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Neuntes Kapitel.

Francisco. Ich wünsch' dir gute Nacht!
Marcellus. O lebe wohl, du wackerer Soldat! Wer hat dich abgelöst?
Francisco. Gute Nacht! Bernardo hat meinen Posten.

Hamlet.

Das erste Geschäft unserer Reisenden war die Aufsuchung von Mitteln, um über den Graben zu kommen, und es dauerte nicht lange, bis sie den Brückenkopf fanden, auf welchem die Zugbrücke früher geruht hatte, wenn sie niedergelassen war. Die Brücke selbst war schon lange zerfallen, aber man hatte, augenscheinlich erst vor Kurzem, einen einstweiligen Uebergang aus Tannenbäumen und Brettern gebaut, der ihnen den Zutritt zu dem Haupteingang des Schlosses verstattete. Beim Eintritt in diesen stießen sie auf eine Thüre, die in den Bogengang führte. Hier schimmerte Licht und geleitete sie in eine Halle, die, wie man sehen konnte, so gut es die Umstände zugelassen, für ihre Bequemlichkeit hergerichtet war.

Ein großes Feuer von wohlgetrocknetem Holz brannte lustig im Kamin und war so unterhalten worden, daß die Luft in der Halle trotz ihres großen Umfanges und einigermaßen verfallenen Aussehens ein mildes und wohlthuendes Gefühl erregte. Am Ende des Gemachs war ein Haufen Holz, groß genug, um das Feuer zu unterhalten, wenn sie auch eine Woche dageblieben wären. Zwei oder drei lange Tische standen gedeckt und zu ihrer Aufnahme bereit, und bei genauerem Nachsuchen fanden sich in einer Ecke verschiedene große Körbe vor, die kalte, sehr sorgfältig zubereitete Speisen jeglicher Art für ihren unmittelbaren Bedarf enthielten. Der gute Solothurner Bürger blinzelte mit den Augen, als er die jungen Leute das Nachtessen aus den Körben nehmen und auf die Tafel stellen sah.

»Gut,« sagte er, »die guten Basler sind ihrem Charakter treu geblieben; denn wenn sie es an der Bewillkommnung haben fehlen lassen, so ist hier Ueberfluß an guten Speisen.«

»Ach, Freund,« sagte Arnold Biedermann, »die Abwesenheit des Wirths ist ein bedeutender Abzug an der Unterhaltung. Besser ein halber Apfel aus der Hand des Wirths, denn ein Hochzeitsmahl ohne eine Gesellschaft.«

»Wir sind ihnen doch Dank schuldig für ihren Schmaus,« sagte der Bannerherr. »Aber ich sollte meinen, nach der bedenklichen Sprache, die sie führten, wäre es zweckmäßig, die Nacht strenge Wache zu halten und einige von unseren jungen Leuten von Zeit zu Zeit die Runde um die alten Ruinen machen zu lassen. Der Platz ist stark und haltbar und in sofern müssen wir uns bei denen bedanken, die uns hier Quartier gemacht haben. Wir wollen indessen, mit eurer Erlaubniß, meine verehrten Brüder, das Innere des Hauses untersuchen und dann regelmäßige Posten und Streifwachen anordnen. – An euer Geschäft, ihr jungen Leute, und durchsucht diese Trümmer sorgfältig; – sie könnten vielleicht mehr als uns enthalten. Denn wir sind jetzt in der Nähe von Einem, der wie ein diebischer Fuchs sich lieber bei Nacht, als bei Tag rührt und seine Beute eher in Ruinen und Wildnissen sucht, als im offenen Feld.«

Diesen Vorschlag hielten Alle genehm; die jungen Leute nahmen Fackeln, von denen ein tüchtiger Vorrath zu ihrem Gebrauch zurückgelassen worden war, und stellten pünktliche Nachforschungen in den Ruinen an.

