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Zweites Kapitel.

Fort mit mir! Die Wolken werden dichter.
Jetzt, hieher! lehn' dich an mich! Stell' den Fuß
Daher! nimm diesen Stock und einen Augenblick
Umklammre diese Staude, gib mir deine Hand!

Wir sind in einer halben Stunde bei der Hütte.

Manfred.

Nachdem der junge Reisende das wüste Gemälde besichtigt hatte, so weit dieß der stürmische Zustand der Atmosphäre zuließ, bemerkte er: »In jedem anderen Lande würde ich sagen, das Unwetter lasse nach, aber es wäre voreilig, bestimmen zu wollen, was wir in diesem Lande der Trostlosigkeit zu erwarten haben. Wenn sich der abgefallene Geist des Pilatus wirklich in dem Sturm befindet, so scheint das abnehmende und entferntere Heulen desselben anzudeuten, daß er an den Ort seiner Bestrafung zurückkehrt. Der Fußweg ist mit dem Boden, über welchen er sich hinzog, versunken; ich kann einen Theil davon in dem Abgrund erblicken, wo er sich auf jenen Erd- und Steinmassen wie ein Streifen Thon abzeichnet. Aber mit Eurer Erlaubniß, mein Vater, halte ich für möglich, am Saum des Abgrunds vorwärts zu klettern, bis ich die Wohnung zu Gesicht bekomme, von welcher uns der Knabe spricht. Wenn wirklich eine solche da ist, so muß auch irgendwo ein Zugang zu ihr sein; und wenn ich auch den Weg selbst nicht ausfindig machen kann, so kann ich doch denen, welche in der Nähe des Geiernestes dort wohnen, ein Zeichen machen und eine freundliche Zurechtweisung von ihnen bekommen.«

»Ich kann es nicht gestatten, daß du dich in solche Gefahr stürzest,« sagte der Vater, »laß den Burschen hingehen, wenn er kann und will; er ist ein Bergkind und ich will ihn reichlich belohnen.«

Aber Antonio wies den Vorschlag durchaus und entschieden ab. »Ich bin ein Bergkind,« sagte er, »aber kein Gemsenjäger, und habe keine Flügel, um mich von Klippe zu Klippe zu schwingen, wie ein Rabe – das Leben ist mehr werth, als Gold.«

»Und Gott verhüte,« sagte Signore Philipson, »daß ich dich versuchen sollte, eins gegen das andere abzuwägen. Geh' voran, mein Sohn, ich folge dir.«

»Mit Vergunst, theuerster Herr, nein!« entgegnete der Jüngling; »es ist genug, ein einzig Leben der Gefahr bloßzustellen, und zwar sollte das meine, als das werthlosere, nach allen Regeln der Vernunft, wie der Natur, zuerst auf's Spiel gesetzt werden.«

»Nein, Arthur,« sagte der Vater in entschiedenem Tone, »nein, mein Sohn, ich habe viel erlebt, dich will ich nicht überleben.«

»Ich bin wegen des Ausgangs nicht in Furcht, mein Vater, wenn Ihr mir erlaubt, allein zu gehen, aber ich kann und darf ein so gefährliches Wagniß nicht unternehmen, wenn Ihr darauf besteht, es ohne besseren Beistand, als den meinigen, zu theilen. So oft ich einen neuen Schritt zu machen versuchte, müßte ich immer zurücksehen, ob Ihr die Stelle erreichen würdet, die ich eben verlassen wollte. Und bedenkt, theuerster Vater, wenn ich falle, so fällt ein unbeachteter Gegenstand, so ist das von so wenig Bedeutung, als der Stein oder Baum, der kopfüber vor mir da hinunter gestürzt ist. Aber Ihr, wenn Euer Fuß ausgleiten oder Eure Hand fehlgreifen würde, bedenkt, was und wie viel nothwendigerweise mit Euch untergehen müßte!«

»Du hast recht, Kind,« sagte der Vater, »ich habe noch etwas, was mich an's Leben bindet, selbst wenn ich mit dir Alles verlieren sollte, was mir theuer ist. Die heilige Jungfrau segne und behüte dich, mein Kind. Dein Fuß ist jung, deine Hand ist stark, du hast nicht umsonst den Plynlimmon erstiegen. Sei kühn, aber vorsichtig, erinnere dich an einen Mann, welchen, wenn er dich verliert, nur noch eine Handlung der Pflicht an die Erde fesselt und der seinem Sohn bald folgen wird, wenn sie abgethan ist.«

