung für Ehrenstellen und zu Lasten zum höchsten Besten des Gemeinwesens. Bei uns ist nichts gleich. Jene unsere gepriesene Freiheit bestand nur in häufiger ungesetzlicher Grausamkeit der Fürsten gegen Alle, in dem Uebermuth und der Anmaßung des Adels gegen Bürger und Bauern, in einem schändlichen, im höchsten Maße verderblichen Handel mit Privilegien und in der allertiefsten Erniedrigung des Volkes. Denn wer hätte bei uns nach Tüchtigkeit, Standhaftigkeit und Verdiensten eines Mannes gefragt? Auf das Haus, die Familie, die Eltern und den Einfluß sahen Diejenigen, welche das Heft in den Händen hatten. Für die Staatsämter suchte man nicht verständige, tüchtige, den Geschäften gewachsene Männer, sondern jene wurden am Häufigsten den unreifen Söhnen der Vornehmen übertragen. Bartlose Jünglinge mißachten oft übermüthigerweise im Vergleich mit sich das ganze Volk und die würdigsten Männer; denn sie selbst bedürfen freilich nicht in hohem Grade der Manneskraft und der Weisheit, um ein Amt des Staates auf dem Wege der Erbschaft anzutreten, des Staates, von dem man gesehen hat, daß sie ihn von Tag zu Tag mehr und mehr durch ihre Thorheit und Untüchtigkeit zu Grunde richten. Es genügte, einen adeligen Vater oder wenigstens eine solche Mutter zu haben, damit Derjenige, der wie ein Stein auf dem andern saß, die Uebrigen wegscheuchte, sie als Knechte und Sclaven betrachtete. Sobald die Nothwendigkeit eintrat, zur Erhaltung des gemeinsamen Vaterlandes Steuern zu entrichten, schrie ein Jeder, je mächtiger und vornehmer er war, um so mehr nach Steuerfreiheit und Exemtion – die verderblichste und schändlichste Ordnung der Dinge, die man sich denken kann. Die Leitung der Staatsverhältnisse ist in unserer Hand. Wir wollen, daß Ihr gebt und arbeitet, wir, die wir dazu geboren sind, die Früchte zu verzehren – wir, das feine Obst, schwimmen oben. Das erst ist eine gesunde, beständige und gleichmäßige Methode der Staatsverwaltung, wenn Jeder je nach seinem Besitze im Staate, ohne sich zu beschweren, ebenso wie alle Anderen die Lasten trägt. Ruchlos und unsinnig ist jene Eintheilung der Besitzthümer in freie, unbesteuerte Grundstücke und solche, die Abgaben unterworfen sind. Was der gemeinsamen Belastung nicht unterworfen ist, gehört nicht in den Staat; jede Befreiung ist unüberlegt, unklug und verderblich. Dazu, daß bei den größten Gefahren das Volk in seiner größten Stärke hervortrete, entlastet man wol gerade die größten Besitzungen! Nichts ist ungerechter, nichts verderblicher als diese Entlastung. Diese verkehrte Auffassung der Begriffe hat allen gesunden Menschenverstand aus dem öffentlichen Rechte herausgebracht und Schändlichkeit statt der Gleichheit eingeführt. Sobald aber die Gleichheit aus dem Gesetze herausgebracht ist, braucht man nach dem Rechte selbst nicht weiter zu fragen; mit brutaler Gewalt wird jede Sache behandelt, Alles wird zu Grunde gerichtet. »Gute Ordnung« nennt man oft dasjenige, was für das Wohl und die Sicherheit der Bürger am Schlimmsten ist, »Ruhe und Frieden« die Geduld und Schlaffheit bis zum Tode. Eine gefährliche Freiheit, sagte daher jener ausgezeichnete Bürger, will ich lieber als eine ruhige Knechtschaft.

