Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.
Das Vaterhaus

Bakers Niederlassung liegt weit hinter uns, wir nähern uns dem obern Rande der großen Prärie Diese Prärie oder Naturwiese beginnt oberhalb Bakers Station und zieht sich an vierzig Meilen in Länge und Breite gegen die Opelousas hinab., die sich vom rechten, uns, die wir aufwärts gehen, linken Ufer des Flusses hinab gegen Opelousas zieht. Unser Dampfer fährt, die Gegenströmung benützend, nahe am Ufer hin, und der Farbenschmelz dieser herrlichen Prärie entfaltet sich in seiner ganzen gloriosen Pracht vor unsern Blicken. Es ist der herrlichste Blumenteppich, den das menschliche Auge je geschaut, ein Ozean von Blüten und balsamischen Düften, die Gräser sich hebend und senkend, wie die von einer leichten Brise gefächelten Meereswogen in den Strahlen der untergehenden Sonne. Wie wir weiter die Prärie entlang fahren, erscheinen im Hintergründe, umspielt von den Strahlen der schief einfallenden Sonne, Rinder und Pferde, im hohen Grase werdend, – bloß die Köpfe der Tiere sind sichtbar, in ihren Sprüngen gleichen sie Porpoisen und Grampussen, wie sie an stillen Nachmittagen gegen euch herangewälzt kommen. Weiter gegen Westen zu begrenzt diese ungeheure Prärie ein Saum schwarzer Kiefern, die ungemein malerisch den Blumensee in ihren bronzefarbigen Rahmen fassen. Wie manche Tage irrte ich in den ersten Jahren meiner Niederlassung in dieser weiten Prärie umher, die, obwohl eine bloße Wiese im Vergleich mit den weiter westlich gelegenen Präries, mir zuerst einen deutlichen Begriff von jenen gab. Schade, daß die vorrückende Kultur ihr allmählich den wilden, grandios einsamen Charakter raubt, der in den Sabine-, Arkansas- und Oregon-Präries so unbeschreiblich auf euch einwirkt. Es sind nicht die kolossalen Waldesmassen, die in diesen Präries imponieren, der Baumschlag in ihnen ist in der Regel nicht von jenem gigantischen Wuchse, den er in den Niederungen des Mississippigebietes erreicht; – nur in blauer Ferne ersieht euer Auge wie einsame Segel auf den rollenden Meereswogen einzelne Baumgruppen; aber wenn ihr nun tiefer eindringt in diese Graswüsteneien, die sich vor euch aufrollen, gleichsam wälzen wie Meereswogen, mit hier und da einem Segel am äußersten Horizonte, und ihr immer nur Wiesen und Gräser und im Luftzuge bewegte, gleichsam rollende Hügel schaut und Baumgruppen, denen ihr euch nähert, und aus denen Hirsche, vertraulich neugierig euch anschauend, herauskommen und, sowie ihr die Hände hebt und gestikuliert, euch erwartend näher kommen lassen, gleichsam um zu erfahren, was ihr ihnen denn bringt! Oft tat es mir leid, den Stutzen auf diese lieben Tiere anzulegen, die bei eurem Schusse erst mit einem gewaltigen Satze das schützende Dickicht suchen. – Wenn ihr, sage ich, so tagelang fortzieht – und immer nur Wiesen seht und Baumgruppen in der Ferne und zur Abwechslung eine Horde Präriedogs oder Wölfe, dann beginnt etwas wie Bangen über euch zu kommen, die Größe, die Unermeßlichkeit der Natur erfüllt eure Sinne, euer Gemüt, euer ganzes Wesen; das Treiben der Menschen, das ihr hinter euch gelassen habt, euer eigenes wird euch so klein, so geringfügig, verächtlich! Ein unbeschreibliches Bangen, ein geheimer Schauder beginnt euch zu überkriechen, besonders, wenn ihr einige Tage einsam umhergeirrt. In solchen Tagen, Stunden durchdringt die Unermeßlichkeit, Allgewalt des Schöpfers euch, die im Weltgetriebe Verschlissenen, Versteinerten bis ins Innerste. Es ist dieser Tempel Gottes vielleicht der einzige, der den Ungläubigen zum Glauben an ihn zurückzuführen vermag. Sendet den Gottesleugner für einen Monat, nur für einen Monat in unsere Präries, und er wird, er muß an Gott glauben!