Der junge Mann rüstete sich nun zu seiner Wanderung; er zog den schweren Mantel aus und zeigte dadurch seine wohlgeformten Glieder in einem grauen Wamms, welches ihm fest auf dem Leibe saß. Des Vaters Entschluß schwankte, als sich der Sohn zu ihm wandte, um Abschied zu nehmen. Er widerrief seine Erlaubniß und untersagte ihm in bestimmtem Tone, fortzugehen. Aber Arthur hatte, ohne auf das Verbot zu hören, sein gefährliches Abenteuer bereits begonnen. Er stieg von der Abplattung, auf welcher er stand, mittelst der Aeste eines alten Eschenbaums herunter, der sich durch eine Spalte im Felsen hervordrängte. Es gelang ihm, obgleich mit großer Gefahr, eine schmale Leiste, den äußersten Rand des Abgrunds zu erreichen. Auf ihr hoffte er so weit fortkriechen zu können, bis er in die Hör- und Sehweite der von dem Führer erwähnten Wohnung gelangt wäre. Seine Lage schien, als er diesen kühnen Plan verfolgte, so unsicher, daß selbst der gemiethete Begleiter kaum Athem zu holen wagte, als er ihm nachblickte. Die Leiste, welche ihn trug, schien, während er auf ihr sich weiter schob, immer schmaler zu werden und ward zuletzt völlig unsichtbar. Arthur wandte sein Gesicht bald gegen die Felsenwand, bald sah er gerade aus, und manchmal gegen den Himmel, aber nie wagte er einen Blick in die Tiefe, damit ihm nicht bei einem so schrecklichen Anblick das Hirn schwindeln möchte. So wand er sich auf seinem Pfade vorwärts. Seinem Vater und dem Diener, welche seinem Weiterschreiten zusahen, erschien er nicht wie ein Mensch, der sich in der gewöhnlichen Weise weiter bewegt, und dabei mit dem festen Boden in Berührung bleibt, sondern wie ein Insekt, das an einer senkrechten Mauer hinkriecht und dessen Fortschreiten wir zwar wahrnehmen, von dem wir aber nicht erkennen, durch welche Mittel es sich hält. Bitter, sehr bitter bejammerte jetzt der unglückliche Vater, daß er nicht auf seinem Vorsatz bestanden, daß er nicht die freilich seiner Absicht entgegenstrebende, ja gefährliche Maßregel ergriffen hatte, und auf dem schon zurückgelegten Weg in die letzte Nachtherberge zurückgekehrt war. Dann hätte er doch wenigstens das Schicksal des Sohnes seiner Liebe getheilt.

Mittlerweile war der junge Mann bei Ausführung seines gefährlichen Unternehmens in heftiger, geistiger Spannung. Er that seiner Einbildungskraft, die gewöhnlich ziemlich lebhaft war, heftigen Zwang an, und ließ sich auch nicht einen Augenblick darauf ein, auf die fürchterlichen Einflüsterungen zu horchen, mit welchen die Phantasie eine wirkliche Gefahr vergrößert. Er strebte mit männlichem Sinn, alles um ihn her auf das Maß des richtigen Verstandes, als auf die beste Stütze wahren Muths, zurückzuführen. »Diese Felsenleiste,« bewies er sich selbst, »ist nur schmal, aber doch breit genug, um mich zu tragen; diese Felsspitzen und Spalten an derselben sind klein und stehen weit auseinander, aber die eine gewährt meinen Füßen einen so sicheren Ruhepunkt, die andere meinen Händen einen eben so guten Halt, als wenn ich auf einer Terrasse von der Breite einer Elle stände, und meine Hände auf ein Marmorgeländer stützte. Meine Sicherheit hängt also blos von mir ab. Wenn ich mich mit Entschlossenheit und festem Schritt bewege, und mich fest halte, was liegt daran, wie nahe ich an der Oeffnung eines Abgrundes stehe?«

Indem er so an seine Gefahr den Maßstab des gesunden Verstandes und der Wirklichkeit legte, und durch einige Uebung in derartigen Bewegungen unterstützt wurde, setzte der wackere Jüngling seinen furchtbaren Weg Schritt für Schritt fort. Er that dieß mit einer Vorsicht, einem Muth und einer Geistesgegenwart, welche ihn allein vor augenblicklicher Vernichtung retten konnte. Zuletzt erreichte er einen Punkt, wo ein hervorragender Fels eine Ecke an dem Abhang bildete, und diesen Winkel hatte er schon von der Felsenterrasse aus sehen können. Dieß also war der entscheidende Punkt seines Unternehmens, aber auch der gefährlichste Punkt desselben. Der Fels hing mehr als sechs Fuß über den Waldstrom hinaus und diesen hörte er in einer Tiefe von hundert Klaftern rasen und ein Geräusch machen, wie unterirdischer Donner. Er untersuchte die Stelle mit der größten Sorgfalt, und wurde durch das Vorhandensein von Stauden, Gras und sogar verkrüppelten Bäumen auf die Vermuthung geführt, daß dieser Fels das äußerste Ende des abgerutschten Felspfades sei, und daß er, wenn es ihm gelänge, um den Winkel herumzukommen, Hoffnung haben dürfe, die Fortsetzung des Pfades zu erreichen, welcher durch eine Naturerschütterung so seltsamerweise unterbrochen worden war. Aber der Fels sprang so weit vor, daß es nicht möglich war, unter ihm durchzukommen oder ihn zu umgehen; und da er sich mehrere Fuß über die Stelle erhob, auf welcher Arthur stand, so war es nicht leicht, ihn zu erklettern. Und doch wählte er dieß Letztere, als den einzigen Ausweg, um das zu überwinden, was, wie er hoffte, das letzte Hinderniß auf seiner Entdeckungsreise sein würde. Ein vorragender Baum machte es ihm möglich, hinaufzusteigen und sich auf die Spitze des Felsens zu schwingen. Kaum hatte er sich aber auf denselben gestellt, kaum hatte er einen Augenblick Zeit gehabt, sich des Anblicks der finstern Ruinen von Geierstein zu erfreuen, die mitten in dem wilden Gemenge von Steinen und Holz sichtbar waren, und in deren Nähe aufsteigender Rauch etwas einer menschlichen Wohnung Aehnliches anzeigte, als er zu seinem größten Schrecken den gewaltigen Felsblock, auf dem er stand, wanken, sich langsam vorwärts bewegen und allmälig aus seinem Lager weichen fühlte. Da er stark überhing und sein Gleichgewicht durch das neuerliche Erdbeben erschüttert worden war, so befand er sich jetzt in einer so unsichern Lage, daß selbst das Gewicht des jungen Mannes ihre weitere Haltbarkeit völlig zu nichte machte.

