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Erstes Kapitel

Die Nebel wallen um die Gletscher und die Wolken
Erbeben schnell sich unter mir in Wellen, weiß
Und schwefelig, wie Schaum aus dem erregten Meer.
– – – Mir schwindelt.

Manfred.

Vier Jahrhunderte sind fast verflossen, seitdem die Ereignisse, welche in den folgenden Kapiteln erzählt werden, auf dem festen Lande stattgefunden haben. Die Urkunden, welche die Umrisse zu der Erzählung enthielten, und auf welche man als auf Beweise für die Wahrheit derselben sich beziehen könnte, wurden lange in der prächtigen Bibliothek des Klosters zu St. Gallen aufbewahrt, gingen aber mit vielen der literarischen Schätze dieser Anstalt zu Grunde, als das Kloster von den französischen Revolutionsarmeen geplündert wurde. Die Begebenheiten werden durch geschichtliche Zeitangaben in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts gesetzt, jene wichtige Periode, in welcher das Ritterthum noch seine untergehenden Strahlen warf. Bald darnach gerieth es in völlige Dunkelheit, in einigen Gegenden durch die Einführung freier Gesetze, in andern durch die Befestigung der willkürlichen Gewalt. Diese beiden machten gleich sehr die Vermittelung von Leuten unnütz, die nach einer von ihnen selbst ausgegangenen Bestallung das Unrecht ausglichen, und deren einziger Anspruch auf Berechtigung dazu in ihrem Schwerte lag.

Durch das allgemeine Licht, welches neuerlich Europa beschienen, waren Frankreich, Burgund und Italien, besonders aber Oesterreich mit dem Charakter eines Volkes vertraut geworden, von dessen Dasein sie vorher kaum etwas gewußt hatten. Zwar war es den Bewohnern der Länder, welche in der Nähe der Alpen, dieses ungeheuern Bollwerks, liegen, nicht unbekannt geblieben, daß die abgeschlossenen Thäler, die sich durch die riesenmäßigen Gebirge hinwanden, trotz ihres rauhen und wüsten Aussehens ein Jäger- und Hirtengeschlecht nährten, Männer, die in einem Zustand ursprünglicher Einfachheit lebten, dem Boden mit harter Arbeit ihren Unterhalt abzwangen, die Jagd über die wildesten Abgründe und durch die dichtesten Fichtenwälder verfolgten, oder ihr Vieh an Stellen trieben, die ihm eine kärgliche Weide gewährten, selbst in die Nähe des ewigen Schnees. Aber das Vorhandensein eines solchen Volkes oder vielmehr einer Anzahl kleiner Gemeinschaften, welche nahezu dieselbe armselige und harte Lebensweise führten, war den reichen und mächtigen Fürsten in der Nachbarschaft eben so unwichtig erschienen, als es den stattlichen Heerden, welche auf fruchtbarem Wiesengrund weiden, gleichgültig ist, daß ein paar halb verhungerte Ziegen ihr spärliches Futter zwischen den Felsen finden, welche ihr eigenes reiches Gebiet weit überragen.

Aber die Verwunderung und Aufmerksamkeit begann sich auf diese Bergbewohner zu lenken, als um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts sich die Nachricht von ernsthaften Streitigkeiten verbreitete, in welchen die deutsche Ritterschaft bei ihrem Bestreben, Aufstände unter ihren Lehensleuten in den Alpen zu unterdrücken, wiederholte und blutige Niederlagen erlitten hatte, obgleich Ueberzahl und Mannszucht auf ihrer Seite war, und die beste kriegerische Ausrüstung, die man damals kannte. Man wunderte sich sehr, daß die Reiterei, welche den einzig wirksamen Theil der Feudalheere in diesen Zeiten ausmachte, von Fußvolk geschlagen worden sein sollte, daß ganz in Stahl gehüllte Krieger von bloßen Bauern überwältigt wurden, die keine schützende Rüstung trugen, und unordentlich mit Piken, Hellebarden und Knütteln für den Angriff versehen waren; es erschien vor Allem als eine Art von Wunder, daß Ritter und Edle von der höchsten Geburt durch Bergbewohner besiegt wurden. Aber die wiederholten Siege der Schweizer bei Laupen, Sempach und bei anderen weniger merkwürdigen Gelegenheiten zeigten deutlich, daß neue Grundlagen der bürgerlichen Einrichtung sowohl als des kriegerischen Verfahrens in den Sturmregionen Helvetiens entstanden waren.