Wir fahren an Avoyelles Station vorüber – das Dampfschiff hält einen Augenblick an, um Passagiere einzunehmen, andere abzusetzen und – die Abgeordneten des demokratischen Komitees; – Doughby und seine Schar lassen sich nicht irre machen. – Die ersten Pflanzungen tanzen uns zu beiden Seiten vorüber, Baumwollen- und Tabakfelder und Viehzucht, viele Viehzucht. Präries zu beiden Seiten des Stromes und Schwarzkiefer-Waldungen weiter zurück, der Rand des Flusses mit Zypressen eingefaßt, deren dunkles Grün und vielgezackte Äste und Zweige das Auge wohltätig ansprechen, weniger so das Revier selbst, wenn ihr näher kommt. Wie unser Dampfer an den Zypressen vorüberfährt, plumpsen ein paar häßlich braun und schmutzig gefleckte Ungeheuer von den vermoderten Baumstämmen in den Sumpf hinab, während andere, zu träge, ihre Eidechsenaugen dumm und unbeweglich auf uns richten. Es sind Alligatoren, die ihre Siesta halten. Wie der Dampfer weiter fortgleitet, wechselt die Landschaft abermals; Weiden und Baumwollenbäume, die einen leichtem Boden andeuten. – Wir nähern uns Holmes Station, dem Herzen der kreolischen Niederlassungen, dessen freundliche Pflanzer- und Negerhäuser, mit ihren Kottonfeldern schon Andeutungen amerikanischer Regsamkeit gebend, auf die Anwesenheit von Gliedern von Uncle Sams Familie schließen lassen. Wirklich sind ein Dutzend amerikanischer Familien hier angesiedelt, die sich gleichzeitig mit mir hier niederließen und wohl gedeihen. – Es hat für mich einen eigenen Reiz, unser Land in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen zu beobachten, die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart zurückzurufen. So habe ich diese Niederlassung, deren Pflanzungen uns nun entgegenkommen, noch ausschließlich von Kreolen bewohnt, in einem so ärmlichen Zustande gesehen, wie ihn das ärgste Faulleben nur immer mit sich bringen kann. Ich erinnere mich noch deutlich, wie trostlos mir zumute ward, als ich diese Rip van Winkles Hütten und Häuser erblickte, diese magern, von Unkraut überwachsenen Baumwollen-, Tabakfelder, die aller Arbeit zu spotten schienen. – Es war ein wie verdammtes Stück Land, wo keine Arbeit fruchten, die kleine Kommunität gar nicht gedeihen, vom Flecke kommen wollte. Ein paar Dutzend Amerikaner kamen an, und die haben, ohne es zu wollen, das Ganze vom Flecke gebracht. Anfangs freilich war des Schimpfens, des Nachredens, der Bonmots kein Ende. Die ganze Kommunität war eine Stimme in diesem Punkte – sie glich einem wohlgemästeten Schenkwirte, der, in seine vier Pfähle wie die Made in den Käselaib eingewühlt, sich weder um die Welt noch um seine Gäste kümmert, wohl wissend, daß beide seinen abgestandenen Wein doch trinken müssen, weil kein besserer weit und breit zu haben ist, und der erst aus seiner Trägheit sich aufrafft, wie er an einem heitern Morgen plötzlich ein neues Schild gegenüber aushängen sieht und einen jungen Wirt, der billige Zeche verspricht, davor. – Freilich fängt der gute Mann nun zu poltern an und zu lärmen, und seine Partei tobt, aber der Neugierde wegen versucht man den Wein des jungen Eindringlings und findet, daß er besser ist als der saure, abgestandene des Alten, und die Kommunität schimpft zwar über den Eindringling, zieht aber doch seinen Wein dem des Alten vor, beginnt auch einzusehen, daß sie gewonnen bei der Rivalität, der Wein gewonnen, der Ort gewonnen, denn der Reisenden kommen mehrere als zuvor, durch den guten Wein und den fröhlichen jungen Wirt angezogen. Gerade so ging es unsern Kreolen in dieser und allen übrigen Stationen. Ihr Tabak, grob und schwer, ist duftend und fein parfümiert, ihre Baumwolle, gelb und kurzfädig, lang, weiß, die schönste im Staate geworden; sie wissen nicht recht, wie das alles gekommen, wie ihr kleines Reich einen solchen Umschwung genommen. Es erging ihrem kleinen Reiche in diesem Punkte gerade wie jenen großen, die sich recht behaglich in ihrem Faulleben fühlen, fortvegetieren, solange sie nicht in Berührung mit tätigeren Nachbarn kommen, die aber, sobald ein jugendlicher Rival lebendig sie zu rütteln beginnt, sich aus ihrer verdrossenen Ruhe aufraffen, ihre fünf Sinne zusammennehmen müssen, wenn sie nicht zuletzt über den Haufen gerannt – überfahren werden wollen. –