Aufgeschreckt durch die drohende Gefahr, zog sich Arthur in einem instinktartigen Versuch der Selbsterhaltung vorsichtig von dem fallenden Felsen auf den Baum zurück, an dem er hinaufgestiegen war, und wandte, wie von Zauber gebannt, den Kopf weg, um den Sturz des verderbenschwangeren Felsen zu erwarten, den er so eben verlassen. Dieser wankte zwei bis drei Sekunden, wie wenn er ungewiß wäre, wohin er fallen solle; hätte er die Richtung seitwärts genommen, so hätte er den Abenteurer an seinem Zufluchtsort zerschmettert oder den Baum und ihn kopfüber in den Strom gestürzt. Nach einem Augenblicke furchtbarer Ungewißheit entschied die Gewalt der Schwerkraft für den geraden Fall nach vorwärts. Nieder stürzte der ungeheure Block, der wenigstens zwanzig Schiffslasten wägen mußte, zerriß und zersplitterte auf seinem jähen Wege Bäume und Gebüsche, die er antraf, und blieb zuletzt in dem Flußbett mit einem Krachen sitzen, das dem Losschießen von hundert Stücken Geschütz gleichkam. Das Getöse widerhallte von Berg zu Berg, von Abhang zu Abhang mit gleichem Donnerlaut, und der Lärm hörte nicht auf, bis er sich in die Gegend des ewigen Schnee's erhob. Dieser, unempfindlich gegen irdische Töne und thierischem Leben feind, hörte in seiner majestätischen Einsamkeit das Brausen, ließ es aber ohne einen antwortenden Laut hinsterben.

Welches waren unterdessen die Gedanken des bekümmerten Vaters, der die gewaltige Masse fallen sah, jedoch nicht bemerken konnte, ob sein einziger Sohn den furchtbaren Sturz mitgemacht habe. Seine erste Regung war, längs des Abgrunds hinzulaufen, den er seinen Sohn so eben durchwandern gesehen, und als der Bursche Antonio ihn dadurch zurückhielt, daß er ihn mit den Armen umschlang, wandte er sich gegen den Führer mit der Wuth eines Bären, dem man die Jungen geraubt. »Die Hände weg, elender Bauer!« schrie er, »oder du stirbst auf der Stelle!«

»Ach,« sagte der arme Knabe, und warf sich vor ihm auf die Knie, »ich habe auch einen Vater.«

Diese Berufung drang dem Reisenden an's Herz. Er ließ alsbald den Knaben los, hob seine Hände empor, richtete die Augen gen Himmel und sagte im Tone der tiefsten Seelenangst, doch mit frommer Ergebung: » fiat voluntas tua Dein Wille geschehe.! Es war mein letzter, liebster und meiner Liebe würdigster Sohn, und jetzt erheben sich die Raubvögel über das Thal, um in seinem jungen Blut zu schwelgen. Aber ich will ihn noch einmal sehen,« rief der unglückliche Vater, als der mächtige Aasgeier hinter ihm durch die dicke Luft schwebte; »ich will meinen Arthur noch einmal sehen, ehe ihn Wolf und Adler zerfleischen, ich will Alles sehen, was die Erde noch von ihm besitzt. Halte mich nicht zurück, sondern bleib hier und gib auf mich Acht! Falle ich, wie es wahrscheinlich ist, so trage ich dir auf, die versiegelten Papiere, die du in dem Felleisen finden wirst, zu nehmen und mit so wenig Verzug als möglich der Person zu bringen, an welche sie gerichtet sind. Es ist Geld genug im Beutel, um mich und meinen armen Knaben zu begraben und Messen für unsere Seelen lesen zu lassen. Auch dir wird eine reichliche Belohnung für deine Reise übrig bleiben.«

Der ehrliche Schweizerbube, beschränkten Verstandes zwar, aber gutmüthig und edel von Gemüth, heulte, während sein Brodherr sprach, und zu furchtsam, um fernere Vorstellungen oder Widerstand zu versuchen, sah er zu, wie sich sein dermaliger Gebieter zu dem Gang über den verhängnißvollen Abhang anschickte, an dessen Rande sein unglücklicher Sohn dem Schicksal entgegengegangen zu sein schien, welches sein Erzeuger mit aller Hastigkeit und Angst eines Vaters zu theilen sich beeilte.

Auf einmal hörte man von dem verhängnißvollen Winkel her, aus welchem durch Arthurs rasches Aufsteigen die Steinmasse losgerissen worden war, den rauhen, gellenden Ton eines der großen Hörner, die man von dem Stier oder wilden Schweizerbullen gewinnt, und welche in alten Zeiten nicht nur die Schrecknisse eines Angriffs der Bergbewohner ankündigten, sondern ihnen auch statt aller musikalischen Instrumente dienten.