Obgleich jedoch durch die entscheidenden Siege, welche den Schweizer-Kantonen ihre Freiheit verschafft, und durch den entschlossenen und weisen Geist, mit dem sich die Mitglieder der kleinen Verbindung gegen die äußersten Anstrengungen Oesterreichs behauptet hatten, der Ruhm derselben sich rings durch alle benachbarten Länder verbreitete, und obwohl sie selbst sich der Würde und wirklichen Macht bewußt waren, welche wiederholte Siege ihnen und ihrem Lande erworben, bewahrten die Schweizer doch bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts und noch länger größtentheils die Weisheit, Mäßigkeit und Einfalt ihrer alten Sitten. Die, welche mit dem Befehl über die Truppen der Republik in der Schlacht betraut waren, ergriffen gewöhnlich wieder den Hirtenstab, wenn sie den des Heerführers niedergelegt hatten, und kehrten gleich den römischen Diktatoren zu völliger Gleichheit mit ihren Mitbürgern von der Höhe der militärischen Gewalt zurück, auf welche sie ihre Talente und der Ruf ihres Landes erhoben hatten. Unsere Erzählung eröffnet sich in den Wald-Kantonen der Schweiz, im Herbst 1474, und während diese Gegenden sich noch in dem rohen und einfachen Zustande befanden, den wir beschrieben.


Zwei Reisende, der Eine weit über die Blüthe des Lebens hinaus, der Andere etwa zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt, hatten in der kleinen Stadt Luzern übernachtet, die der Hauptort des gleichnamigen Schweizerstaats ist, und in schöner Gegend am Vierwaldstätter See liegt. Ihre Kleidung und ihr Stand schienen die von Kaufleuten aus den höheren Klassen; und während sie selber zu Fuß gingen, weil die Gegend diese Art zu reisen zur bei weitem leichtesten machte, folgte ihnen ein junger Bauernbursche von der italienischen Seite der Alpen mit einem Maulthier, das augenscheinlich mit der Männer Waaren und Gepäck belastet war, und auf das er sich zuweilen setzte, das er aber noch häufiger am Zügel führte.

Die Reisenden waren ungewöhnlich fein aussehende Leute, und schienen durch sehr nahe Verwandtschaft verbunden. Wahrscheinlich war es Vater und Sohn, denn in dem kleinen Wirthshaus, wo sie vergangenen Abend eingekehrt, war die große Ehrerbietung und Achtung, welche der Jüngere dem Aelteren erwies, den Eingebornen nicht entgangen. Diese waren wie andere abgesondert lebende Wesen um so neugieriger, je beschränktere Mittel sie besaßen, etwas zu erfahren. Sie bemerkten auch, daß die Kaufleute unter dem Vorgeben von Eile es ablehnten, ihre Ballen zu öffnen oder mit den Luzernern in einen Handel sich einzulassen, und als Entschuldigung dafür anführten, sie hätten keine für den Markt passende Gegenstände. Die Frauenzimmer in der Stadt waren am meisten beleidigt durch die Zurückhaltung der reisenden Kaufleute, weil solche zu verstehen gaben, die Waaren, mit denen sie handelten, seien zu kostbar, um bei den helvetischen Bergbewohnern Abnehmer zu finden. Es hatte durch ihren Diener verlautet, die Fremden haben Venedig besucht, und dort viele Ankäufe von reichen Gegenständen gemacht, welche aus Indien und Aegypten nach diesem berühmten Handelsplatz, dem gewöhnlichen Markt des Abendlandes, gebracht, und von da in alle Gegenden Europa's verbreitet wurden. Nun hatten die Schweizermädchen kürzlich die Entdeckung gemacht, daß Putzsachen und Edelsteine lieblich anzuschauen seien, und wenn sie auch keine Hoffnung hatten, solchen Schmuck selbst sich verschaffen zu können, so fühlten sie doch das natürliche Verlangen, die reichen Vorräthe der Kaufleute zu besehen und zu betasten, und einiges Mißvergnügen darüber, daß sie daran verhindert waren.

Man nahm auch wahr, daß die Reisenden, obwohl artig genug in ihrem Betragen, doch nicht die eifrige Bemühung zu gefallen zeigten, welche die reisenden Hausirer und die Kaufleute aus der Lombardei oder Savoyen an den Tag legten, von denen die Bewohner der Gebirge dann und wann besucht wurden, und die in den letzten Jahren häufigere Rundgänge machten, seitdem die Siegesbeute dem Schweizer einigen Reichthum verschafft, und Manchen von ihnen neue Bedürfnisse kennen gelehrt hatte. Diese herumziehenden Händler waren höflich und zuvorkommend, wie es ihr Gewerbe erforderte, aber die neuen Besucher schienen gleichgültig gegen den Handel oder wenigstens gegen so kärglichen Gewinn, als im Schweizerlande gemacht werden konnte.