Von den Römern und den Griechen kann und soll man sich ihre Vaterlands- und Freiheitsliebe, ihr Streben nach männlicher Tüchtigkeit und die hohe Anerkennung derselben aneignen, aber nicht in gleicher Weise ihre ersten Rechtsbegriffe und -Grundsätze. Wenn Jemand dem Gesetze nach Sclave durch seine Geburt ist oder später wird, dann hat die antike Gerechtigkeit ein Ende. Die außerordentlichen Vorzüge Einzelner haben das Alterthum zu einer solchen Herrlichkeit gebracht; aber ein ursprüngliches Menschenrecht war ihnen kaum bekannt. Selbst jener göttliche Plato wollte seinen Staat auf das Allerschlechteste einrichten, da er die Sclaven, die mehr als drei Viertel des Volkes ausmachten, zur Arbeit zwang, ohne ihnen etwas Anderes zu gestatten; ich weiß nicht, auf welches Recht, auf welche Bestimmung er dabei seine Hoffnung setzte. Wenn irgend ein furchtloser Spartacus diese aus der Werkstatt führt, so thut er es mit vollem Rechte und macht den Thorheiten der Akademie damit ein Ende. Niemand darf gezwungen werden, für einen Andern wider seinen Willen eine Arbeit zu thun. Sclave ist von Natur Niemand und darf es auch nicht durch ein Gesetz werden, hätte es Aristoteles, der Schmarotzer der macedonischen Könige, der Lehrer der Tyrannenherrschaft, der wegen dieser Lehre vielmehr den Namen Aeschistoteles verdient, selbst tausendmal in vollem Wortlaute ausgesprochen. Niemand hat, an und für sich und absolut betrachtet, eine größere Macht als ein Anderer, und die Quelle alles Rechtes besteht in der ursprünglichen Gleichheit und alter Gleichberechtigung, wie dies die ganze Geschichte und die Uebereinstimmung aller Sprachen zu beweisen scheint. Ein System des Naturrechts kann also aus den Alten auf keine Weise gewonnen werden, wohl aber läßt es sich durch Beispiele aus ihnen aufs Vortrefflichste erläutern. Sie besaßen mehr männliche Tüchtigkeit, als wir an gelehrter Bildung; aber mit Recht mißt man jener höheren Werth bei. Fern bleibe uns, jemals zu den tiefen Abgründen ihrer Verirrungen zurückzukehren, aber mögen wir immer ihren muthigen Sinn haben!

Unsre Feinde sind auf keine Weise anzuklagen; sie sind anständig mit uns umgegangen, sogar etwas anständiger, als die Unserigen mit ihnen umgehen würden. Die fremden Länder hatten sie natürlich unter sich getheilt, ohne sich um Recht und Billigkeit zu kümmern, und indem sie der Zügellosigkeit ihrer Natur folgten. Jetzt trat das Vergeltungsrecht ein, und zwar mit größerem Verderben. Die Freiheit und die bessere Ueberlegung siegte, welche indeß jetzt schon wieder sich zur andern Seite zu neigen scheint. Die Fremden sind überall im Vaterlande Herr; von uns wagt Niemand auch nur den Mund aufzuthun oder zu mucksen. Mag es Recht oder Unrecht sein, Alles wird vermischt. Deutsches (Germanisches) giebt es nicht mehr; der Ursprung unseres Namens gereicht uns zum Vorwurf. Unsre Verwaltung wird vertrieben oder gezwungen, auf Seiten der Sieger zu treten. Wegen der Tyrannenherrschaft sind die Herren schon Sclaven geworden und suchen sich einen eitlen Glorienschein selbst aus dem Elende des Vaterlandes zu gewinnen. Ueberall giebt es einen König, einen Gewalthaber, der in barbarischer Weise Herrscher mit seinem Trabanten und wieder selbst Trabant ist, Steuerfreiheit, Exemtion, Privilegien. Sobald öffentliche Lasten zu tragen sind, setzen gerade die Reichsten und Vornehmsten, durch die unsinnigsten Privilegien geschützt, heftigen Widerstand entgegen. Das ist nun jener berühmte Adel, durch den es geschehen ist, daß unsre Schande schon berühmt geworden ist. Jene Schaar von Adeligen war im Friedens- wie im Kriegsgewande im Besitze von allem Ansehen, wodurch wir denn auf das Unwürdigste in elender Weise zu Grunde gegangen sind. Wer nicht adelig war, galt als Sclave; daher ist es gekommen, daß wir schon nichts Sclavischeres als unsern Adel haben. Mag das Vaterland zu Grunde gehen, wenn nur unsre Privilegien gesichert sind; mögen wir immer Sclavendienste in schimpflichster Sclaverei thun, wenn es nur Menschen giebt, die in noch niederträchtigerer Weise unsre Sclaven sind. Schon faßt die Erde unsre Erniedrigung und servile Schmeichelei nicht mehr; wir machen uns in unsrer Verblendung sogar an den Himmel.