»Haltet, Herr, haltet!« schrie der Graubündtner, »das ist ein Zeichen von Geierstein her. Es wird uns jetzt Jemand zu Hülfe kommen und uns den sicheren Weg zeigen, um Euren Sohn zu suchen. – Und seht Ihr – bei jenem grünen Busch, der durch den Nebel schimmert, – der heilige Antonius behüte mich, – seh' ich ein weißes Tuch flattern, gerade unter der Stelle, wo der Fels herabfiel.«

Der Vater bemühte sich, seine Augen auf die Stelle zu richten, aber sie waren so voll Thränen, daß er den Gegenstand nicht unterscheiden konnte, auf welchen der Führer hinwies. – »Es ist Alles umsonst,« sagte er und wischte sich die Thränen von den Augen. »Ich werde nichts mehr von ihm sehen, als die leblosen Ueberreste!«

»Ihr werdet, Ihr werdet ihn lebendig sehen,« sagte der Graubündtner. »Der heilige Antonius will es so! – Seht, das weiße Tuch flattert schon wieder!«

»Ein paar Ueberbleibsel von seinem Anzug,« sagte der Vater in Verzweiflung, »irgend ein elendes Denkmal seines Todes. – Nein, meine Augen sehen es nicht – ich habe mit ihnen den Fall meines Hauses erblickt; ich wollte, die Geier dieser Felsen hätten sie mir früher aus den Höhlen gerissen!«

»So seht doch nur,« sagte der Schweizer, »das Tuch hängt nicht schlaff an einem Baumast, – ich kann sehen, daß es am Ende eines Stockes in die Höhe gehalten und absichtlich hin und her geschwenkt wird. Euer Sohn gibt ein Zeichen, daß er unverletzt ist.«

»Und wenn dem so ist,« sagte der Reisende, indem er die Hände faltete, »so seien die Augen gesegnet, die es sehen, die Zunge, die es ausspricht. Wenn wir meinen Sohn finden, und am Leben finden, so soll dieser Tag für dich ein glücklicher sein!«

»Ei,« antwortete der Bursche, »ich verlange blos, daß Ihr da bleibet und mit Klugheit zu Werke gehet, und dann will ich für meine Dienste nichts haben. Es steht einem ehrlichen Burschen nicht an, sich die Leute durch ihren eigenen Eigensinn zu Grunde richten zu lassen; denn der Tadel fällt doch zuletzt sicher auf den Führer, als wenn der verhindern könnte, daß der alte Pontius den Nebel von seiner Stirn schüttelt, oder daß zu Zeiten Erdschichten in's Thal hinabrutschen; als wenn er Schuld wäre, wenn junge, unbesonnene Junker an Abgründen hinwandeln, die so schmal sind, wie eine Messerklinge, oder wenn tolle Leute, welche ihre grauen Haare verständiger machen sollten, den Dolch ziehen, wie ein Bandit in der Lombardei.«

So fuhr der Führer fort und hätte dieselbe Weise noch lange fortsetzen können, denn Signore Philipson hörte ihn nicht. Jeder Pulsschlag, jeder seiner Gedanken war auf den Gegenstand gerichtet, welchen der Bursche als ein Zeichen von der Rettung seines Sohnes bezeichnete. Er überzeugte sich am Ende, daß das Signal wirklich von Menschenhand gemacht wurde, und ebenso erregt durch einen Strahl der wiederauflebenden Hoffnung, als er es vor Kurzem unter dem Einfluß verzweiflungsvollen Kummers gewesen, schickte er sich abermals zu einem Versuch an, seinem Sohne nachzueilen und ihn womöglich bei Aufsuchung eines sichern Zufluchtsorts zu unterstützen. Aber die Bitten und wiederholten Versicherungen seines Führers veranlaßten ihn, zu warten.

»Seid Ihr im Stande,« sagte er, »den Felsen zu betreten? Könnt Ihr Euer Credo und Ave sprechen, ohne ein Wort auszulassen oder zu versetzen? Denn ohne das wäre, wie unsere Greise sagen, Euer Hals in Gefahr und hättet Ihr ein ganz Schock davon. – Ist Euer Auge klar, Euer Fuß fest? Ich denke, das eine fließt über wie eine Quelle, und der andere zittert wie die Esche, die über sie herhängt. Bleibt hier, bis Leute kommen, die weit geschickter sind, Eurem Sohn zu helfen, als Ihr oder ich. Ich schließe aus der Art, wie es geblasen wird, daß dieß das Horn Arnold Biedermanns ist, des Besitzers von Geierstein. Er hat die Gefahr Eures Sohnes bemerkt, und ist in diesem Augenblick für seine und unsere Rettung thätig. Es gibt Fälle, in welchen die Hülfe eines Fremden, der mit der Gegend wohl bekannt ist, mehr Werth hat, als die von drei Brüdern, welche die Felsen nicht kennen.«

»Aber wenn jenes Horn wirklich ein Zeichen gab,« sagte der Reisende, »wie kommt es, daß mein Sohn keine Antwort darauf gab?«

»Und wenn er es that, wie es denn wahrscheinlich ist,« versetzte der Graubündtner, »wie sollten wir ihn gehört haben? Der Stier von Uri selbst würde unter diesem furchtbaren Getöse von Wasser und Unwetter, wie das Rohr eines Hirtenknaben tönen; meint Ihr, da würden wir das Hallo eines Mannes hören?«

»Und doch dünkt mich,« sagte Signore Philipson, »höre ich etwas in diesem Toben der Elemente, was einer Menschenstimme gleicht, aber es ist nicht die Arthurs.«