Die Uhr zeigt fünf, wir nähern uns dem ersehnten Ziele. Abermals einige Abgeordnete von dem Komitee ans Land gesetzt. Der Dampfer geht zwölf Meilen in einer Stunde bei high pressure. Wir fliegen hinauf, Pflanzung auf Pflanzung. Luise ist zum Kinde geworden, denn jedes Haus, jede Pflanzung ist ihr bekannt, keine der größern Pflanzungen, wo sie nicht zum Ball geladen worden, getanzt hätte, sie erzählt Julie, Julie ihr – es würde ein Buch erfordern, die heitern Relationen alle niederzuschreiben, und in ihrem Munde klingt wieder das Kreolenleben und -treiben so lieblich! Wie viele Seiten lassen sich doch den Dingen dieser Welt nicht abgewinnen, und wie wird der Farbenschmelz, der sich unserm Auge wohltuend oder beleidigend darstellt, wieder durch das Gemüt bedingt, das sie uns vor den Gesichtskreis bringt. Wie lieblich-zart diese Züge französischer Etourderie von ihren Lippen in unsere Ohren tönen! Was sie alles getrieben, hier getrieben, dort getrieben, wie der alte Großpapa der Grevecourt mit ihr, dem zwölfjährigen Kinde, sein letztes Menuet an seiner goldenen Hochzeit getanzt, dann blinde Kuh gespielt, wie – wie! – doch sie hat keine Zeit, mehr zu erzählen, denn vor allen Pflanzungen, vor allen Galerien Gesichter, die sie erkennen, ihre Freude durch laute Zurufe, durch Händeklatschen, durch Schwenken der Sacktücher zu erkennen geben. Die Szene wird immer lebendiger, wie unser fliegender Gasthof weiter hinaufbrauset. Auf einmal wird Luise gespannt, auch Julie; ihre Blicke haften auf den mit Immergrün-Eichen bekrönten Bluffs, die zwanzig Fuß über den Flußufern die roten Fluten überwölben, sich darin abspiegeln.

»Dort, ja dort –« stockt Luise, unfähig ein Wort mehr hervorzubringen.

Die beiden Weiberchen schauen und schauen, als wollten sie durch den Waldesvorsprung bohren. Tränen dringen ihnen in die Augen.

»Da ist unser Hafen«, flüstert Luise mit vor Wonne und freudigem Erwarten erstickter Stimme. Ich hatte den Arm um mein Weibchen gelegt, ihr Körperchen zitterte vor Verlangen. – Noch eine Pflanzung, von der uns eine Begrüßung herüber zugerufen wird, aber weder Luise noch Julie sehen oder hören. Das Vaterhaus, der Drang, es zu sehen, erfüllt ihre kindlichen Seelen.

»Mama,« schluchzt Julie, »Mama, was wird sie jetzt tun?«

»Unser gedenken«, erwidert Luise mit Freudentränen in den glänzenden Augen.

»Und Papa?« – »Ah Papa!«

In diesem Augenblick kommt Doughby mit seiner Schar aus dem Speisesaale herauf.

»Doughby!« ruft ihm Julie mit gebrochener Stimme zu, läuft ihm entgegen.

»Sieh nur, Doughby!«

»Was, Julie?«

»Der Hafen, das Ziel, hinter dieser Baumgruppe!«

»Was ist hinter dieser Baumgruppe?«

»Das Vaterhaus!« ruft Julie.