Der größere Theil des Schlosses war noch wüster und verfallener als der, welcher von den Baslern für die Bequemlichkeit der Gesandtschaft bestimmt worden zu sein schien. Einige Stücke desselben hatten kein Dach mehr, und das Ganze bot einen trostlosen Anblick. Das Funkeln der Lichter, der Glanz der Waffen, die Klänge menschlicher Stimmen und der Widerhall der männlichen Tritte schreckten Fledermäuse, Eulen und andere unglückweissagende Vögel, die gewöhnlichen Bewohner solcher alten Gebäude, aus ihren finsteren Schlupfwinkeln auf. Ihr Flug durch die öden Zimmer veranlaßte Unruhe unter denen, welche das Geräusch hörten, ohne die Ursache davon zu sehen, und Gelächter, wenn sie dieselbe erkannten. Sie fanden heraus, daß der tiefe Graben ihren Zufluchtsort von allen Seiten umgab, und daß sie also gegen einen Angriff von Außen sicher waren, wenn solcher nicht durch den Haupteingang unternommen wurde, den man leicht verrammeln und mit Wachen besetzen konnte. Sie überzeugten sich auch durch scharfes Suchen, daß sich zwar wohl eine einzelne Person in dieser Trümmerwüste verbergen konnte, daß es aber einer Anzahl von Menschen, die einer so großen Gesellschaft als die ihrige hätte gefährlich werden können, völlig unmöglich war, hier zurückzubleiben, ohne entdeckt zu werden. Ueber diese Einzelnheiten wurde dem Bannerherrn Bericht erstattet, und er befahl Donnerhügel, unter den jungen Leuten sechs auszulesen und solche bis zum ersten Hahnenschrei an der Außenseite des Gebäudes herumstreifen zu lassen. Dann sollten sie in's Schloß zurückkehren und eine gleiche Abtheilung sollte dasselbe Geschäft bis zum Morgengrauen übernehmen, wo sie dann ihrerseits wieder abgelöst werden sollten. Rudolph erklärte, daß es seine Absicht sei, die ganze Nacht auf der Wache zu bleiben, und da er sich ebenso sehr durch seine Wachsamkeit, als durch Stärke und Muth auszeichnete, so hielt man für die Sicherheit des Außenpostens hinreichend gesorgt, nachdem noch festgesetzt worden war, daß im Fall eines plötzlichen Angriffes der tiefe und rauhe Ton des Schweizer-Horns das Zeichen sein solle, der Streifpartei Hülfe zu senden.

Innerhalb des Schlosses wurden für gleiche Wachsamkeit Vorkehrungen getroffen. Eine Schildwache, die alle zwei Stunden abgelöst werden sollte, wurde angewiesen, ihren Posten an dem Hauptthor einzunehmen, und zwei Andere bezogen die Wache auf der andern Seite des Schlosses, obschon der Graben in dieser Gegend Sicherheit genug zu gewähren schien.

Als diese Vorkehrungen getroffen waren, setzte sich der Rest der Gesellschaft nieder, um sich zu erfrischen. Die Gesandten nahmen den oberen Theil der Halle ein, die von der Bedeckung ließen sich bescheiden am unteren Ende desselben großen Gemachs nieder. Eine Menge Heu und Stroh, das in dem weiten Schlosse aufgehäuft lag, wurde zu dem Zwecke verwendet, zu dem es von den Baslern offenbar bestimmt worden war, und auf ihm fanden sich abgehärtete Männer ausgezeichnet gut gebettet, die oft im Kriege oder auf der Jagd mit einem weit schlechteren Nachtlager hatten vorlieb nehmen müssen.

Die Aufmerksamkeit der Basler war sogar so weit gegangen, daß sie Anna von Geierstein besondere und ihren Bedürfnissen mehr angemessene Bequemlichkeiten verschafft hatten, als die für den männlichen Theil der Gesellschaft bestimmten. Man trat in ihr Gemach, welches wahrscheinlich die Speisekammer des Schlosses gewesen war, aus der Halle, und es hatte auch noch eine Thüre, die in einen mit den Ruinen in Verbindung stehenden Gang führte. Die letztere war in Eile, aber sorgfältig mit großen den Ruinen entnommenen Mauersteinen verbaut worden. Man hatte zwar keinen Mörtel oder einen anderen Kitt dazu verwendet, aber das eigene Gewicht der Quader festigte sie schon so weit, daß der Versuch, sie zu verrücken, nicht nur von den in dem Gemach selbst, sondern auch von den in der anstoßenden Halle oder in einem anderen Theile des Schlosses befindlichen Personen nothwendig gehört werden mußte. In dem kleinen, sorgsam hergerichteten und von Außen gesicherten Gemach standen zwei Feldbetten, und ein großes Feuer auf dem Herd verlieh ihm Wärme und Behaglichkeit. Selbst ein kleines Crucifix von Bronze war nicht vergessen; es hing über einem Tisch, auf welchem ein Brevier lag.