Die Neugier wurde ferner durch den Umstand erregt, daß die Letzteren in einer Sprache mit einander redeten, die sicher weder deutsch noch italienisch oder französisch war. In Bezug auf diese stellte jedoch ein alter Mann, der in der Herberge diente, und einmal in Paris gewesen war, die Vermuthung auf, es möchten das Engländer sein, von denen man in diesen Bergen bloß wußte, sie seien ein wildes Inselvolk, das mit den Franzosen lange Zeit Krieg geführt habe. Vor langen Jahren sei eine bedeutende Anzahl derselben in die Waldkantone eingebrochen, und habe im Rußwyler Thal eine Niederlage erlitten. Dessen erinnerten sich die grauhaarigen Männer von Luzern, denen die Erzählung davon durch ihre Väter überliefert worden war.

Der Bursche, welcher die Fremden begleitete, war, wie man sich bald vergewisserte, ein Jüngling aus dem Bündtnerland, und machte ihren Führer, so weit es seine Gebirgskenntniß zuließ. Er sagte, sie haben im Sinne, nach Basel zu gehen, es scheine aber, sie wünschen auf abgelegenen und wenig besuchten Straßen zu reisen. Die eben erwähnten Umstände verstärkten den allgemeinen Wunsch, mehr von den Reisenden und ihrer Waare zu erfahren. Indessen wurde nicht ein einziger Ballen aufgemacht, die Reisenden verließen Luzern am nächsten Morgen, nahmen ihre mühsame Reise wieder auf, und zogen durch die friedlichen Kantone der Schweiz auf Umwegen und schlechten Straßen, um den Erpressungen und Gewaltthätigkeiten der deutschen Raubritter zu entgehen, welche, wie manche Fürsten, nach eigenem Gelüste Krieg führten, und mit allem Uebermuth kleiner Tyrannen Zölle und Abgaben von Jedem erhoben, der auf eine Meile weit ihr Gebiet durchzog.

Mehrere Stunden nach ihrem Aufbruch aus Luzern wanderten unsere Reisenden sonder Unfall weiter. Die Straße, wenn gleich abschüssig und schwer zu begehen, ward anziehend durch die herrlichen Naturerscheinungen, welche kein Land in so staunenswürdiger Weise darbietet, als die Schweizergebirge. Da mischt sich die Felsschlucht, das grüne Thal, der breite See und der rauschende Gießbach, die anderen Höhen so gut als diesen zukommen, mit den prächtigen und furchtbaren Schrecknissen der Gletscher, die der Schweiz eigenthümlich sind.

Es war damals keine Zeit, in welcher die Schönheit oder Großartigkeit einer Landschaft viel Eindruck auf die Gemüther Derjenigen machte, die das Land durchreisten oder bewohnten. Den Letzteren waren diese Gegenstände, obgleich sie gewürdigt wurden, vertraut und mit den täglichen Gewohnheiten und Mühsalen vergesellschaftet, und die Ersteren sahen vielleicht mehr Furchtbares als Schönes in der wilden Gegend, durch welche sie zogen; sie waren eher besorgt, wohlbehalten in ihre Nachtquartiere zu kommen, als Betrachtungen über die erhabenen Naturscenen anzustellen, die zwischen ihnen und ihrem Rastorte lagen. Dennoch konnten sich unsere Kaufleute bei Fortsetzung ihrer Reise nicht dem mächtigen Eindruck des eigenthümlichen Naturgemäldes um sie her entziehen. Ihre Straße lag zur Seite des Sees hin; bald war sie eben und hart am Ufer des Letzteren, bald stieg sie am Berg zu beträchtlicher Höhe, und wand sich am Rande von Abgründen hin, die so schroff und steil in's Wasser sich hinabsenkten, als die Mauer eines Schlosses in den Graben hinabsteigt, der sie vertheidigt. Ein Andermal zog sie durch Strecken von milderem Charakter, über reizende, grüne Anhöhen, und durch tiefe, heimliche Thäler mit Weideplätzen und Ackerland. Diese wurden manchmal durch kleine Waldbäche bewässert, die sich an Dörfchen mit hölzernen Hütten, ihrem wunderlich aussehenden Kirchlein und Thurme vorüberwanden, und sich um Obstgärten und Rebenhügel schlängelten, bis sie unter sanftem Murmeln und in ruhigem Dahinfließen ihren Weg in den See fanden.

»Arthur,« sagte der ältere Reisende, als Beide wie auf Verabredung stillstanden, um eine Landschaft, wie die eben beschriebene, zu betrachten, »dieser Bach gleicht dem Leben eines guten und glücklichen Menschen.«

»Und der Waldstrom, der sich jählings jenen fernen Berg hinunterstürzt, und seinen Lauf mit einem Streifen weißen Schaumes bezeichnet,« antwortete Arthur, »wem gleicht der?«

»Dem Leben eines wackern und unglücklichen Mannes,« erwiderte sein Vater.