Was das Volk mit einem tüchtigen und kräftigen Feldherrn vermag, haben schon unsre Feinde ausreichend bewiesen; was dagegen Feldherrn und ihr thörichter Ehrgeiz ohne das Volk, das ist durch unsern Untergang veranschaulicht worden. Es war keine Kraft da, weil es keine Einigung, keine öffentliche Gerechtigkeit gab, weil gerade die Reichsten eine unnütze Last im Vaterlande waren, weil nirgends eine verständige Uebereinstimmung stattfand. Gerade die Letzten und Geringsten wurden zu den Truppen getrieben, welche das gemeinsame Wohl sichern sollten; Bürger gab es dort nicht. Der gemeine Soldat, das Allerwichtigste im Staate, weil in ihm die Kraft und der Schutz des Vaterlandes liegt, wurde überall in unwürdiger Weise behandelt. Nicht mit Weinreben, sondern mit Stöcken, nicht mit Stöcken, sondern mit Knüppeln wurden sie von den unreifen Söhnen des Adels zu dem elenden Dienste getrieben. Das war das Feld, wo die sinnlose Thorheit der Vornehmen zum Verderben des Vaterlandes wüthen durfte. Eine Hilfe des Gesetzes gab es für die Unglücklichen nicht, dagegen fortgesetzte Stockschläge, wo sich eine etwas freiere Denkart zeigte. So stand es im Buche des Schicksals: »Mühe Dich ab, damit Du klagst; klage, damit Du geschlagen wirst!« – eine verderbliche Härte, welche Allen die gebührenden Früchte gebracht hat: wir sind Staub und Asche. Was auch bei uns eingetreten ist, es sind Thaten der Fürsten und der Mächtigen mit ihren Privilegien. Unser Elend verdanken wir nicht den Feinden, sondern unsern höheren Beamten; denn jene waren freilich nicht Beamte, sondern Käufer der Provinzen, ungerechte Eintreiber von Zöllen und Abgaben, Zerstörer alles Rechtes. Jetzt haben sie das, was sie nicht aufgehört haben, sich seit Jahrhunderten zu bereiten: sie sind Sclaven mit andern Sclaven, weil sie nicht mit Freien frei haben leben wollen. Unter billigen Gesetzen des Vaterlandes zu stehen, haben sie verschmäht; jetzt ertragen sie solche, die von Fremden dictirt werden. Den Fremden sind sie gehorsam, das Vaterland haben sie ins Verderben und in Ruin gebracht, weil sie Gleichheit im Staate neben einer gesetzlichen Obergewalt haßten.

Die Feinde, sage ich, sind nicht anzuklagen. Sie haben große Thaten vollführt gegenüber leeren Drohungen, die strengste Rache gegenüber feindlicher Gesinnung. Schlau haben sie uns getäuscht, wie es gegen Feinde erlaubt ist, tapfer uns in offenem Kampfe besiegt, klug unterdrückt und listig dafür gesorgt, daß sich keine Kräfte neu erheben können. Bedenklich ist ihre Feindschaft, bedenklicher ihre Freundschaft; es sind Bündnisse nach Römerart: wessen Freunde sie sind, dessen Herren sind sie auch. Alles dies hätte man voraussehen können, man sah es aber nicht voraus.