Die, welche den kleinen Ruheort zuerst entdeckten, kamen aus demselben mit lauten Lobeserhebungen auf die Artigkeiten der Basler zurück, die nicht nur an Bequemlichkeit der Fremden im Allgemeinen, sondern auch noch besonders an diejenige ihrer weiblichen Begleiter gedacht hatten.

Arnold Biedermann empfand recht gut das Freundliche eines solchen Betragens. »Wir sollten unsere Freunde zu Basel bemitleiden und keiner Empfindlichkeit gegen sie Raum geben,« sagte er. »Sie haben ihre Güte gegen uns so weit getrieben, als ihre Besorgnisse verstatteten, und das ist nicht wenig von ihnen, meine Herren, denn keine Leidenschaft ist so wechsellos selbstsüchtig als die Furcht. – Anna, meine Liebe, du bist müde. Geh' in das Zimmer, das man dir bereitet hat, und Lisette wird dir von diesem reichen Vorrath bringen, was für dein Abendessen am besten paßt.«

Damit führte er seine Nichte in das kleine Schlafzimmer, sah sich darin mit vergnügter Miene um und wünschte ihr gute Nacht; aber es lag etwas auf des Mädchens Stirne, welches zu verkündigen schien, daß ihres Oheims Wünsche nicht in Erfüllung gehen würden. Seitdem sie die Schweiz verlassen hatte, waren ihre Blicke umwölkt gewesen und ihr Gespräch mit denen, die ihr nahe kamen, war kürzer und seltener geworden; ihr ganzes Aussehen trug ein Gepräge von heimlicher Angst oder verborgenem Kummer. Solches entging ihrem Oheim nicht und er schrieb es natürlich dem Schmerz über die nahe bevorstehende Trennung von ihm, und ihrer Betrübniß über die Entfernung von dem ruhigen Aufenthalt zu, an welchem sie so viele Jahre ihrer Jugend verbracht hatte.

Aber Anna von Geierstein war kaum in das Gemach getreten, als ihr ganzer Körper heftig zu zittern anfing, die Farbe völlig von ihren Wangen wich, und sie auf eines der Betten sank. Hier stützte sie die Ellbogen auf die Knie, drückte ihre Hände an die Stirne und glich so eher einer Person, die von innerem Kummer niedergedrückt oder von schwerer Krankheit gepeinigt wird, denn einer von langer Reise ermüdeten, die sich eilig der nöthigen Ruhe überlassen will. Arnold war nicht scharfsichtig genug, um den Quellen weiblicher Gemüthsbewegungen nachzugehen. Er sah, daß seine Nichte litt; da er dies aber blos den bereits erwähnten Ursachen zuschrieb, und meinte, diese würden noch durch Krämpfe vermehrt, wie sie oft durch Anstrengungen hervorgerufen werden, so machte er ihr sanfte Vorwürfe darüber, daß sie schon kein Schweizer Mädchen mehr sei, während sie sich doch noch innerhalb des Bereichs der Schweizer Luft befinde.

»Du mußt die Frauenzimmer in Deutschland oder Flandern nicht auf den Gedanken bringen, daß unsere Töchter aus der Art geschlagen seien; sonst müssen wir die Schlachten von Sempach und Laupen noch einmal schlagen, wenn wir den Kaiser und diesen hochmüthigen Herzog von Burgund überzeugen wollen, daß unsere Männer noch dasselbe Feuer besitzen wie ihre Vorväter. Was unsere Trennung betrifft, so fürchte ich dieselbe nicht. Mein Bruder ist zwar ein Reichsgraf und muß sich also nothwendig die Genugthuung verschaffen, daß Alles, worauf er einen Anspruch zu machen hat, zu seinen Diensten stehe; er schickt daher nach dir, um zu beweisen, daß er ein Recht hat, dies zu thun. Aber ich kenne ihn wohl; kaum wird er sich überzeugt haben, daß er dir nach Belieben befehlen darf, vor ihm zu erscheinen, so wird er sich auch nicht mehr um dich bekümmern. Du? Ach, du armes Ding, mit was könntest du seine Umtriebe am Hof und seine ehrgeizigen Pläne unterstützen? Nein, nein, – du taugst nicht für die Absichten des edlen Grafen und mußt dich begnügen, nach Geierstein zurückzukehren, die Milcherei zu verwalten und der Liebling deines bauerhaften Oheims zu sein.«

»Wollte Gott, wir wären eben jetzt dort!« sagte das Mädchen in einem kläglichen Tone, den sie umsonst zu verbergen oder zu unterdrücken strebte.