»Den Strom für mich!« sagte Arthur, »meinen kühnen Lauf, den keine menschliche Macht aufzuhalten vermag – und dann laßt ihn so kurz als ruhmvoll sein!«

»So denkt ein junger Mensch,« versetzte der Vater, »aber ich weiß wohl, dieser Gedanke ist so tief in deinem Gemüth festgewurzelt, daß nichts als die harte Hand des Unglücks ihn herausreißen kann.«

»Die Wurzel windet aber doch sich um des Herzens Fasern noch,« sagte der junge Mann, »und ich meine, des Unglücks Hand hat einen hübschen Griff hineingethan.«

»Du sprichst, mein Sohn, von Sachen, die du nicht recht verstehst,« sagte der Vater. »Wisse, die Menschen unterscheiden, ehe die Mitte des Lebens vorüber ist, kaum das ächte Glück vom Unglück, oder vielmehr, sie streben nach dem, als nach einer Gunst des Schicksals, was sie mit mehr Recht als Zeichen seines Mißfallens betrachten würden. Sieh' jenen Berg an, der auf seinem borstigen Scheitel ein Diadem von Wolken trägt, die sich bald heben, bald senken. Die Sonne bescheint sie, ist aber nicht im Stande, sie zu zerstreuen; ein Kind würde sie für eine Strahlenkrone halten; ein Mann weiß, daß dies das Zeichen eines Sturmes ist.«

Arthur folgte den Augen seines Vaters auf die dunkle und düstere Höhe des Pilatusberges.

»Ist der Nebel auf jenem wilden Berge von so böser Vorbedeutung?« fragte der junge Mann.

»Frage den Antonio!« war des Vaters Antwort, »er wird dir dann erzählen.«

Der junge Kaufmann wandte sich an den Schweizerbuben, der ihren Diener vorstellte, und verlangte von ihm den Namen der finsteren Höhe zu wissen, welche in dieser Gegend der Leviathan der ungeheuren Gebirgsmasse zu sein scheint, die sich um Luzern zusammenzieht.

Der Bursche bekreuzte sich andächtig, als er die Volkssage erzählte, daß der gottlose Statthalter von Judäa, Pontius Pilatus, hier das Ende seines sündhaften Lebens gefunden; er habe sich nämlich, nachdem er Jahre lang in den Schluchten des Berges gelebt, der seinen Namen trägt, zuletzt mehr aus Reue und Verzweiflung, als aus Buße, in den schrecklichen See gestürzt, der den Gipfel des Gebirges einnimmt. Ob das Wasser sich weigerte, das Geschäft des Henkers an einem solchen Verworfenen zu verrichten, oder ob, nachdem der Körper ertrunken, sein gequälter Geist fortfahre, an der Stelle, wo er den Selbstmord verübt, umzugehen, maßte sich Antonio nicht an zu entscheiden. Aber man erblickte, wie er sagte, oft eine Gestalt, die sich aus dem trüben Wasser erhob, und Bewegungen machte, wie Einer, der sich die Hände wäscht. Wenn die Gestalt solches thue, so sammeln sich düstere Nebelmassen zuerst um den Höllenteich (wie er von Alters her heißt), hüllen sodann den ganzen oberen Theil des Berges in Dunkelheit, und verkündigen einen Sturm, der auch sicher kurze Zeit darnach eintrete. Er fügte hinzu, der böse Geist sei bereits erbittert über die Verwegenheit solcher Fremden, welche den Berg besteigen, um den Ort seiner Bestrafung zu betrachten, und daher habe die Obrigkeit in Luzern Jedermann unter schweren Strafen verboten, sich dem Pilatusberge zu nähern. Als Antonio das Mährchen geendigt, bekreuzigte er sich nochmals, und seine Zuhörer ahmten ihn in dieser frommen Handlung nach. Sie waren zu gute Katholiken, um einem Zweifel an der Wahrheit der Erzählung Raum zu geben.

»Was für ein finsteres Gesicht der verfluchte Heide auf uns macht!« rief der jüngere von den Kaufleuten, als die Wolke dunkler wurde und auf dem Gipfel des Pilatus fest zu sitzen schien. » Vade retro! Hebe dich weg! Trotz sei dir geboten, Sünder!«

Ein aufsteigender Wind, den man mehr hörte als fühlte, schien gleich einem sterbenden Löwen herunterzustöhnen, daß der leidende Geist die rasche Herausforderung des jungen Engländers angenommen habe. Man sah, wie der Berg an seinen rauhen Seiten dicke Bündel schweren Nebels herabsandte. Die rollten dann durch die verworrenen Schluchten, in welche sich der gräßliche Berg spaltete, und glichen Strömen herabstürzender Lava, die aus einem Vulkan hervorquellen. Die scharfen Ueberhänge am Rande der Klüfte zeigten ihre zerrissenen und rauhen Ecken über dem Dunst, wie wenn sie die herabfallenden und zwischen ihnen hinwogenden Nebelströme von einander trennten. Als schneidendes Widerspiel zu dieser finstern und bedrohlichen Scene erglänzte die entfernte Bergreihe des Rigi in aller Farbenpracht der herbstlichen Sonne.