Unser Adel dagegen hat unter sich gewetteifert, nicht in Gerechtigkeit, sondern in Stolz, nicht in Mannestugend, sondern in Hochmuth, nicht in guten Rathschlägen, sondern in Zügellosigkeit.

Gelage, Jagden, Liebschaften, ja sogar liederliche Weiber waren ihre Lieblingsdinge; darin herrschte der regste Wetteifer. Sie waren nicht Heerführer, nicht Richter, sondern die feinsten Kenner der Galanterie und eines üppigen Lebens. Ueberall fanden sich bei ihnen Hofleute, die durch die Schlechtigkeit ihres Charakters bekannt waren, ruhmredige Officiere, ja sogar schmarotzende in Schwelgerei versunkene Busenfreunde, vor deren Unverschämtheit und Frechheit kaum Jemand sicher war, die gegen fleißige Bürger und ruhige Landleute sehr kühn, vor den Waffen des Feindes aber sehr feige, und wenn die Sache mit dem Schwerte geführt wurde, sehr flüchtig waren. Schon sind unsre Kriege nichts als große Schandmale; kaum giebt es Einen und den Andern, der sich in Wahrheit als Mann gezeigt hätte. Excellenzen von Commandanten und erlauchte Heerführer, wie unsre servile Ausdrucksweise ist, haben die stärksten und mit allem Kriegsmaterial reichlichst versehenen Festungen den Feinden übergeben, ohne einen Versuch zur Vertheidigung zu machen, so daß selbst gemeine Soldaten wegen der Infamie der Handlung außer sich waren. Seit Friedrich (II.) von Preußen giebt es nur wenige Männer des deutschen Volkes, die mit Ehren in das Buch der Geschichte eingetragen werden können. Aber es giebt kein Zeitalter, das schönere Reden hervorgebracht hätte. Wir sind ein Volk von Schönrednern, Schauspielern, Musikern und Philosophen, aber dabei, meine ich, von Händlern und Müssiggängern, die viel Lärm machen und hin und her laufen, jedoch nichts thun. Ehrlichkeit verschwindet im öffentlichen wie im privaten Leben; Freunde bereichern sich durch Raub von ihrem Freunde: überall herrscht Betrug und Sittenverderbniß. Der gute Ruf ist auf Erden ein Uebel; die alte Unverletzbarkeit der Ehre ist verschwunden. Vom Himmel hat jener Sokrates, der beste Bürger, die Philosophie (auf die Erde) gezogen; unsre Landsleute zwingen durch ihren Aberglauben die Weisheit, von der Erde in den Himmel zurückzukehren. Die ganze Religion wird durch religiöse Verirrungen vernichtet. Wir liegen brach und kommen kaum noch in Betracht. So dringt denn aus dem Norden schon eine harte Barbarei in Verbindung mit Sclaverei herein; vom Süden eine zwar etwas mildere Herrschaft, aber eine nicht weniger gefährliche und noch schmachvollere Knechtschaft. Wer möchte zu widersprechen wagen? Wir sind der Gegenstand der Schmach; wir sind nichts als Beute.

Hoffnung ist eitel, wo kein gesunder Menschenverstand ist, wo Alle jede freisinnige Gerechtigkeit wie alte Weiber in elender Weise fürchten. Wir haben es nicht gewagt, verständig zu sein; jetzt kann es kaum helfen, wenn wir es auch wagen.

