Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel.

Ein riesenhaftes Genie, geschickt, es mit
ganzen Bibliotheken aufzunehmen.

Boswell's Leben Johnson's.

Der Tag kam heran, an welchem man den Oberst und Miß Mannering zu Woodbourne erwartete. Die Stunde rückte immer näher herbei und jeder in dem kleinen Kreise der jetzigen Bewohner des Hauses hatte seinen besondern Gegenstand, der ihn unruhig machte. Mac-Morlan wünschte natürlich, sich den Schutz und die Gewogenheit einer so reichen und Einfluß übenden Person wie Mannering zu verschaffen. Seine Menschenkenntniß hatte ihn schon gelehrt, daß Mannering, wie edelmüthig und wohlwollend er auch war, doch die Schwäche besaß, bei all seinen Aufträgen die genaueste und pünktlichste Ausführung zu verlangen. Er marterte daher sein Gedächtniß, ob auch nichts versäumt, sondern Alles nach des Obersts Wünschen und Weisungen geordnet sei, und in dieser unruhigen Stimmung untersuchte er das Haus mehr als einmal vom Boden bis zum Stalle. Mrs. Mac-Morlan bewegte sich in einem engern Kreise und erwog den Zustand des Eßzimmers, der Gesindestube und der Küche. Sie war nur besorgt, das Essen möchte verderben und ihre Geschicklichkeit als Hausfrau in Mißkredit bringen. Selbst die gewöhnliche Geduld des Dominie war so gestört, daß er zweimal zum Fenster ging, welches nach dem Thorweg sah, und zweimal ausrief: »Warum zögern die Räder ihres Wagens?« Lucy, die sich unter Allen am ruhigsten verhielt, hatte ihre besondern melancholischen Gedanken. Sie sollte sich nun der Fürsorge, ja, fast der Gnade von Fremden überlassen, mit deren Charakter, wie liebenswürdig er sich bisher auch gezeigt hatte, sie doch nur unvollkommen bekannt war. So gingen die Augenblicke des Verzugs immer ängstlicher und banger an ihr vorüber.

Endlich hörte man Pferdegetrappel und Wagenrasseln. Die Diener, die bereits angelangt waren, eilten nach dem Vorsaal, um ihre Herrschaft zu empfangen, und zwar mit einer Wichtigkeit und einem Diensteifer, welcher für Lucy, die an die Gesellschaft und die Sitten der Großen nicht gewöhnt war, etwas Beunruhigendes hatte. Mac-Morlan ging zur Thür, um die Herrschaft des Hauses zu begrüßen und nach wenigen Augenblicken befand sich dieselbe im Gesellschaftszimmer.

Mannering, der wie gewöhnlich zu Pferde gereist war, trat, seine Tochter am Arm führend, herein. Sie war von Mittelgröße, oder eher darunter, aber sehr zierlich gebaut; sie hatte stechende dunkele Augen und reiches schwarzes Haar, welches gut zu der Lebendigkeit und Klugheit ihrer Züge paßte, worin etwas Stolz, etwas Schüchternheit, viel Schlauheit und humoristischer Spott lag. »Ich werde sie nicht lieben,« dachte Lucy Bertram nach dem ersten Blicke; »und dennoch glaub' ich, ich werd' es,« dachte sie nach dem zweiten.

Miß Mannering war bis zum Kinn wegen der Strenge der Jahrszeit eingehüllt; der Oberst trug seinen Militärrock. Er verbeugte sich vor Mrs. Mac-Morlan, was auch seine Tochter mit modischer Zierlichkeit that, wiewohl nicht so tief, daß sie sich Unbequemlichkeit dadurch verursacht hätte. Der Oberst führte sodann seine Tochter zu Miß Bertram, und indem er die Hand der letztern nahm, sagte er mit großer Freundlichkeit und fast väterlicher Zärtlichkeit: »Julie, dies ist die junge Dame, die, wie ich hoffe, von unsern Freunden dahin vermocht sein wird, unser Haus mit einem langen Besuche zu beehren. Es wird mich in der That sehr freuen, wenn du Woodbourne für Miß Bertram so angenehm machen kannst, wie Ellangowan für mich war, als ich zum erstenmal als Reisender in diese Gegend kam.«

Die junge Lady verbeugte sich artig und ergriff die Hand ihrer neuen Freundin. Mannering wandte sein Auge nun auf den Dominie, welcher, seit seinem Eintritt in's Zimmer, Bücklinge gemacht, die Beine gespreizt, und seinen Rücken in so regelmäßigen Krümmungen bewegt hatte, wie ein Automat, welches mit derselben Bewegung fortfährt, bis es der Künstler anhält. »Mein lieber Freund, Mr. Simson,« – sagte Mannering, ihn seiner Tochter vorstellend und zugleich einen tadelnden Blick auf das Mädchen werfend, wiewohl er selbst einige Neigung zum Lachen empfand, welches jene kaum zu unterdrücken vermochte; – »dieser Gentleman, Julie, wird meine Bücher in Ordnung bringen, sobald sie angekommen sind, und ich hoffe großen Vortheil von seiner ausgebreiteten Gelehrsamkeit zu ziehen.«