Während die Reisenden diesen auffallenden und wechselnden Gegensatz beobachteten, der einen herannahenden Kampf zwischen den Männern des Lichts und der Finsterniß zu verkünden schien, ermahnte sie ihr Führer in seinem aus Italienisch und Deutsch gemischten Kauderwelsch zur Eile im Weiterschreiten. Das Dorf, in welches er sie zu führen vorhatte, war, wie er sagte, noch entfernt, der Weg schlecht und schwer zu finden, und wenn der Böse (hier blickte er auf den Pilatus und bekreuzte sich) seine Finsterniß auf das Thal herabsenden würde, so müßte der Pfad unsicher und gefährlich werden. Bei dieser Aufforderung zogen die Reisenden die Mäntel wieder herauf, drückten die Mützen entschlossen in's Gesicht, befestigten die Schnallen an den beiden Gürteln, die ihre Mäntel zusammenhielten, und setzten, Jeder mit einem Bergstock in der Hand, der mit einer Eisenspitze beschlagen war, ihre Wanderung mit ungeschwächter Kraft und furchtlosem Gemüthe fort.

Mit jedem Schritt schienen die Scenen um sie her zu wechseln. Jeder Berg veränderte sein Aussehen, als ob seine feste und unwandelbare Gestalt beweglich und dem Wechsel unterworfen wäre; jeder glich einer schattenhaften Erscheinung, wenn die Stellung der Fremden zu ihm mit ihrem Weiterschreiten sich änderte, und wenn der langsam, aber ohne Unterbrechung herabfallende Nebel seinen Einfall auf den rauhen Anblick der Thäler und Höhen äußerte, die er in seinen Dunstmantel hüllte. Dadurch, daß sie nie gerade, sondern nur nach den Windungen eines schmalen Pfades längs der Krümmungen des Thals vorwärts gehen konnten und manchen Umweg um Abgründe und andere unüberwindliche Hindernisse machen mußten, vermehrte sich noch die wilde Mannigfaltigkeit des Wegs. So verloren die Reisenden zuletzt völlig jede, auch die unbestimmteste Vorstellung, die sie vorher in Bezug auf die Richtung der Straße unterhalten hatten.

»Ich wollte,« sagte der Aeltere, »wir hätten die geheimnißvolle Nadel, von der die Seeleute sprechen, welche immer nach Norden zeigt, und sie in den Stand setzt, ihren Weg auf dem Wasser selbst dann zu finden, wenn weder Vorgebirge noch Landzunge, weder Sonne, Mond und Sterne, noch ein Zeichen am Himmel oder auf Erden ihnen sagt, wie sie steuern müssen.«

»Dies würde uns in diesen Bergen kaum etwas nützen,« antwortete der Jüngere, »denn obgleich diese Nadel ihre Spitze immer gegen den nördlichen Polarstern wenden mag, wenn sie sich auf einer platten Fläche, wie das Meer, befindet, so läßt sich doch nicht denken, sie werde das auch thun, wenn sich solche gewaltige Gebirge wie Mauern zwischen dem Stahl und dem Gegenstand erheben, nach welchem sie hinstrebt.«

»Ich fürchte,« fuhr der Vater fort, »wir werden unsern Führer, der mit jeder Stunde dummer geworden ist, seit er sein eigenes Thal verließ, so nutzlos finden, als du vermuthest, daß der Compaß zwischen den Höhen dieses wilden Landes sein würde. Kannst du sagen, mein Junge,« fügte er hinzu, indem er sich in schlechtem Italienisch an Antonio wandte, »ob wir auf dem rechten Wege sind?«

»Wenn's dem heiligen Antonius gefällt,« sagte der Führer, den offenbar eine bestimmte Antwort auf die Frage in Verlegenheit setzte.

»Und das Wasser, das halb verdeckt vom Nebel durch den Qualm schimmert, unten an dem großen, schwarzen Abgrund, ist es noch ein Theil des Luzerner Sees, oder sind wir bei einem andern angekommen, seit wir die letzte Höhe erstiegen?«

Antonio vermochte bloß zu antworten, sie müßten noch am Luzerner See sein, und er hoffe, das, was sie unter sich sähen, sei bloß ein seitwärts laufender Arm desselben. Aber er konnte nichts mit Bestimmtheit angeben.