Durch Privilegien sind die größten Staaten zerfallen, keiner aber gefestigt worden. Durch Privilegien gingen die Perser, gingen die Griechen zu Grunde, alle haben sich an diesem Wahnsinn bis zum Tode gequält. Vortheile und Bevorzugungen vor Andern sind überall verderblich, mit welchem Namen man sie auch nennen mag. Ἄριστοι und Optimates nennt man Jene unter Verachtung alles gesunden Menschenverstandes am Allerunrichtigsten, da sie die Vernichter jeder bessern Einsicht sind. Quelle und Ursprung jedes alten Rechtes ist uns verloren. Wir werden von Gelehrsamkeit erdrückt wie von Barbarei. Die sogenannten Gelehrten und wissenschaftlich Gebildeten unter uns beschäftigen sich, von jedem Streben nach ehrenvollerem Ruhme entfernt, mit Quisquilien und unnützen Dingen, indem sie über Unwesentliches und Geringfügiges streiten, was für unsre Verhältnisse keine Bedeutung hat. Der Feind besitzt, trennt und verwirrt Alles und hat doch, was der Gipfel unsrer Schande ist, nichts schlechter machen können, als es ist. Alles ist jetzt bei uns nach Art der Fremden; was irgend vaterländisch ist, wird gering geschätzt, verlacht und verspottet. Alles ist voll von Napoleon, von den Säulen des Hercules bis zum Don; von seiner Macht allein wird Alles gewaltsam regiert. Der Verbannung nach Gyari werth, ja als Tempelschänder eines zwiefachen Todes schuldig gilt Derjenige, der dagegen, daß wir langsam und stumpf an Geist, die Fremden aber höchst gewandt sind, auch nur ein Wort zu äußern wagt. Unsre Muttersprache, die würdige Sprechweise unsrer Vorfahren, wird sehr bald im eigentlichsten Sinne eine Sclavensprache sein, da sie ja nur von Sclaven gesprochen wird, während Diejenigen, welche für die Besten gehalten werden wollen und für die Schlechtesten gehalten werden, schon seit langer Zeit sowol die Sprache ihrer Väter als die der Fremden mit schnöder Barbarei radebrechen. Sie thun ihren Kriegsdienst so, wie sie sprechen; sie sprechen, wie ihr Geschmack ist, nämlich sehr schlecht. Nach Jahrhunderten, ja sogar schon nach einem Jahrhundert werden wir Elsässer, Lothringer, Kurländer und Livländer gemeinsam mit den Polen sein, die in ihrem Elend schon alle nicht wissen, was für Landsleute sie sind, und zu welchem Volke man sie rechnet. Bei diesen hat dies der Wahnsinn des Adels bereits erreicht, bei uns wird er es in kurzer Zeit thun.

Nicht von unsern Feinden, sondern von denjenigen unsrer Landsleute sind wir zu Grunde gerichtet, welche die Leitung der Dinge in den Händen hatten; elend untergegangen sind wir durch Unklugheit, Schlaffheit und Feigheit; die wesentliche Ursache aber und der Ursprung von Alledem liegt im Privilegium und in der Ungerechtigkeit. »Μονον το ἰσον το διϰαιον.« (Nur Gleichheit ist Gerechtigkeit), ist weise von Einem der Alten gesagt worden, und ebenso daß νομος (Gesetz) davon seinen Namen hat, daß es das Gleiche giebt (νεμει); und nur jene goldene Gleichheit der Rechte und der Ansprüche kann Staaten gründen, befestigen, schützen und erhalten. Wenn ein Mann besser ist, so bleibt er stets von besserer Beschaffenheit, sowol für sich selbst als für das Vaterland, wie es die Natur der Menschheit mit sich bringt; aber wer nach Privilegien und Bevorzugungen schreit, der ist stets schlechter, stets verderblicher. Was hätte eine Heilung gewähren können, liegt auf der Hand: Freiheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, allgemeine Gleichheit: Alles Dinge, von denen wir kaum die Begriffe bei uns gehabt haben. Jetzt ist Hannibal schon nicht nur vor den Thoren, sondern bereits auf dem Capitol. Ich habe gesprochen, lieber Leser, und wenn auch nicht mein Leben, so doch meine Gesinnung gerettet.