»Das wird schwerlich geschehen können, ehe wir den Zweck erreicht, wegen dessen wir hierhergekommen sind,« sagte der Landammann, der ihre Aeußerung buchstäblich nahm. »Aber leg' dich in dein Bett, Anna, – nimm etwas zu essen und ein paar Tropfen Wein zu dir, und du wirst morgen so munter erwachen, wie an einem Schweizer-Feiertag, wenn die Schalmei zum Aufstehen bläst.«

Anna war jetzt im Stande, ein heftiges Kopfweh vorzuschützen, sie lehnte alle Erfrischungen ab, erklärte, sie sei unfähig, etwas anzurühren, und wünschte ihrem Oheim gute Nacht. Dann bat sie Lisette, etwas zu essen für sich selbst zu holen, bei ihrer Rückkehr so wenig als möglich Geräusch zu machen und ihren Schlaf nicht zu unterbrechen, wenn sie so glücklich wäre, einschlafen zu können. Arnold Biedermann küßte hierauf seine Nichte und ging in die Halle zurück, wo seine Amtsgenossen mit Ungeduld auf ihn harrten, um einen Angriff auf die bereitstehenden Speisen beginnen zu können. Das Geleite der jungen Leute, mit Ausnahme derer, welche Streifereien machten und auf dem Posten standen, hatte nicht weniger Lust dazu als ihre Vorgesetzen.

Das Zeichen zum Angriff wurde von dem Schweizer Deputirten gegeben, dem Aeltesten aus der Gesellschaft, der nach patriarchalischer Sitte den Segen sprach über das Mahl. Hierauf begannen die Reisenden ihre Arbeit mit der größten Lebhaftigkeit, denn die Ungewißheit über die Auffindung von Nahrungsmitteln und der Aufschub, den es gemacht, sie in ihren Quartieren unterzubringen, hatten ihren Hunger bedeutend vermehrt. Selbst der Landammann, dessen Mäßigkeit sich zuweilen der Enthaltsamkeit näherte, schien diese Nacht in einer froheren Laune als gewöhnlich. Sein Freund von Schwyz aß, trank und sprach, wie sein Vorbild, mehr als gewöhnlich; die übrigen Botschafter trieben ihr Gastmahl beinahe bis zum Gelage. Der ältere Philipson sah dem Auftritt mit aufmerksamem und ängstlichem Auge zu, und trank nur dann Wein, wann ihm zugetrunken wurde und die Höflichkeit eine Erwiderung nöthig machte. Sein Sohn hatte die Halle gleich beim Beginn des Schmauses auf die Art verlassen, die wir jetzt angeben wollen.

Arthur hatte im Sinne, sich mit den Jünglingen zu vereinigen, denen es oblag, innerhalb ihres Aufenthalts Schildwache zu stehen oder außerhalb desselben herumzustreifen. Für diesen Zweck hatte er mit Siegmund, dem dritten Sohn des Landammanns, Verabredungen getroffen. Da er aber erst einen Abschiedsblick von Anna von Geierstein erhaschen wollte, ehe er seinen Vorsatz ausführte und sich zu diesem Dienste anbot, nahm ihr Gesicht einen so nachdenklichen und ernsthaften Ausdruck an, daß er an gar nichts Anderes mehr dachte, als an das, was möglicherweise diesem Wechsel seine Entstehung hätte geben können. Die sanfte Offenheit der Stirne, das Auge, welches selbstbewußte und furchtlose Unschuld verkündigte, die Lippen, welche, unterstützt von einem gleich freien Blick, wie ihre Worte, immer bereit schienen, mit Güte und Vertrauen auszusprechen, was das Herz diktirte, hatten für den Augenblick ihre Eigenthümlichkeit und ihren Ausdruck völlig verloren, und waren in einem Grade und einer Weise verändert, daß keine gewöhnliche Ursache genügende Rechenschaft davon zu geben vermochte. Die Müdigkeit hätte die Röthe aus des Mädchens Gesicht verdrängen können, und Krankheit oder Schmerz würde ihr Auge getrübt und ihre Stirne umwölkt haben. Aber die tiefe Niedergeschlagenheit, mit welcher sie manchmal ihre Augen auf den Boden heftete, der furchtsame und erschrockene Blick, den sie zu anderen Zeiten um sich warf, mußten ihren Ursprung in einer anderen Quelle haben. Auch konnte Krankheit oder Ermüdung nicht die Art und Weise rechtfertigen, wie sie ihre Lippen zusammenzog oder zusammenpreßte, als ob sie sich anstrengte, etwas Schreckliches zu thun oder anzusehen, sie konnten auch das Zittern nicht erklären, das sie von Zeit zu Zeit anzuwandeln schien, obgleich sie es dann wieder durch eine heftige Anstrengung für Augenblicke zu verdrängen vermochte. Für diesen Wechsel des Ausdrucks mußte im Herzen eine tiefe, traurige und quälende Ursache vorhanden sein. Was war das aber?