»Gewiß, wir sind diesem Gentleman verpflichtet, Vater, und nie – um mich einer diplomatischen Ausdrucksweise zu bedienen – nie werde ich die außerordentlich huldvolle Miene vergessen, mit welcher er uns zu empfangen geruhte. – Indeß, Miß Bertram,« fuhr sie schnell fort, als sie sah, wie sich ihres Vaters Brauen verfinsterten, »wir haben eine beträchtliche Reise zurückgelegt, – werden Sie mir erlauben, mich bis zum Mittagessen zurückzuziehen?«

Diese Bemerkung führte die ganze Gesellschaft auseinander; nur der Dominie, der keine Idee von An- oder Umkleiden hatte, außer früh beim Aufstehen oder Abends beim Niederlegen, blieb in seiner Ruhe und käuete an einer mathematischen Aufgabe, bis sich die Gesellschaft wieder im Saale versammelte, um sich nach dem Speisezimmer zu begeben.

Als der Tag zu Ende ging, nahm Mannering eine Gelegenheit wahr, um noch einen Augenblick mit seiner Tochter allein zu sprechen.

»Wie gefallen dir unsre Gäste, Julie?«

»O, Miß Bertram ungemein – aber der Geistliche ist ein origineller Mann – den wird wirklich kein menschliches Wesen ansehn können, lieber Vater, ohne zu lachen.«

»So lang er unter meinem Dach ist, Julie, muß das jeder lernen.«

»Lieber Himmel, Vater, selbst die Bedienten konnten nicht ernsthaft bleiben.«

»Dann mögen sie meine Livree ablegen,« sagte der Oberst, »und nach Gefallen lachen. Mr. Simson ist ein Mann, den ich seines schlichten und wohlwollenden Charakters wegen schätze.«

»O, davon bin ich überzeugt und von seinem Edelmuthe obendrein,« sagte das muthwillige Dämchen; »denn er kann keinen Löffel Suppe zum Munde bringen, ohne jedem, der neben ihm sitzt, etwas davon mitzutheilen.«

»Julie, du bist unverbesserlich; erinnere dich jedoch, daß ich erwarte, daß du deine Lust an diesem Gegenstande gehörig im Zaume hältst, um weder das Gefühl dieses würdigen Mannes, noch das der Miß Bertram zu verletzen, welche auf seine Rechnung wohl empfindlicher sein möchte, als er selber. Und nun gute Nacht, liebes Kind; und, wenn auch Mr. Simson freilich kein Erwählter der Grazien ist, so bedenke, daß viele Dinge in dieser Welt weit mehr belacht zu werden verdienen, als jede Unbeholfenheit des Benehmens oder Einfalt des Charakters.«

Nach einigen Tagen verließen Mr. und Mrs. Mac Morlan Woodbourne, nachdem sie ihrem frühern Gaste zärtlich Lebewohl gesagt hatten. Der Haushalt war nun in der neuen Wohnung völlig eingerichtet. Die jungen Damen theilten ihre Studien und ihre Unterhaltung miteinander. Oberst Mannering war angenehm überrascht, als er fand, daß Miß Bertram des Französischen und Italienischen wohl kundig war, – Dank dem Fleiße des Dominie Simson, der sich im Stillen ebensowohl mit den meisten neuen, wie mit den alten Sprachen bekannt gemacht hatte. Von Musik verstand sie wenig oder nichts, aber ihre neue Freundin übernahm es, ihr Unterricht zu geben; dafür lernte sie von Lucy die Gewohnheit, zu Fuße spazieren zu gehen, zu reiten und den nöthigen Muth, der rauhen Jahrszeit zu trotzen. Mannering bemühte sich, ihnen zur Abendunterhaltung solche Bücher zu verschaffen, welche neben dem Unterhaltenden auch solide Belehrung geben, und während er ihnen mit Gefühl und Geschick vorlas, verstrichen die Winternächte sehr angenehm.

Wo so viel Anziehendes war, mußte sich bald Gesellschaft einfinden. Die meisten der benachbarten Familien besuchten Oberst Mannering, und er konnte bald diejenigen unter ihnen wählen, die seinem Geschmack und seinen Gewohnheiten am meisten zusagten. Charles Hazlewood stand besonders hoch in seiner Gunst und war, nicht ohne Zustimmung und Billigung seiner Aeltern, ein häufiger Gast; man kann nicht wissen, meinten sie, was aus seinen fortgesetzten Aufmerksamkeiten entstehen kann, und die schöne Miß Mannering von hoher Abkunft, mit indischem Reichthum, ist wohl werth, um ein Auge auf sie zu haben. Durch eine solche Aussicht verblendet, erwogen sie nie die Gefahr, die schon einmal ihre Besorgniß rege gemacht hatte, daß seine jugendliche und unüberlegte Einbildungskraft ihm eine Neigung zu der unbemittelten Lucy Bertram einflößen könnte, welche nichts auf der Welt hatte, was sie empfehlen konnte, außer ein hübsches Gesicht, gute Herkunft und einen äußerst liebenswürdigen Charakter. Mannering war vorsichtiger. Er betrachtete sich selbst als Miß Bertrams Vormund, und während er es nicht für nöthig hielt, überhaupt ihren Verkehr mit einem jungen Herrn abzubrechen, dem sie, mit Ausnahme der Vermögensumstände, in jeder Hinsicht völlig gleich stand, so legte er diesem Umgange doch allmälig solche Beschränkung auf, als nöthig war, um ein Geständniß oder eine Erklärung zu verhindern, bis der junge Mann etwas mehr vom Leben und von der Welt gesehn, und das Alter erreicht haben würde, wo er als berechtigt gelten konnte, für sich selbst eine Entscheidung in der Angelegenheit zu fassen, bei welcher sein Glück so sehr betheiligt war.