»Hund von einem Italiener!« rief der jüngere Reisende, »du verdienst, daß man dir die Beine abschlägt, weil du ein Geschäft übernommen hast, dessen du dich eben so wenig zu entledigen im Stande bist, als du uns in's Himmelreich einzuführen vermagst.«

»Ruhig, Arthur!« sagte der Vater, »wenn du den Jungen erschreckst, so läuft er davon und wir verlieren den kleinen Vortheil, den wir aus seiner Ortskenntniß etwa ziehen könnten. Wenn du deinen Stock brauchst, so vergilt er dir mit einem Messerstich, denn das ist die Art und Weise eines rachsüchtigen Lombarden. Jedenfalls bringt er dir Schaden, statt Hülfe. Horch, mein Junge, komm daher,« fuhr er sodann in seinem gebrochenen Italienisch fort, »erschrick nicht über diesen jungen Hitzkopf; ich werde nicht zugeben, daß er dir etwas zu Leide thut; aber nenne mir, wenn du kannst, die Namen der Dörfer, durch welche wir auf unserer heutigen Wanderung kommen.«

Die sanfte Art, in welcher der ältere Reisende sprach, beruhigte den Burschen, der über den rauhen Ton und den drohenden Ausdruck seines jüngeren Begleiters erschrocken war, und er sprudelte nun in seinem Patois eine Fluth von Namen heraus, in denen die deutschen Kehllaute sich stark mit den weichen Accenten des Italienischen mischten, welche aber dem Zuhörer keine verständliche Belehrung über den Gegenstand seiner Frage verschafften. Dieser war zuletzt zu dem entscheidenden Ausspruch genöthigt: »Führe uns weiter im Namen der heiligen Mutter oder des heiligen Antonius, wenn du das lieber willst; wir verlieren nur Zeit, wie ich sehe, bei dem Versuch, uns verständlich zu machen.«

Sie gingen nun, wie zuvor, weiter, mit dem Unterschied, daß der Führer, der das Maulthier lenkte, jetzt voranschritt, und daß ihm die zwei Andern folgten, deren Bewegungen er früher durch Zurufen von Hinten geleitet hatte. Die Wolken wurden mittlerweile dichter und der Nebel, der anfangs dünner Dunst gewesen, fing jetzt an in Gestalt eines feinen und dichten Regens herabzufallen, der sich wie Thau auf den Mänteln der Reisenden sammelte. Aus der Ferne ließen sich von den entlegenen Gebirgen herüber rauschende und heulende Töne hören, gleich denen, mit welchen der böse Geist des Pilatus den Sturm zu verkünden geschienen hatte.

Der Knabe trieb seine Begleiter auf's Neue zur Eile, legte aber durch die Langsamkeit und Unentschlossenheit, welche er bei ihrer Führung zeigte, zu gleicher Zeit ihrem schnellen Vorwärtskommen selbst Hindernisse in den Weg.

Nachdem sie in dieser Weise drei oder vier Meilen fortgegangen waren, welche die Ungewißheit doppelt langweilig machte, waren die Reisenden zuletzt auf einen schmalen Fußsteig gerathen, der sich am Rande eines Abgrundes hinzog. Unten war Wasser. Der Wind, der sich in heftigen Stößen fühlbar zu machen begann, vertrieb manchmal den Nebel so weit, daß man die schimmernden Wellen sah, aber der Anblick, den sie gewährten, war zu undeutlich, um entscheiden zu lassen, ob es die desselben Sees seien, bei welchem ihre Reise am Morgen begonnen hatte, oder ob sie eine andere und abgesonderte Wasserfläche von ähnlicher Beschaffenheit, oder einen Fluß oder einen breiten Bach vor sich hätten. So viel war gewiß, daß sie sich an keiner Stelle der Ufer des Luzerner Sees befanden, wo seine Gewässer die gewöhnliche Ausdehnung haben; denn dieselbigen Orkanstöße, welche das Wasser in des Thales Tiefe erblicken ließen, verschafften ihnen den vorübergehenden Anblick des jenseitigen Ufers. Sie konnten zwar die Entfernung desselben nicht genau unterscheiden, aber es war doch nahe genug, um große, abgerissene Steinmassen und zottige Fichtenstämme zu zeigen, die hier in Gruppen vereinigt, dort einzeln an die über das Wasser herhängenden Felsen geklammert waren. Diese Landschaft war deutlicher als die, welche die andere Seite des Sees dargeboten haben würde, wenn sie auf dem rechten Wege gewesen wären.