Es ist für die Jugend gefährlich, die Schönheit in allem Glanz ihrer Reize zu erblicken, und wenn jeder Blick auf Eroberungen ausgeht – gefährlicher ist es, sie in einer Stunde ungekünstelter und sorgloser Ruhe und Einfachheit zu sehen, wenn sie sich der angenehmen Laune des Augenblicks überläßt und eben so geneigt ist, Gefallen zu finden, als zu erregen. Es gibt Gemüther, die es mehr ergreift, die trauernde Schönheit zu schauen, jenes Mitleid zu fühlen, jenen Wunsch, die Liebliche in ihrem Kummer zu trösten, welches der Dichter, als mit der Liebe so nahe verwandt, beschreibt. Aber auf ein Gemüth von der romantischen und abenteuerlichen Gattung, wie sie das Mittelalter häufig hervorbrachte, machte der Anblick einer jungen und liebenswürdigen Person, die sich augenscheinlich, doch ohne sichtbare Ursache, in einem Zustand von Schreck und Leiden befand, vielleicht noch mehr Eindruck, als die Schönheit in ihrer Pracht, in ihrer Zärtlichkeit oder in ihrem Kummer. Dergleichen Empfindungen, müssen wir bemerken, waren nicht blos auf die höheren Stände beschränkt, sondern fanden sich in allen Klassen der Gesellschaft vor, die sich über den bloßen Bauer oder Handwerker erhoben. Der junge Philipson blickte auf Anna von Geierstein mit solcher gespannten Neugier, mit so viel Mitleid und Zärtlichkeit, daß ihm die lärmende Scene um ihn her vor den Augen zu verschwinden, und in der geräuschvollen Halle Niemand zurückzubleiben schien, als er selbst und der Gegenstand seiner Theilnahme.

Was mochte es sein, was einen so gleichmüthigen Geist, einen so gesetzten Muth so auffallend niederdrückte und quälte, während die Furchtsamste ihres Geschlechts unter dem Schutz der Schwerter der tapfersten Männer vielleicht, die man in Europa finden konnte, und an einem befestigten Orte Vertrauen gefaßt hätte? Gewiß konnte ein etwaiger Angriff auf sie und der Lärm eines Kampfes unter solchen Umständen kaum furchtbarer gewesen sein, als das Getöse der Wasserfälle, die sie Arthur mit Gleichgültigkeit hatte betrachten sehen. Zuletzt dachte er, sie möchte darüber in Sorgen sein, daß Einer da wäre, den Freundschaft und Dankbarkeit verpflichten, sie bis zum Tode zu vertheidigen. »Wollte der Himmel,« fuhr er in seinen Träumereien fort, »es wäre möglich, ihr ohne Zeichen oder Laut die Versicherung zu geben, daß ich unabänderlich entschlossen bin, sie in der größten Gefahr zu schützen!« – Während solche Gedanken ihm durch die Seele zogen, erhob Anna in einem der Anfälle tiefer Gefühlserregung, die sie zu überwältigen schienen, die Augen; und wie sie dieselben furchtsam durch die Halle schweifen ließ, als ob sie unter ihren wohlbekannten Reisegefährten eine ungewöhnliche und unwillkommene Erscheinung zu sehen erwartete, begegnete sie dem starren und ängstlichen Blick des jungen Philipson. Augenblicklich wandte sie dieselben dem Boden zu und eine tiefe Röthe bewies, wie sehr sie sich bewußt war, ihr vorausgegangenes Benehmen habe seine Aufmerksamkeit erregen müssen.

Arthur seinerseits erröthete in demselben Bewußtsein so tief als das Mädchen, und entzog sich ihrer Beobachtung. Als sich aber Anna erhob und von ihrem Oheim in ihr Schlafzimmer begleitet wurde, wie wir bereits erwähnt, schien es Philipson, als hätte sie aus der Halle die Lichter mitgenommen und dieselbe in dem düsteren Halbdunkel einer Gruft zurückgelassen. Diesen Gegenstand verfolgte er in tiefem und ängstlichem Sinnen, als ihm die männliche Stimme Donnerhügels aus nächster Nähe in's Ohr tönte.