»So. – Bei meiner Seele, Kapitän Johns; eines, glaube ich, haben wir vergessen, – einen Abgeordneten nach Cane River Station abgehen zu lassen.«

»Nicht vergessen«, schreit ihm Kapitän Johns entgegen; »nicht vergessen, Major, wißt ja, Messieurs Trumbull, Heath und Blount.«

»Ja, richtig, wäre aber doch besser, wenn einer expreß die Station auf sich nähme, besser, besser –«

»Glaube nicht, Major, überlaßt das den Gentlemen, würde wie Mißtrauen, Vorschreiben aussehen –

»Habt recht, Kapitän. Also hinter dem Vorsprung da, sind also am Ziele, wohl und gut«, wandte er sich wieder an Julie.

Er erhielt jedoch keine Antwort – Luise wirft ihm noch einen seltsamen Blick zu, wendet sich dann von ihm weg – schaut einen Augenblick Julie teilnehmend sinnend an, und indem sie sich näher an mich schmiegt, scheint es, als ob sie sich recht weit von Doughby zurückziehen wollte. Dieser stand einen Augenblick verblüfft – endlich rief er:

»Aber was ist, was soll das?«

Beide Weiberchen sehen ihn abermals an, ihre Lippen zucken, aber kein Wort kommt von ihnen.

Ich stand ein wenig betroffen; denn so wenig der Mangel an Gefühlsanklang bei unsern amerikanischen Mitbürgerinnen geschmerzt hätte, hier hat er verletzt. – Unsere beiden Weiberchen sind Französinnen dem Geblüte nach, die lebhafter fühlen, und ich besorge, sie haben an Doughby eine Entdeckung gemacht, die dem Kentuckier fatal werden kann, die Entdeckung einer gewissen Gemeinheit, einer Gemütsöde; bereits ist etwas wie Widerwille auf ihren holden Gesichtern zu lesen. –

Woher kommt doch dieses feine Gefühl bei Weibern, das bei weit weniger Scharfblick, als wir Männer haben, wieder um so viel tiefer eindringt, lebendiger anschaut? Liegt es im zarteren organischen Baue, im reizbarem Nervensystem, das jeden rauheren Anklang lebhafter in ihnen oszillieren macht, ihre Gemüter stärker durchschauert? Oder im feinem Takt der durch Leidenschaften nicht getrübten Anschauung? Oder dem natürlichen Widerwillen gegen alles, was gemein, gefühllos ist? Sicher ist es, daß dieser zarte Takt, diese sensitive Reizbarkeit bei Frauen, die reinen, unbefleckten Herzens sind, stark hervortritt, – daß jeder rauhere Anklang in ihrem ganzen organischen System stärker widerhallt als bei uns, zwar wieder verklingt, aber doch Spuren zurückläßt.

»O George!« flüstert mir Luise mit ungemein weicher Stimme zu.

»Teure Luise.«

»Arme Julie.« –

»Nicht doch, Luise – nicht doch, Julie. – Lasset keine Regenschauer den heitern Himmel eures Ehelebens trüben, solange ihr dieses vermeiden könnt. Wir eilen dem Vaterhause zu.«

Und Doughby ergreift die Hand seines Weibes und sieht ihr fest fragend in die Augen, und diese schlägt ihren Blick zu ihm auf, das flüchtige Wölkchen am blauen Horizonte scheint schwinden zu wollen, anscheinend ohne eine Spur zurückzulassen; aber beachtenswert dürfte es immer sein, dieses Wölkchen läßt vielleicht doch einen leichten Dunst zurück; wie der Hauch, der am blank polierten Stahle hinaufgleitet, verschwindet es, aber wenn er öfter kommt, setzt er jenen Rost an, den Rost des trostlosen Bewußtseins einer verfehlt angeknüpften Existenz, getäuschter Hoffnung, verdorbenen Lebensglückes. –

Ah, da sind wir ja endlich gegenüber den Bluffs – sie eilen wie Traumbilder an uns vorüber.

»Maman!« rufen beide zugleich, Luise und Julie. »Maman!« rufen sie, ihre Hände der geliebten Mutter entgegenstreckend, und diese den geliebten Kindern.

Unser Dampfer rundet dem Landungsplatze zu, alles ist vergeben, vergessen. Luise kann kaum die Zeit abwarten, wo die Bretter ans Ufer fallen, sie springt voran, zieht mich nach – Julie hinterdrein schiebt vor, so bugsieren sie mich über die Bretter, da erst lassen sie mich beide fahren und fliegen Maman zugleich in die Arme.