»Freilich nicht,« antwortete der Graubündtner, »es ist eine Weiberstimme. Die Dirnen sprechen so mit einander von Fels zu Fels durch Sturm und Unwetter, und läge eine Meile zwischen ihnen.«

»Nun, der Himmel sei für diese Sorge und Hülfe gepriesen!« sagte Signore Philipson, »ich glaube, wir werden diesen schrecklichen Tag wohlbehalten zu Ende gehen sehen. Ich will mit einem Hallo antworten.«

Er versuchte dieß, aber da er keine Erfahrung hatte in der Kunst, sich in einem solchen Lande hörbar zu machen, hielt er seine Stimme in gleichem Tone mit dem Rauschen von Wellen und Wind, so daß man schon zwanzig Klafter von der Stelle, auf der er stand, in dem Kampf der Elemente umher durchaus nichts weiter davon unterscheiden konnte. Der Bursche lächelte über die fruchtlosen Versuche seines Herrn, und erhob dann seine eigene Stimme zu einem durchdringenden, schrillen und langanhaltenden Schrei, welcher, ob er gleich mit scheinbar weit weniger Anstrengung hervorgebracht wurde, als der des Engländers, doch deutlich von andern Tönen unterschieden werden konnte, und wahrscheinlich in sehr beträchtlicher Entfernung gehört wurde. Er wurde auch augenblicklich durch entferntes Rufen von der nämlichen Art beantwortet, welches allmälig der Terrasse näher kam und dem angstvollen Reisenden neue Hoffnung brachte. Wenn der Jammer des Vaters seine Lage zu einem Gegenstand innigen Mitleids machte, so war die des Sohnes im selben Augenblick gefährlich genug. Wir haben bereits angeführt, daß Arthur Philipson seinen unsicheren Weg längs des Abgrunds mit aller der Kaltblütigkeit, Entschlossenheit und unerschütterlichen Standhaftigkeit des Geistes begonnen hatte, welche eine Aufgabe, bei der Alles auf Festigkeit der Nerven ankam, wesentlich nothwendig machte. Aber das Ereigniß, welches sein weiteres Fortschreiten hemmte, war so gräßlich, daß es ihn alle Bitterkeit des Todes durchfühlen machte, der gegenwärtig, entsetzlich und unvermeidlich schien. Der feste Felsen hatte gezittert und sich unter seinen Füßen gespalten. Und ob er gleich durch eine mehr mechanische als willkürliche Anstrengung der drohenden Vernichtung entgangen war, welche den Fall begleitet hatte, so fühlte er doch, daß der bessere Theil von ihm, die Festigkeit des Geistes und die Stärke des Körpers davon gegangen waren, als der Felsblock mit donnerndem Tosen, unter Wolken von Staub und Rauch, in den Strudel und Wirbel des aufgeregten Schlundes unter ihm hinabstürzte. In der That, der Seemann, der vom Deck eines zertrümmerten Fahrzeugs weggespült, von den Wellen durchnäßt und gegen die Felsen des Ufers geschleudert wird, unterscheidet sich eben so wenig von demselben Seemann, wie er beim Beginn eines starken Windes auf dem Deck seines Lieblingsschiffes stand, stolz auf die Stärke desselben und auf die eigene Geschicklichkeit, als Arthur im Beginn seiner Wanderung von dem Arthur, der jetzt sich an den schwachen Stamm eines alten Baumes klammerte. Auf diesem hing er zwischen Himmel und Erde, sah dem Fall des Felsens zu und wäre ihm beinahe gefolgt. Die Wirkung des Schreckens ging sowohl auf den Körper, als auf die Seele; denn tausend Farben schwammen vor seinen Augen, er wurde von einem Fieberschwindel erfaßt, und keines seiner Glieder leistete ihm auf einmal mehr den Dienst, obgleich sie ihm bisher in so ausgezeichneter Weile gehorcht hatten; seine Arme und Hände umfaßten jetzt, als ständen sie nicht mehr unter seiner Willkür, die Aeste des Baumes mit krampfhafter Beharrlichkeit. Er schien keine Gewalt mehr über sie zu haben, und zitterte in einem Zustand so vollständiger Nervenerschlaffung, daß er fürchtete, er möchte sich nicht länger in seiner Lage erhalten können.

Ein an sich unbedeutender Vorfall erhöhte noch die Beklemmung, welche ihm das Schwinden seiner Kräfte verursachte. Alle lebenden Wesen in der Nähe waren natürlicher Weise durch den grausigen Fall erschreckt worden, zu welchem seine Wanderung Veranlassung gegeben. Schaaren von Eulen, Fledermäusen und anderen Nachtvögeln waren genöthigt gewesen, ihre Zuflucht in die Lüfte zu nehmen, und hatten keine Zeit verloren, in ihre Epheunester oder in die Zufluchtsörter zurückzukehren, welche ihnen die Ritzen und Löcher in den nahen Felsen darboten. Einer aus dieser Unheil weissagenden Schaar war zufällig ein Lämmer- oder Alpengeier. Dieser Vogel ist größer und raubgieriger als der Adler selbst, und Arthur war nicht daran gewöhnt, ihn zu sehen oder doch nicht ihn in solcher Nähe zu erblicken. Wie es im Instinkt der meisten Raubvögel liegt, so ist es auch die Art des Thieres, daß es einen unzugänglichen und sichern Ort einnimmt, wenn es vollgefressen ist, und da still und bewegungslos Tage lang sitzen bleibt, bis das Verdauungsgeschäft vollendet ist und mit dem Drang des Hungers seine Thätigkeit zurückkehrt. Von einem solchen Ruheplatz vertrieben, hatte sich einer dieser schrecklichen Vögel aus der Kluft erhoben, die nach ihm benannt ist, war gegen seinen Willen mit schrecklichem Geschrei und schlaffen Flügeln im Kreise herumgeflogen, und hatte sich auf die Spitze eines Felsen, kaum vier Klafter von dem Baum entfernt, niedergelassen, auf welchem Arthur seinen schwankenden Sitz hatte. Obgleich einigermaßen abgestumpft durch die lange Unthätigkeit, schien er doch den Jüngling wegen seiner bewegungslosen Haltung für todt oder dem Tode nahe zu halten. Er setzte sich bei ihm nieder und blickte ihn an ohne die Furcht an den Tag zu legen, in welcher die Nähe des Menschen gewöhnlich die wildesten Thiere erhält.