»Was, Kamerad, hat Euch unsere heutige Reise so ermüdet, daß Ihr stehend einschlafet?«

»Der Himmel verhüte, Hauptmann,« sagte der Engländer, aus seinen Träumereien aufsehend, und redete Rudolph mit dem Namen an, den ihm die jungen Leute bei dem Zuge einstimmig zuerkannt hatten, – »der Himmel verhüte, daß ich schlafen sollte, wenn etwas wie ein Treffen im Anzug ist.«

»Wo gedenkst du beim Hahnenschrei zu sein?« sagte der Schweizer.

»Da, wo mich die Pflicht hinruft oder Eure Erfahrung, edler Hauptmann, hinstellt,« versetzte Arthur. »Aber, mit Eurer Erlaubniß, ich hatte die Absicht, Siegmunds Posten an der Brücke bis Mitternacht oder Tagesanbruch einzunehmen. Er fühlt noch die Verrenkung, die er sich zuzog, als er der Gemse nachlief und ich habe ihn dazu vermocht, einige ununterbrochene Ruhe, als das beste Mittel zur Wiederherstellung seiner Kraft, zu genießen.«

»Er thut recht daran, wenn er sein Vorhaben zurückhält,« flüsterte Donnerhügel zurück; »der alte Landammann ist nicht der Mann, der Nachsicht mit kleinen Unfällen hat, wenn die Pflicht dabei in's Spiel kommt. Wer unter seinem Befehl steht, muß so wenig Hirn haben als ein Stier, so starke Glieder wie ein Bär, und so unempfindlich gegen die Zufälle des Lebens und die Schwächen der Menschheit sein, als Blei oder Eisen!«

Arthur erwiderte im selben Tone: »Ich war einige Zeit der Gast des Landammanns, und habe keine Proben von solch' strenger Mannszucht gesehen.«

»Ihr seid ein Fremder,« sagte der Schweizer, »und der alte Mann besitzt zu viel Gastfreundlichkeit, um Euch dem geringsten Zwang zu unterwerfen; überdieß seid Ihr ein Freiwilliger, welchen Antheil Ihr auch an unseren Jagdzügen oder kriegerischen Obliegenheiten zu nehmen Lust habt, und wenn ich Euch also bitte, mit mir draußen um den ersten Hahnenschrei spazieren zu gehen, so thue ich das blos für den Fall, daß dieß Euer eigener Wunsch ist.«

»Ich betrachte mich jetzt als unter Eurem Befehl stehend,« sagte Philipson; »aber, um keine weiteren Komplimente zu machen, will ich mich beim Hahnenschrei von meinem Posten bei der Zugbrücke ablösen lassen, und dann wird es mir angenehm sein, denselben mit einem größeren Gang zu vertauschen.«

»Macht Ihr Euch damit nicht mehr Mühe und wahrscheinlich unnöthiges Geschäft, als Euren Kräften angemessen ist?« fragte Rudolph.

»Nicht mehr, als Ihr,« sagte Arthur, »der Ihr Euch bis Morgens keine Ruhe gönnen wollt.«

»Recht,« antwortete Donnerhügel, »aber ich bin ein Schweizer.«

»Und ich,« erwiderte Arthur schnell, »bin ein Engländer.«

»Ich habe das, was ich sagte, nicht so gemeint, wie Ihr es aufnehmet,« sagte Rudolph lachend; »ich meinte blos, ich sei bei diesem Geschäft mehr betheiligt, als Ihr sein könnt, da Ihr der Sache fremd seid, die uns persönlich angeht.«

»Ich bin allerdings ein Fremder,« versetzte Arthur, »aber ein Fremder, der Eure Gastfreundschaft genossen hat und also, so lange er bei Euch ist, einen Antheil an Euren Mühen und Gefahren als ein Recht anspricht.«

»Sei's also,« sagte Rudolph Donnerhügel. »Ich werde meinen ersten Rundgang zu der Stunde beendigt haben, wenn die Schildwachen am Schloß abgelöst werden, und bereit stehen, ihn in Eurer Gesellschaft wieder zu beginnen.«

»Einverstanden,« sagte der Engländer. »Und jetzt will ich auf meinen Posten, denn ich vermuthe, Siegmund schilt schon auf mich, als hätte ich mein Versprechen vergessen.«

Sie eilten mit einander an das Thor, wo Siegmund gerne seine Waffe und Wache dem jungen Philipson übergab. Er bestätigte dadurch die Ansicht, die man von ihm hegte, daß er nämlich der Trägste und Feigste in der Familie Geierstein sei. Rudolph konnte sein Mißvergnügen nicht unterdrücken.