Wie doch so ganz anders das fühlt, als bei uns und unsern Nordländerinnen. Wäre nun das teure Kleeblatt eigentliche Amerikanerinnen von Uncle Sams Familie gewesen, alles wäre so schnurgerade vor sich gegangen! Zuerst hätten die beiden Weiberchen ihre triumphante Promenade durch die Reihen der durch ihre Gegenwart beliebten Reisekompagnons beliebt, allenfalls hie und da ein Kopfnicken zum Zeichen ihrer Zufriedenheit gespendet, dann wären ihre Schritte allmählich anständig trippelnder geworden, aber nicht zu trippelnd; denn was würde wohl Madame Chegarray von St. Johns Square sagen; die Ma hätte sich ihrerseits zwanzig Schritte bis zur Landung vorgeschoben, die zierlich Entgegengetrippelten hätten graziös die Hände vorgeschnellt, sie ausgestreckt, die der Ma erfaßt, und folgende zärtliche Ergießungen hätten sich so sicherlich so wie das Einmaleins aus dem Munde eines Schulknaben von ihren schönen Lippen hören lassen:

» O my dear Ma how glad l am!«

» You make me so very happy. my dear children, I am so glad indeed!«

» I am so delighted to see, you look so well Ma.«

» I feel so well indeed, my dear.«

» And how is Pa?«

» Thank you, my dear, he is very well indeed O teure Mutter, wie froh ich bin. Ihr macht mich so glücklich, teure Kinder, ich bin wirklich so froh. Ich bin so entzückt, zu sehen, daß Sie wohl sind, Mutter. Ich fühle mich wirklich, Teure, so wohl. Und wie geht es Vater? Dank Euch, Teure, er ist wirklich wohlauf..«

So hätte der Trilog gelautet. Hunderttausend gegen eines zu wetten. – Hier flogen sich Mutter und Töchter in die Arme, preßten sich, als wollten sie in einander verwachsen, nimmer sich trennen, so stürmisch, herzinnig! als ob sie von einer Reise um die Welt oder einer wüsten Felseninsel kämen, auf der sie schiffbrüchig geworden. – Freudentränen entquellen in Strömen – sie scheinen gar nicht mehr voneinander lassen zu wollen. Doch endlich! Luise springt zurück, erfaßt mich beim Arm und zieht mich mit tränenden Augen der lieben Maman zu, die, hätte sie die Arme Briareus' alle, sie nun wohl gebrauchen könnte, denn in dem Augenblicke kommt auch der Papa, der hinter einem klafterdicken Kottonbaume Versteckens gespielt, hervorgerannt. – Luise ersieht ihn kaum, so springt sie auf ihn zu: » Mechant que tu es Papa« rufend, und den guten Mann gleichfalls der lieben Maman zuziehend. Dampfschiff und Zuschauer sind wie gar nicht vorhanden, genieren sie nicht im mindesten, aber warum sollten sie auch? Sie sind auf ihrem Grund und Boden, der Schwelle des Vaterhauses, und greifen die Freuden wie sie kommen, wissen dem Leben frohe Seiten da abzugewinnen – das Herz reden zu lassen, wo unser Amphibienblut kaum schneller in unsern Adern kreisen würde. – Uns bringt so gar nichts oder schier gar nichts aus unserem Gleichmute! –

Mittlerweile kommt auch Doughby, der sich endlich von seinen Demokraten losgemacht, mit unsern Gästen herangezogen. Er ruft den beiden Schwiegereltern auf ihrem eigenen Grund und Boden ein Willkommen zu und drückt ihnen lachend die Hand, daß beide aufschreien über den Kentuckierscherz – und Maman greift zu ihrem Riechfläschchen, er riecht stark nach Toddy, der unglückselige Doughby. Aber etwas ungemein Graziöses ist zugleich in der Art, wie sich der liebliche Familienknäuel auseinanderwindet, mit welchem Anstand, welcher heitern Zuvorkommenheit sie die Gäste empfangen! In jeder Bewegung jenes altadelige Aplomb, das sich an seinem Platze weiß, und der Wortschwall, so leer er im Ganzen an innerem Gehalte ist, zur Abwechslung in unserem trockener » How d'ye do Wie befinden Sie sich?« liebe ich ihn. –

Nach den ersten Begrüßungen führt Papa Menou seine Gäste zum Wagen, einer eleganten Berline, mit zwei raschen Rappen bespannt, deren Leitung der ganz von uns übersehene Charles auf sich nimmt, während wir, sechs Stück, uns in die alte Familien-Karosse einpacken, samt Nachtsäcken, Koffern und Schachteln.