Bis daher war der Pfad, obgleich steil und holperig, deutlich genug angezeigt, und trug Spuren davon, daß er sowohl von Reitern als Fußgängern besucht worden war. Aber plötzlich, als Antonio mit dem Maulthier, das er führte, eine vorspringende Anhöhe erreicht hatte, um deren Spitze der Weg eine scharfe Windung machte, stand er still und wandte sich mit dem ihm eigenen Ausruf an seinen heiligen Schutzpatron. Es schien Arthur, das Maulthier theile den Schrecken des Führers, denn es fuhr zurück, setzte seine Vorderfüße, auseinander gespreizt, vorwärts und schien durch die Stellung, welche es annahm, den Entschluß anzudeuten, daß es sich jedem Ansinnen, vorwärts zu gehen, widersetzen werde. Zugleich drückte es Furcht und Entsetzen vor dem Anblick aus, der vor ihm lag.

Arthur eilte vorwärts, nicht allein aus Neugier, sondern um wo möglich den ersten Stoß einer etwaigen Gefahr auszuhalten, ehe sein Vater herankäme und sie theilen könnte. In weniger Zeit, als wir gebraucht haben, um dies zu erzählen, stand der junge Mann neben Antonio und dem Maulthier auf einer Felsenterrasse, an welcher der Weg völlig aufzuhören schien, und an der sich vorn ein schroffer Abgrund niedersenkte. Der Nebel verstattete zwar nicht, die Tiefe desselben zu unterscheiden, aber sie erstreckte sich gewiß ohne Unterbrechung auf mehr als dreihundert Fuß.

Der Ausdruck, welchen das Gesicht des jüngeren Reisenden annahm, und von welchem sich auch Spuren in den Mienen des Saumthieres entdecken ließen, verkündigte Unruhe und Bestürzung über das unerwartete und, wie es schien, unüberwindliche Hinderniß. Auch in den Blicken des Vaters, der jetzt an derselben Stelle anlangte, lag weder Hoffnung noch Trost. Er stand da, wie die Anderen, starrte in den Nebelschlund unter ihnen und sah sich rings, aber vergeblich nach einer Fortsetzung des Weges um, der ursprünglich gewiß nicht angelegt war, um in dieser plötzlichen Weise zu endigen. Während sie so dastanden, ungewiß über das, was sie thun sollten, während der Sohn umsonst versuchte, einen Weg zum Weiterkommen zu entdecken, und der Vater eben den Vorschlag auf der Zunge trug, auf demselben Wege, der sie hiehergebracht, zurückzukehren, zog ein lautes Geheul des Windes, wilder, als sie es bisher vernommen, das Thal hernieder. Alle sahen ein, daß sie in Gefahr standen, von der unsicheren Stellung, welche sie einnahmen, weggeschleudert zu werden, sie griffen daher nach Buschwerk und Felsen, um sich daran zu halten, und selbst das arme Maulthier schien sich fester stellen zu wollen, um dem nahenden Orkan Stand halten zu können. Der Windstoß kam mit so unerwarteter Wuth, daß es den Wanderern schien, er erschüttere selbst den Felsen, auf dem sie standen. Er würde sie auch gleich eben so vielen Blättern von der Abplattung desselben weggefegt haben, hätten sie nicht jene augenblicklichen Vorkehrungen zu ihrer Rettung gemacht. Aber als der Wind das Thal herniederfuhr, vertrieb er für drei oder vier Minuten vollständig den Nebelschleier, den frühere Windstöße nur hatten bewegen oder lichten können, und zeigte ihnen die Beschaffenheit und Ursache der Unterbrechung, welche sie so unerwarteterweise erfahren hatten.

Das schnelle, aber sichere Auge Arthurs war jetzt im Stande sich zu überzeugen, daß der Weg, nachdem er die Felsenterrasse, auf der sie standen, verlassen, ursprünglich in derselben Richtung aufwärts eine steile Erhöhung von Erde entlang gegangen war, welche die obere Bedeckung einer Schichte steiler Felsen gebildet hatte. Es war aber bei einer der Erschütterungen, welchen diese wilden Gegenden ausgesetzt sind, geschehen, und die Natur wirkt hier nach einem so furchtbaren Maßstab, daß die Erde abgerutscht oder vielmehr jählings von dem Felsen herabgestürzt und mit dem Pfad auf ihrem Rücken, mit dem Gebüsch und den Bäumen und Allem, was auf ihr wachsen mochte, in das Bett des Flusses hinabgeschleudert worden war. Denn als einen solchen konnten sie jetzt das Wasser unter ihnen erkennen; es war kein See oder ein Arm eines solchen, wie sie bisher vermuthet.