»Was würde der Landammann sagen,« fragte er, »wenn er sähe, wie du so ruhig Posten und Partisane einem Fremden abtrittst?«

»Er würde sagen, ich habe recht gehabt,« antwortete der junge Mann, keineswegs erschrocken; »denn er ermahnt uns immer, den Fremden in Allem seinen eigenen Weg gehen zu lassen; und der Engländer Arthur steht auf der Brücke nach seinem eigenen Wunsch und ohne mein Begehren. – Daher, guter Arthur, da du warmes Stroh und einen gesunden Schlaf gegen kalte Luft und hellen Mondschein wegwerfen willst, heiße ich dich von ganzem Herzen willkommen. Hört, was Euch obliegt. Ihr müßt Alle aufhalten, die hereinkommen oder hereinzukommen versuchen, bis sie das Losungswort geben. Sind es Fremde, so müßt Ihr Lärm machen. Solche von unseren Freunden, die Ihr kennt, dürft Ihr hinausgehen lassen, ohne sie anzuhalten oder Lärm zu machen, weil die Gesandtschaft veranlaßt sein könnte, Boten hinauszuschicken.«

»Du sollst die Viehseuche bekommen, du fauler Schlingel!« sagte Rudolph. »Du bist der einzige Faulenzer in deiner Verwandtschaft.«

»So bin ich der einzige gescheidte Kerl unter ihnen Allen,« sagte der Jüngling. – »Horch', wackerer Hauptmann, du hast zu Nacht gegessen, – nicht wahr?«

»Es ist ein Satz der Klugheit, du Eule,« antwortete der Berner, »nicht nüchtern in den Wald zu gehen.«

»Es ist klug, zu essen, wenn man Hunger hat,« versetzte Siegmund, »und es kann keine Dummheit sein, zu schlafen, wenn man müde ist.« Indem er dieß sagte und zwei- oder dreimal schrecklich gähnte, hinkte die abgelöste Schildwache davon und ließ die Verrenkung, über die er klagte, so deutlich als möglich sehen.

»Und doch ist Kraft in diesen lahmen Gliedern, und Muth in diesem trägen und verschlossenen Geist,« sagte Rudolph zu dem Engländer. »Aber es ist Zeit, daß ich, der ich Andere tadle, an meine eigene Aufgabe gehe. Hierher, ihr Kameraden von der Wache, hierher!«

Der Berner begleitete diese Worte mit einem Pfiff, der sechs junge Leute zu ihm brachte. Er hatte sie vorher zu seinem Geschäft ausgesucht, und sie erwarteten jetzt nach einem eiligen Nachtessen seine Befehle. Einer oder zwei von ihnen hatten große Spürhunde bei sich, die man zwar gewöhnlich zur Verfolgung von Thieren auf der Jagd verwandte, die sich aber auch vorzüglich zur Entdeckung von Hinterhalten eigneten. Zu diesem sollten sie jetzt gebraucht werden. Eins der Thiere wurde an der Koppel durch einen der Leute geführt, der den Vortrab bildete und den Andern etwa zwanzig Schritte vorausging. Ein zweiter war das Eigenthum Donnerhügels, und er hatte das Thier besonders in seiner Gewalt. Drei seiner Begleiter folgten ihm auf den Fersen und die zwei andern in geringer Entfernung. Einer derselben trug das Horn des wilden Berner Stiers, als Jägerhorn. Diese kleine Gruppe überschritt den Graben auf der Nothbrücke und näherte sich dem Saume des Waldes, der an das Schloß grenzte, und der wahrscheinlich einen Hinterhalt verbarg, wenn man einen solchen überhaupt zu fürchten hatte. Der Mond war aufgegangen und fast voll, so daß Arthur von der Anhöhe aus, auf der das Schloß stand, ihren langsamen, vorsichtigen Marsch bei dem hellen Silberlicht verfolgen konnte, bis sie sich in der Tiefe des Gehölzes verloren.