Auf Plutarch bezüglich nur Weniges. Meine sämmtlichen Anmerkungen, wie sie sein mögen, beziehen sich auf Stellen, die meines Wissens von den Auslegern noch nicht ausreichend erklärt sind. Was mir beim Lesen aufgefallen ist, habe ich angemerkt und aufgeschrieben, und so nimm es hin! Auf welche Weise Du es auffassen magst, ich habe nur beschränktes Hausgeräthe. Benutzt habe ich die neueste Ausgabe von Hutten, die, wie es mir scheint, an literarischem Material recht reich ist. Was ich gewagt habe mitzutheilen, schätze ich nicht hoch; denn ich bin nicht der Mann, daß ich nach Maßgabe meines verflossenen Lebens dem Ruhme unter Gelehrten nachjagen sollte. Kurze Noten, ungefähr von dieser Art, habe ich fast für alle griechischen Redner und Dichter zu Papier gebracht, aber sie sind weniger zahlreich und von geringerer Bedeutung als diejenigen, welche ich hier veröffentliche. Unter den Todten mit Thucydides, Tacitus und Plutarch bei Marathon und Salamis zu leben, ist schließlich noch die ehrenhafteste Art des Lebens, wenn man der Würde und der Majestät des Vaterlandes keine Thätigkeit weiter zuwenden darf.

Und doch:

» Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu erretten.«

Geschrieben am 1. Januar 1808.

 

Anmerkungen des Uebersetzers

Zur Rechtfertigung der Übersetzung des zum Theil mangelhaften lateinischen Textes mögen die nachstehenden Anmerkungen zu demselben dienen:

S. 115. Z. 5. multum terra jactatus et alto – nach Virg. Aen., I. 3.

Z. 17. sub furcam – mit Anspielung auf die »furculae Caudinae«.

S. 116. Z. 6. Parthenopes – Parthenope, sonst der Name einer Korinthischen Colonie in der Nähe von Cumä, hier für »Magdeburg« gebraucht.

Z. 13. exemtionum – exemtio wird von Seume in sehr weiter Bedeutung gebraucht; er denkt dabei bald an eximirten Gerichtsstand, bald an Befreiung von Abgaben oder an andre Privilegien.

Z. 16. pro stipite habeat et fungo– »Klotz« und »Pilz«, zur Bezeichnung der Dummheit. Die Ausdrücke sind aus Plautus und Terenz zusammengestellt.

Z. 20. hinc illae lacrimae – aus der »Andria« des Terenz.

Z. 25. ergastula – »Arbeitshäuser für Sclaven«; »Tollhäuser«, wie S. gewiß sagen wollte, gab es im Alterthum nicht.

S. 117. Z. 6. rei – dem Sinne nach störend, ist das Wort wol nur durch ein Versehen in den Text gekommen.

Z. 19. Centies hoc palladium–mit Erinnerung an Hor. Carm., IV. 4. 65 f.

S. 117. Z. 37. lapis super lapide sedebat – nach dem griechischen Ausdruck, daß Jemand auf den steinernen Sitzen des Theaters wie ein Stein gefühllos dasitzen wird: »λίϑος ἐπὶ λίϑῳ ϰαϑεδεῖται«.

S. 118. Z. 3. sumus nati ad fruges consumendas – Man vgl. Hor. Epist., I. 2. 27: »Nos numerus sumus et fruges consumere nati« –d. h. Wir sind untergeordnete Wesen, zu nichts Bedeutendem bestimmt; so daß eigentlich Seume's Benutzung dieser Stelle recht unglücklich gewählt ist.

Z. 3. poma natamus – Unsre Uebersetzung kann sich nur durch den Zusammenhang rechtfertigen.

Z. 26. fastigia – die früheren Drucke vestigia, ohne Sinn.

Z. 31. nugas .. academicas – mit Hindeutung darauf, daß Plato in der »Akademie« lehrte und seine Schüler später »Akademiker« genannt wurden.