Und Luise wird abermals so wühlig, mutwillig, fröhlich, bald hätschelt sie die Maman, bald wieder Papa, den wir auf dem Rücksitze in die Mitte genommen haben, bald schmollt sie Cato, der ihr zu langsam fährt, und der Schwarze bleckt vor Freuden die Zähne. – Alle reden zugleich, es ist ein kleines Babel, unser Kasten während der zehnminutigen Fahrt. Doch siehe da! Luise hält auf einmal inne, fährt mit der Hand über die Stirne, schaut, wahrhaftig eine Träne!

»Was fällt dir auf einmal ein, Luise?«

Luise gibt keine Antwort, deutet mechanisch mit dem Finger aus dem Wagen hinaus; – ich schaue – es ist das Vaterhaus, das zwischen dem Kranze von Akazien und Baumwollenbäumen, die es von mehreren Seiten umringen, hervorschimmert. Und eine Pause entsteht, während welcher Vater und Mutter bewegt das von süßer Wehmut gedrängte Kind anschauen. Und Luisens Augen haften abermals am Vaterhause, sie werden wieder feucht, Tränen füllen sie, ihre Lippen zucken, sie ergreift meine Hand – Vater, Mutter werden immer gespannter, beinahe ängstlich schauen sie die Tochter an.

»Luise!« rief ich sie mit sanfter Stimme an.

Luise gibt keine Antwort, aber sie starrt das Vaterhaus an mit seinen malerischen Giebeln und seinem architektonischen Wirrwarr. Ja, es ist das Vaterhaus, das sie zum ersten Male betritt, seit sie es gegen das meinige vertauscht hat. Es steht abermals vor ihr, wie der Baum der Erkenntnis rückt es ihr die Vergangenheit vor die Augen, die Gegenwart, die Zukunft; jene Tage, wo sie heiter und grün, eine unentfaltete Knospe, am blumigen Gängelbande elterlicher Fürsorge umherschwirrte, rosige Düfte atmend, keine Sorgen kennend als die, wie der Schmetterling von einem unschuldigen Genusse zum andern zu flattern! – Und nun die Gegenwart mit ihren Plackereien des Alltagslebens und seinen Mühen und Lasten, die sie mir tragen hilft, und die graue Zukunft, im Küstern Nebelvorhange verschleiert, mit bleiernen Armen im Hintergründe weilend! – Alles das steht vor ihr, und die Erkenntnis, ob sie gut oder bös gewählt, steht auch vor ihr, sie ist in diesem Augenblicke wie ein Schild auf das Vaterhaus geschrieben. – Ja, es ist ein für sie, für mich momentaner Augenblick, denn er sagt ihr, mir, ob ich sie, ob sie mich glücklich gemacht.

Ich schaute sie bewegt, ängstlich an.

Ihre in Tränen schwimmenden Augen hängen noch immer in stiller Wehmut am Vaterhause, an jeder Hütte, jedem Baume, der innerhalb ihres Gesichtskreises tritt – jetzt fallen sie auf mich, ein freudiges Blitzen durchzuckt sie, sie drückt meine Hand – sinkt mir in die Arme –

»George!«

»Luise! – Bedauerst du, daß du das Vaterhaus verlassen?« sprach ich mit weicher, leiser Stimme.

»Nein, nein«, lispelt sie.

»Danke dir.« – Jetzt fühlte ich, daß ich glücklich war, weil ich glücklich gemacht – Vater und Mutter schauen uns starr an; als wir aufblicken, fallen ihre Blicke auf Julie, in der Ähnliches vorgegangen war, die sich aber so fest an die Mutter anklammerte, als ob sie nicht mehr von ihr lassen wollte.

» Mes enfants! voilà du monde qui nous attend«, mahnt der Papa.

Und wie der Regenschauer vor den siegenden Strahlen der Sonne schwindet, so schwinden Wölkchen und Tränen auf diese Worte. – Zwanzig Stimmen, die uns begrüßen, reißen uns vollends aus den tiefen Gedanken.


 << zurück weiter >>