Die unmittelbare Ursache dieses Sturzes mochte wohl ein Erdbeben gewesen sein, wie sie in diesem Lande nicht selten sind. Die bei ihrem Fall umgekehrte Erderhöhung, nunmehr eine verwirrte Masse von Trümmern, zeigte einige Bäume, die in wagrechter Richtung wuchsen; andere, die der Sturz auf ihre Gipfel geschleudert, waren in Stücke zerrissen worden und lagen jetzt da, ein Spiel der Wellen desselben Flusses, den sie früher mit ihren dunkeln Schatten bedeckt hatten. Der kahle Felsabhang, der hinter ihnen übrig war, wie das fleischlose Gerippe eines riesigen Ungeheuers, bildete die Wand eines riesigen Abgrundes. Dieser Letztere bot den Anblick eines neuerlich gebildeten Steinbruchs, und sah deßhalb noch schauerlicher und rauher aus, weil er sich erst frisch gebildet hatte und noch nicht von dem Pflanzenwuchs bedeckt wurde, mit welchem die Natur schnell die nackte Oberfläche selbst der furchtbarsten Felsenspitzen und Abgründe überkleidet.

Außer diesen Wahrnehmungen, welche bewiesen, daß diese Unterbrechung des Wegs erst neuerlich eingetreten sei, konnte Arthur auf der anderen Seite des Flusses, mehr oben im Thal, ein viereckiges Gebäude von bedeutender Höhe bemerken, das über die durch Felsen unterbrochenen Fichtenwälder hervorragte und mit den Ruinen eines gothischen Thurms Aehnlichkeit hatte. Er zeigte dieses merkwürdige Gebäude dem Antonio und fragte ihn, ob er es kenne. Er vermuthete nämlich mit Recht, daß es zufolge seiner eigenthümlichen Lage ein Wahrzeichen sei, welches Keiner vergessen würde, der es einmal gesehen. Der Bursche erkannte es auch freudig und schnell, und rief fröhlich, der Ort sei der Geierstein, oder, wie er erläuterte, der Geierfelsen. Er sagte, er kenne ihn an dem alten Thurm sowohl, als an einer ungeheuren Felsspitze, die sich in der Nähe davon fast in Gestalt eines Kirchthurms erhob, und auf deren Gipfel ein Lämmergeier (einer der größten Raubvögel, die man kennt) in alten Tagen das Kind eines früheren Schloßherrn getragen habe. Er fuhr fort, von dem Gelübde zu erzählen, welches der Herr von Geierstein Unserer lieben Frau von Einsiedeln gethan, und während er noch redete, verschwand Schloß, Felsen, Wald und Abgrund wieder im Nebel. Aber als er seine wundersame Erzählung mit dem Wunder beschloß, durch welches das Kind in die Arme seines Vaters zurückgeführt wurde, schrie er plötzlich: »Seht Euch vor, – der Sturm, der Sturm!« Der kam auch wirklich, er jagte den Nebel vor sich her und verschaffte den Reisenden abermals den Anblick der Schrecknisse, von denen sie umgeben waren.

»Ah,« rief Antonio triumphirend aus, als der Stoß nachließ, »der alte Pontius hört nicht gerne von Unserer Frau zu Einsiedeln sprechen, aber sie wird schon mit ihm fertig werden, Ave Maria!«

»Der Thurm,« sagte der jüngere Reisende, »scheint unbewohnt. Ich kann keinen Rauch entdecken, und die Mauerzinne scheint verfallen.«

»Es ist manchen Tag unbewohnt gewesen,« antwortete der Führer. »Aber trotzdem wollte ich, ich wäre dort. Der rechtschaffene Arnold Biedermann, der Landammann (erste Beamte) des Cantons Unterwalden, wohnt nicht weit davon, und ich stehe Euch dafür, Fremde in Noth leiden, so weit er die Herrschaft führt, keinen Mangel am besten, was im Speiseschrank und Keller zu finden ist.«

»Ich habe von ihm gehört,« sagte der ältere Reisende, den Antonio als Signore Philipson anzureden gelernt hatte, »ein guter und gastfreier Mann, der das Ansehen verdient, dessen er sich bei seinen Landsleuten erfreut.«

»Da habt Ihr ganz recht von ihm geredet, Signor,« antwortete der Führer, »und ich wollte, wir könnten sein Haus erreichen. Ihr könntet darin einer gastfreundlichen Bewirthung und einer guten Zurechtweisung für die morgende Tagesreise sicher sein. Aber wie wir ohne die Schwingen des Geiers in des Geiers Schloß kommen sollen, ist eine schwer zu beantwortende Frage.«

Arthur erwiderte mit einem kühnen Vorschlag, den der Leser im nächsten Kapitel erfahren wird.



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