Als Arthur die lähmende Wirkung dieses panischen Schreckens abzuschütteln versuchte und die Augen erhob, um allmälig und mit Vorsicht sich umzusehen, begegnete er den Blicken des gefräßigen und abscheulichen Thieres, das sich durch einen von Federn entblößten Kopf und Hals, durch schwarzgelb eingefaßte Augäpfel, und eine mehr horizontale als aufrechte Stellung eben so sehr von der edleren Haltung und den schönen Verhältnissen des Adlers unterscheidet, als der Löwe durch sein Aeußeres in der Reihe der Geschöpfe über dem hageren, gefräßigen, gräßlichen und doch feigen Wolf steht.

Wie durch Zauber gebannt blieben die Augen des jungen Philipson auf diesem häßlichen Unglücksvogel haften, ohne daß er sie abzuziehen vermochte. Die Furcht vor Gefahren, wirklichen sowohl als eingebildeten, lastete auf seinem durch seine Lage beklommenen und entmuthigten Geist. Die Nähe eines Geschöpfes, das dem Menschen eben so verhaßt ist, als es selbst die Berührung mit ihm scheut, erschien ihm von eben so ungünstiger Vorbedeutung, als ungewöhnlich. Was blickte es ihn mit so starrem Ernst an, was reckte es seine widerliche Gestalt, als wenn es über ihn herfallen wollte? War dieser garstige Vogel der böse Geist des Orts, auf den sich sein Name bezog? Und war er jetzt gekommen, sich daran zu weiden, daß ein in seine Klüfte Eingedrungener sich in den Gefahren derselben verwickelt hatte, und wenig Aussicht und Hoffnung auf Erlösung besaß? Oder war dieser Felsen seine Heimath, und sah seine Klugheit voraus, daß der tollkühne Wanderer bestimmt war, bald sein Opfer zu werden? Konnte das Geschöpf, dessen Sinne, wie man sagt, so scharf sind, aus gewissen Umständen auf den nahen Tod des Fremden schließen, oder wartete er, wie der Rabe oder die Aaskrähe bei einem sterbenden Schaf, auf die beste Gelegenheit, sein räuberisches Mahl zu beginnen? War er bestimmt, seinen Schnabel und seine Klauen zu fühlen, ehe sein Herzblut zu schlagen aufhörte? Hatte er schon die Menschenwürde verloren, erweckte er nicht mehr die Ehrfurcht, welche ein nach dem Bilde seines Schöpfers geschaffenes Wesen allen niedrigeren Creaturen einflößt?

So peinliche Vorstellungen dienten mehr als alle Eingebungen des Verstandes dazu, die Spannkraft in des jungen Mannes Geist wieder einigermaßen zu beleben. Er schwang sein Taschentuch, ging aber bei seinen Bewegungen mit der größten Vorsicht zu Werke, und so gelang es ihm, den Geier aus seiner Nähe zu verscheuchen. Er erhob sich unter rauhem und traurigem Geschrei von seinem Sitz und flog mit ausgespannten Flügeln davon, um einen Ruheplatz zu suchen, der weniger Störungen ausgesetzt wäre. Der kühne Reisende fühlte ein lebhaftes Vergnügen darüber, daß er von seiner widerlichen Gegenwart befreit war.

Mit mehr Besonnenheit bemühte sich nun der junge Mann, der von seinem Standpunkt aus einen theilweisen Ueberblick über die Abplattung hatte, die er verlassen, seinem Vater von seinem Wohlbefinden Nachricht zu geben, und ließ zu diesem Ende, so hoch er konnte, die Fahne wehen, mit welcher er den Geier verjagt hatte. Auch er hörte, aber in geringer Entfernung, den Schall des großen Schweizerhorns, welches nahe Hülfe ankündigte. Er antwortete durch Rufen und Schwenken der Flagge, um den Beistand auf die Stelle hinzulenken, an welcher er so sehr ersehnt wurde. Er sammelte seine Kräfte, welche ihn fast ganz verlassen hatten, und suchte neue Hoffnung und mit ihr die Mittel zu neuen Anstrengungen zu gewinnen.