Während Alles dies die Aufmerksamkeit der übrigen Mitglieder der Familie zu Woodbourne in Anspruch nahm, war Dominie Simson mit Leib und Seele beschäftigt, des verstorbenen Bischoffs Bibliothek zu ordnen, welche von Liverpool zur See abgesendet war und nun in dreißig oder vierzig Karren aus dem Seehafen herbeigeschafft wurde, in welchem sie an's Land gebracht war. Simsons Freude, als er den gewichtigen Inhalt jener Kisten betrachtete, die auf den Dielen des großen Zimmers aufgestellt waren, und die er in die Schränke bringen sollte, ist über alle Beschreibung. Er grinzte wie ein Oger, schwang seine Arme gleich Windmühlflügeln und jauchzte: »Wun-der-bar!« bis die Decke des Gemachs vor seinem Entzücken dröhnte. »Er hatte nie,« wie er sagte, »so viele Bücher beisammen gesehn, außer in der Universitätsbibliothek;« und nun erhob ihn seine Würde und seine Freude, indem er Verwalter dieser Sammlung war, in seiner eignen Meinung fast bis zum Range des akademischen Bibliothekars, den er stets als den größten und glücklichsten Mann auf Gottes Erdboden betrachtet hatte. Auch wurde sein Entzücken nicht durch eine hastige Untersuchung des Inhalts dieser Bände vermindert. Einige schönwissenschaftliche, Gedichte, Schauspiele oder Memoiren stieß er allerdings unwillig bei Seite, begleitet von einem »Pfui!« oder »leichtfertig Zeug!«; der größere und gewichtigere Theil der Sammlung jedoch war von ganz anderm Charakter. Der verstorbene Prälat, ein Gottesgelehrter nach altem und tiefgelehrtem Schlag, hatte seine Schränke mit Bänden belastet, welche die alten und ehrwürdigen Attribute trugen, die ein neuerer Dichter so glücklich schildert:

Die Schal' aus Holz, mit Leder nett umschlossen,
Die großen Klammern, aus Metall gegossen,
Der rothe Schnitt, die enggedruckten Spalten,
Die schon seit Jahren Niemand mocht' entfalten,
Der starrgewölbte Rücken, wo voll Pracht
In bleichem Golde noch der Titel lacht.

Theologische Bücher, religiöse Streitschriften, Commentare und Polyglotten, Ausgaben der Kirchenväter, Predigten, deren jede allein so stark als zehn kurze moderne Reden, wissenschaftliche Werke alter und neuer Zeit, klassische Autoren in den besten und seltensten Editionen; dergleichen war's, woraus des seligen Bischoffs Bibliothek bestand, und über dergleichen glitt Simsons Blick voll Entzücken hin. Er trug Alles in seiner bestmöglichen Handschrift in den Katalog ein, indem er jeden Buchstaben so schön malte, wie ein Verliebter am Valentinstag schreibt, und jedes Werk stellte er in das bestimmte Fach, und zwar mit all der Ehrfurcht, welche ich von einer Dame einer alten Porzellantasse schenken sah. Bei all diesem Eifer ging seine Arbeit langsam vorwärts. Oft öffnete er mitten auf der Bücherleiter einen Band, stieß auf eine interessante Stelle, und fuhr, ohne der unbequemen Lage zu denken, so lange mit der bezaubernden Lectüre fort, bis ihn der Bediente am Rock zupfte und meldete, daß man ihn bei Tische erwarte. Dann eilte er zum Speisezimmer, stopfte sein Essen in seine geräumige Kehle hinunter, und zwar in drei Zoll starken Bissen, antwortete mit Ja und Nein auf's Gerathewohl, was man ihn auch immer fragen mochte, und stürzte sodann wieder nach der Bibliothek zurück, sobald er die Serviette abgelegt hatte oder auch wohl dieselbe noch, wie ein Lätzchen, am Halse tragend –

»Wie selig so die Tage
Von Thalaba entflohen!« –

Und nachdem wir so die Hauptcharaktere unserer Erzählung in einer Lage gelassen haben, die behaglich genug für sie selber, aber natürlich ganz uninteressant für den Leser ist, nehmen wir die Geschichte einer Person wieder auf, welche bis jetzt fast nur mit Namen erwähnt worden ist, und die gleichwohl all die Theilnahme in Anspruch nimmt, welche Ungewißheit des Schicksals und Mißgeschick erregen können.

 

Ende des ersten Theils.



 << zurück