Z. 34 u. 35. ore .. rotundo – Ausdruck des Horaz ( Ars poët., V. 323) von der »Schönheit« der Darstellung, während Seume mehr den Begriff der Unumwundenheit und Deutlichkeit vor Augen zu haben scheint.

Z. 35. Aeschistotelis – als Gegensatz zu Aristoteles, nicht übersetzbar.

S. 119. Z. 1. gurgites vastos – Vgl. oben die Anm. zu S. 118, Z. 3: »poma natamus«.

Z. 25. qui nobis serviant turpius – Die auch mögliche Uebersetzung, »welche noch schimpflicher Sclaven sind als wir«, paßt weniger in den Sinn.

Z. 26. coelum .. stultitia – Reminiscenz oder Citat aus Hor. Carm.,I. 3. 38.

Z. 28. legitimo – Da Napoleon gemeint ist, so hat das Wort hier, wie auch sonst bisweilen, die Bedeutung »richtig«, »tüchtig«.

Z. 36. vitibus – »Weinreben«, beliebtes Strafinstrument der römischen Centurionen; man denke an den Beinamen eines solchen »Cedo alteram«.

Z. 41. labora ut plores – mit Hindeutung auf das bekannte »ora et labora«.

S. 120. Z. 5. mercatores – Käufer, wie Cic. De senect., Cap. 4.

Z. 17. Romana scilicet foedera – d. h. Bündnisse, bei denen die Römer Alles zu sagen haben.

Z. 26. soldurii gnathonici – Die Herbeiziehung der gallischen Soldurier, die einer ganz andern Lebensrichtung angehören, erscheint hier sehr gesucht.

Z. 32. Praefecti generossimi – Allerdings zeigt der Ausdruck »Excellenz«, der in der Uebersetzung gewählt ist, keine Servilität; denn er erhöht nur den Einzelnen, ohne die Uebrigen zu degradiren, indessen liegt auch in generosus, kein solcher Sinn, da es entweder »edel« von Geburt oder von Gesinnung bezeichnet.

S. 121. Z. 1. fama malum – Reminiscenz an Virgil's Aeneis, IV. 179.

Z. 2. de coelo .. Socrates – Vgl. Cicero Tusc., V. 4 »philosophiam devocavit e coelo et in urbibus collocavit«. Damit ist aber gemeint, daß er, die Naturphilosophie seiner Vorgänger verlassend, zur Ethik überging, so daß also Seume's Benutzung dieser Stelle nicht passend ist.

Z. 5. Nos reses sumus – die Stelle ist corrumpirt; wir übersetzen resides; auch hat man vorgeschlagen, res zu lesen.

Z. 11. aniliter extimescunt misere – vermuthlich auch corrumpirt.

Z. 14. maximae – Die früheren Drucke maxime.

Z. 17. voces – Man würde vocas erwarten.

Z. 29. Gadana – sonst immer Gaditana.

Z. 30. Gyaris – Gyari (ä) Insel unter den Cycladcn, hatte eine Strafanstalt für Sclaven.

Z. 34. pessimi – der Originaldruck pessime.

S. 122. Z. 4. Μονον – die früheren Texte Μονος oder Νομος.

Z. 5. ab antiquo – »von einem der Alten«, nicht »von Alters her«.

Z. 14. animam salvavi – Ausdruck der Vulgata 1. Mos. 17, 19.

Z. 19. curta supellex – nach Pers. Sat., 4, 52. Seume meint, daß er wenig wissenschaftliches Material habe.

Z. 19. Hutteniana – die früheren Drucke Hutteriana, während der Herausgeber J. G.  Hutten hieß.

Z. 30. Εἱς οἰωνος – Vgl. Hom. Ilias., XII. 248.

 


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