Als dieser Gegenstand seinen Augen keine Beschäftigung mehr gab, kehrten seine Gedanken von der einsamen Wache zu Anna von Geierstein und zu dem sonderbaren Ausdruck von Kummer und Besorgniß zurück, der diesen Abend ihre schönen Züge umwölkt hatte. Und das Erröthen, welches einen Augenblick die Blässe und den Schreck aus ihrem Gesichte vertrieben hatte, als seine Augen den ihrigen begegneten, war das Unwillen, war es Bescheidenheit oder ein Gefühl, sanfter als das erste und zärtlicher als das zweite? Der junge Philipson, der, wie Chaucers Gutsherr, so bescheiden war wie ein Mädchen, zitterte fast, diesem Blicke eine so günstige Deutung zu geben, die ein selbstgefälliger Liebhaber ohne Bedenken für sich in Anspruch genommen haben würde. Keine Farbe der auf- oder untergehenden Sonne kam dem jungen Manne so lieblich vor, als dieses Erröthen, wie es jetzt in seinem Gedächtniß auftauchte; nie fand ein begeisterter Schwärmer, ein poetischer Träumer so wunderliche Gestalten in den Wolken, als Arthur aus den Zeichen von Theilnahme, die, über der Schweizerin schönes Gesicht geflogen, verschiedene Auslegungen herausdeutete.

Unterdessen wurde seine Träumerei plötzlich durch den Gedanken unterbrochen, daß es ihn wenig kümmern konnte, was die Ursache ihrer Verwirrung gewesen war.

Sie hatten sich noch nicht lange zum erstenmal getroffen, – bald mußten sie einander immer verlassen. Sie konnte ihm nichts mehr sein als das Andenken an eine schöne Erscheinung, und er konnte in ihrem Gedächtniß blos den Platz eines Fremden einnehmen, der aus fernem Lande gekommen war und einige Zeit im Hause ihres Oheims verweilt hatte, den sie aber nie wieder zu sehen hoffen durfte. Als dieser Gedanke sich in den Zug romantischer Bilder drängte, die ihm die Seele bewegten, war es wie der heftige Stoß der Harpune, der den Wallfisch aus schlummernder Starrheit zu heftiger Thätigkeit erweckt. Der Thorweg, auf dem der junge Soldat die Wache hielt, erschien ihm plötzlich zu eng. Er lief über die Nothbrücke hin und überschritt hastig einen kleinen Raum vor dem Brückenkopf, auf welchem das äußere Ende der Brücke ruhte.

Hier maß er eine Zeitlang den engen Raum, auf welchen ihn seine Pflicht als Schildwache beschränkte, mit großen und eiligen Schritten, als ob er durch ein Gelübde verpflichtet wäre, sich auf demselben soviel als möglich Bewegung zu machen. Dieß bewirkte indessen, daß sich sein Geist einigermaßen beruhigte; es brachte ihn zu sich selbst und erinnerte ihn an die vielen Gründe, welche ihn abhielten, seine Aufmerksamkeit und noch viel mehr seine Neigung auf die junge Person zu wenden, so bezaubernd sie auch war.

Ich habe, dachte er, als er seinen Schritt mäßigte und seine schwere Partisane schulterte, gewiß Verstand genug übrig, um mir meine Verhältnisse und Obliegenheiten zurückzurufen, – um an meinen Vater zu denken, für den ich Alles in Allem bin, und an die Schande, die mir erwachsen müßte, wenn ich im Stande wäre, die Neigung eines offenherzigen und vertrauensvollen Mädchens zu erwerben, ohne daß ich ihr dagegen mein Leben weihen könnte. »Nein,« sagte er zu sich selbst, »sie wird mich bald vergessen und ich will an sie nur wie an einen lieblichen Traum zu denken suchen, der einen Augenblick die Nacht von Gefahren durchkreuzte, zu der mein Leben bestimmt scheint.«

Hier stand er auf seinem Gange still, lehnte sich auf seine Waffe, und eine unwillkürliche Thräne stieg ihm in's Auge und stahl sich ihm die Wange herunter, ohne daß er sie abwischte. Aber er bekämpfte diese sanftere Art von Leidenschaft, wie er früher gegen die wildere und verzweifeltere gestritten. Er schüttelte die Niedergeschlagenheit und die Muthlosigkeit, die ihn beschlich, ab, nahm wieder die Miene und Stellung einer aufmerksamen Schildwache an, und rief sich die Pflichten der Wache zurück, welche er im Aufruhr seiner Gefühle beinahe vergessen hatte. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er bei einem Blicke auf die beleuchtete Landschaft eine Gestalt von der Brücke gegen den Wald bei hellem Mondschein an ihm vorüber gehen sah, die auf und nieder Anna von Geierstein glich!



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