Als guter Katholik empfahl er sich in eifrigem Gebet Unserer lieben Frau von Einsiedeln, that Bußgelübde und flehte sie an, zu vermitteln, daß er aus seiner fürchterlichen Lage befreit werden möchte. »O gnädige Mutter,« so schloß er sein Gebet, »wenn es mein Schicksal ist, gleich einem gejagten Fuchs in der rauhen Wildniß wankender Felsen mein Leben zu enden, so gib mir wenigstens die angeborne Geduld und Herzhaftigkeit zurück, und laß Einen, der wie ein Mann, wenn gleich wie ein sündiger Mann, gelebt hat, nicht den Tod eines furchtsamen Hasen sterben!«

Als er sich so in Andacht der Schutzheiligen empfohlen, von welcher die Legenden der katholischen Kirche ein so liebliches Bild entwerfen, wandte Arthur seine Gedanken und seine Aufmerksamkeit auf Mittel zu seiner Rettung, obgleich ihm noch jeder Nerv von der letzten Anstrengung erzitterte und sein Herz so gewaltig pochte, daß es ihn zu ersticken drohte. Aber als er sich rund umsah, wurde es ihm mehr und mehr fühlbar, wie geschwächt er durch die Anfälle auf seinen Körper und die innere Marter war, die er während seiner letzten Gefahr ausgestanden. Mit aller Anstrengung, deren er fähig war, vermochte er nicht, seine verwirrten und schwindelnden Augen auf den Gegenständen um ihn her festzuhalten. Alles schien ihm durch einander zu rollen, bis die Landschaft um ihn her tanzte, und ein buntes Gemenge von Gebüsch und hohen Klippen, welche zwischen ihm und dem baufälligen Schloß Geierstein lagen, in solchem Wirbel sich wälzte und mischte, daß nichts als das Bewußtsein, ein solcher Gedanke werde ihm von theilweisem Wahnsinn zugeflüstert, ihn davon abhielt, sich von dem Baum herunterzulassen und sich in den wilden Reigen zu mischen, dem sein erhitzter Kopf die Entstehung gegeben hatte.

»Der Himmel sei mein Schutz!« seufzte der unglückliche Jüngling und schloß in der Hoffnung die Augen, er werde seine allzu thätige Einbildungskraft zur Ruhe bringen, wenn er sich von den Schrecknissen seiner Lage abwende, »die Sinne verlassen mich!«

Er überzeugte sich noch mehr davon, daß dies der Fall, als eine weibliche Stimme in sehr hohem, aber außerordentlich wohlklingendem Tone in geringer Entfernung sich hören ließ, wie wenn sie ihm zuriefe. Er öffnete abermals die Augen, erhob den Kopf und blickte vorwärts auf die Stelle, von wo die Töne auszugehen schienen, wenn er gleich nicht gewiß wußte, ob sie etwas Wirkliches oder bloß von seiner zerrütteten Einbildungskraft erzeugt wären. Die Erscheinung, welche er nun sah, hätte beinahe die Meinung in ihm befestigt, daß sein Geist wirklich leide und seine Sinne nicht im Stande seien, ihm ordentliche Dienste zu leisten.

Gerade auf dem Gipfel eines pyramidenförmigen Felsens, der sich aus des Thales Tiefe erhob, zeigte sich eine Frauengestalt, doch so von Nebel umhüllt, daß man blos die Umrisse verfolgen konnte. Die Gestalt trug eher die unbestimmten Züge eines Geistes als einer sterblichen Jungfrau; denn ihre Person erschien so leicht und kaum weniger schattenhaft, als die dünne Wolke, welche ihr Fußgestell umgab. Arthur glaubte zuerst, die heilige Jungfrau hätte sein Gelübde gehört, und sei selbst zu seiner Rettung herniedergestiegen. Eben wollte er sein Ave Maria hersagen, als abermals der sonderbare schrille Bergruf zu ihm drang, mittelst dessen die Alpenbewohner von einem Bergrücken zum andern, und über Klüfte von großer Tiefe und Breite sich unterhalten können.

Während er überlegte, wie er die unerwartete Erscheinung anreden sollte, verschwand sie von dem Punkt, den sie zuerst eingenommen, und wurde gleich darauf wieder über dem Felsen sichtbar, aus welchem der Baum hervorragte, der Arthur zum Zufluchtsort diente. Ihr persönliches Aussehen sowohl als ihre Kleidung machte jetzt deutlich, daß sie eine Dirne aus diesen Bergen und mit ihren gefährlichen Pfaden vertraut war. Er sah, daß ein schönes, junges Mädchen vor ihm stand, welches ihn mit einer Mischung von Mitleid und Verwunderung betrachtete.

»Fremdling,« sagte sie endlich, »wer seid Ihr und woher kommt Ihr?«

»Ich bin ein Fremdling, Mädchen, wie Ihr mich richtig bezeichnet,« antwortete der Jüngling, indem er sich, so gut er konnte, aufrichtete. »Ich verließ diesen Morgen Luzern mit meinem Vater und einem Führer, und bin nicht drei Ackerlängen von da von ihnen weggegangen. Möchtet Ihr, freundliches Mädchen, ihm kund thun, daß ich wohl auf bin? Denn ich weiß, mein Vater wird meinetwegen in Verzweiflung sein.«

»Gern,« sagte das Mädchen, »aber ich denke, mein Oheim oder einer meiner Vettern wird sich schon gefunden haben und ihnen ein treuer Führer gewesen sein. Kann ich Euch etwas helfen? Seid Ihr verwundet, verletzt? Wir wurden durch den Fall eines Felsens aufgeschreckt. Da unten liegt er, eine Masse von ungewöhnlicher Größe.«

Während das Schweizermädchen so sprach, trat sie dem Rand des Abhanges so nahe und blickte mit solcher Gleichgültigkeit in den Abgrund, daß die Mitleidenschaft, welche bei solchen Gelegenheiten den Spieler und Zuschauer verknüpft, die Schwäche und den Schwindel zurückbrachte, wovon Arthur so eben zu sich gekommen war. Er sank in seine frühere, mehr liegende Stellung zurück und stieß einen leisen Seufzer aus.

»Seid Ihr denn krank?« fragte das Mädchen, die sein Blaßwerden bemerkte. »Wo und was für Schaden habt Ihr genommen?«

»Keinen, freundliches Mädchen, außer ein paar Beulen von wenig Belang, aber ich habe Schwindel und kriege Herzklopfen, wenn ich Euch so nahe an der Klippe sehe.«

»Ist das Alles?« entgegnete das Schweizermädchen. »Wisset, Fremdling, daß ich am Herde meines Oheims nicht sicherer stehe, als ich an Abgründen gestanden habe, mit denen verglichen dies hier ein Kindersprung ist. Und Ihr, Fremdling, seid, nach den Fußspuren zu urtheilen, am Rand des Abhanges hergekommen, welchen der Erdsturz bloßgelegt hat, und müßt über solche Schwäche hinaus sein, da Ihr Euch gewiß einen Felsenjäger nennen könnt.«

»Ich hätte mich selbst vor einer halben Stunde so genannt,« antwortete Arthur, »aber ich denke, ich werde mir künftighin schwerlich diesen Namen anzumaßen wagen.«

»Seid nicht niedergeschlagen,« sagte seine freundliche Trösterin, »wegen einer vorübergehenden Aengstlichkeit, welche zu Zeiten den Geist umwölkt, und das Auge des Wackersten und Erfahrensten blendet. Steigt auf den Stamm des Baumes und rückt näher zu dem Felsen, aus dem er herauswächst. Betrachtet die Stelle genau! Es ist leicht für Euch, wenn Ihr den untern Theil des vorspringenden Stammes erreicht habt, mit einem kecken Schritt den festen Felsen zu gewinnen, auf dem ich stehe; und dann ist die Gefahr oder Schwierigkeit nicht mehr der Rede werth für einen jungen Mann, der ganze Glieder und rüstigen Muth hat.«

»Meine Glieder sind freilich gesund,« erwiderte der Jüngling, »aber ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie sehr mein Muth geschwächt ist. Doch will ich den Antheil, den Ihr an einem unglücklichen Wanderer genommen, nicht verscherzen und länger auf die feigen Einflüsterungen eines Gefühls horchen, welches bis auf diesen Tag meiner Brust fremd geblieben ist.«

Das Mädchen blickte ängstlich und mit vielem Antheil auf ihn, als er sich vorsichtig erhob und an dem Baumstamm weiter rutschte, der beinahe in horizontaler Richtung mit dem Felsen lag und sich zu biegen schien, so wie der Jüngling seine Stellung änderte. Endlich stand er aufrecht und war nur so weit von der Klippe entfernt, auf welcher die Schweizerin stand, als auf ebenem Boden ein starker Schritt zurückgelegt hätte. Aber statt eines Schrittes auf festem und ebenem Boden, war es einer, bei dem er einen finstern Abgrund überschreiten mußte, in dessen Tiefe ein Waldstrom mit unglaublicher Wuth brauste und kochte. Arthurs Kniee schlotterten, seine Füße wurden wie Blei und schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen. Er erfuhr in stärkerem Grade als zuvor den entnervenden Einfluß, welchen Einer, der von ihm in gleich gefährlicher Lage überwältigt worden ist, nie vergessen kann, und welchen Andere, denen glücklicherweise seine Macht fremd geblieben ist, nur zu begreifen Mühe haben dürften.

Das Mädchen bemerkte Arthurs Erregung und sah deren wahrscheinliche Folgen voraus. Um auf die einzige Art, welche in ihrer Gewalt stand, sein Selbstvertrauen wieder herzustellen, sprang sie leicht von dem Felsen auf den Baumstamm, und ließ sich mit der Leichtigkeit und Ruhe eines Vogels darauf nieder; dann sprang sie im Augenblick wieder auf den Felsen, streckte ihre Hand gegen den Fremden aus und sagte: »Mein Arm ist nur eine schwache Lehne, aber tretet entschlossen vorwärts und Ihr sollt ihn so sicher finden, als die Mauerzinnen von Bern.« Jetzt überwand die Scham so sehr die Furcht, daß Arthur ihren Beistand ablehnte, weil er ihn nicht hätte annehmen können, ohne sich in seinen eigenen Augen erniedrigt zu fühlen. Er faßte sich ein Herz und vollführte glücklich den furchtbaren Sprung, der ihn auf dieselbe Klippe mit seiner freundlichen Helferin brachte.

Des Jünglings erste Handlung war natürlich, daß er ihre Hand ergriff und an seine Lippen führte. Auch wäre es dem Mädchen nicht möglich gewesen, ihn daran zu verhindern, wollte sie nicht eine ihrem Wesen fremde Sprödigkeit annehmen und einen Zwist der Höflichkeit über einen unbedeutenden Gegenstand auf einem Felsen veranlassen, der kaum fünf Fuß lang und drei breit war, und von dem aus man auf einen hundert Fuß unter ihm hinbrausenden Waldstrom hinabsah.



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