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12. Kapitel.
Der kranke Kaiser.

Im Park von St. Cloud blühten die Astern, Chrysanthemen und Georginen. Der prächtige gepflegte Garten bot ein farbenreiches Bild.

Von seinem Fenster aus konnte der Kaiser gerade auf eine Rabatte mit Spätrosen sehen. Es waren prächtige La France- und Maréchal Niel-Rosen; aber der kranke Mann in goldgestickter Generalsuniform, mit den schweren Epauletten auf der Schulter und der breiten Moiréschleife über der Brust hatte im Augenblick für die Blütenpracht kein Auge.

Napoleon der Dritte saß am Fenster in einem bequemen Lehnstuhl; die kleine, etwas zu volle Gestalt war zusammengesunken; der schwarze, lang ausgezogene Schnurrbart stach scharf gegen das gelbliche Gesicht mit dem leidenden Zug ab.

Einige Schritte vor dem Kaiser stand ein hochgewachsener Mann im Gehrock, ein kleines Köfferchen lag neben ihm auf einem Tisch. – Es war der Arzt Dr. von Rohan.

»Sie geben also wenig Hoffnung, Doktor?« meinte der Kaiser bitter und legte die Hand auf den schmerzenden Unterleib.

Der Arzt zuckte vorsichtig die Achseln.

» Sire!« antwortete er. »Steinleiden sind immer bedenklich! – – Ich würde dringend zu einem operativen Eingriff raten – aber im gegenwärtigen Augenblick – –«

»Ausgeschlossen – –!!« rief Napoleon. »Undenkbar! – – Die Mobilmachung wird morgen erklärt. – – Ich muß in einigen Tagen den Oberbefehl übernehmen. Frankreich erwartet von mir, seinem Kaiser, Taten; und ein Krankenbett gleich zu Kriegsbeginn, würde ein böses Omen sein – –!«

»Das sehe ich ein, Sire!« erwiderte der Arzt ruhig. »Aber meiner Kunst sind Grenzen gesetzt. Ich kann, da eine Operation augenblicklich nicht in Frage kommt, nur die alten, bewährten Mittel verschreiben – –!«

»Sie müssen genügen, um den Körper wenigstens für die nächsten Monate notdürftig zusammenzuhalten. Nach glücklich beendetem Krieg und erst, wenn meine Nachfolge als ganz gesichert gelten kann, – – dann, Doktor, dürfen Sie schneiden, so viel Sie wollen! – Im Augenblick braucht man mich – – –!«

Der Kammerdiener war leise eingetreten.

»Der Herzog von Gramont, Kriegsminister Leboeuf und Oberstleutnant Stoffel!« meldete er.

»Hören Sie, Doktor!« fuhr der Kaiser mit einem bitteren Lächeln fort. »Man braucht mich wirklich! – Ich danke Ihnen!«

Dr. von Rohan verbeugte sich Und ging. Im gleichen Augenblick ließ der Kammerdiener die drei anderen Herren eintreten.

Der Herzog von Gramont erschien als erster. Er war im Gehrock, trug zu seinen dunklen, lockigen Haaren einen kurz gehaltenen Schnurrbart und einen breiten, graumelierten Vollbart. Er hielt eine dicke Ledermappe unter dem Arm und machte dem Kaiser eine höfliche Verbeugung.

Die beiden Militärs grüßten und blieben einige Schritte hinter dem Minister des Äußeren stehen.

Auch Napoleon hatte sich, seine Schmerzen verbeißend, erhoben und stand, jetzt ganz Kaiser, jeder Zoll Majestät, vor den drei Herren.

»Na – – Herzog!« meinte er mit einem gewissen Spott. »Es scheint doch ganz anders zu kommen, als Sie erwartet hatten? – Ich befürchte, Frankreich steht in dem schweren Kampfe, den Sie mir aufzwangen, allein, ganz auf seine eigene Macht und Kraft angewiesen. – – Wo bleibt Österreich, Herr Herzog?! – Wo Italien, wo die süddeutschen Staaten – – –?!«

Gramonts Augen blitzten einen Augenblick verärgert auf; dann zeigte sein Gesicht wieder die diplomatische Glätte.

»Wir müssen uns mit den Tatsachen abfinden, Sire!« erwiderte er. »Daß Süddeutschland mit dem Norddeutschen Bund Verträge abgeschlossen hat, daß sich die Süddeutschen wie ein Mann hinter den König von Preußen stellen, das ist die einzige Überraschung. – Italien zaudert noch – – das stimmt! Wir hätten Victor Emanuel wegen Roms Konzessionen machen müssen, Sire – –!«

»Ich mußte auf den Papst Rücksichten nehmen.«

»Sehr richtig, Majestät. – Italien wird nach meinem Gefühl marschieren, sobald die ersten französischen Siege bekannt geworden sind! Und – Österreich gebe ich auch noch nicht auf.

Wohl hat Österreich amtlich seine Neutralität erklärt; aber vor einer Stunde sprach ich den Fürsten Metternich, er sagte wörtlich: ›Österreich wird treu seinen Verpflichtungen die Sache Frankreichs als die seinige betrachten, und wird in den Grenzen des Möglichen zum Erfolg der französischen Waffen mitwirken‹ – – –!«

»Das sind leere Versprechungen, habsburgische Redensarten!« erwiderte der Kaiser ärgerlich. »Österreich darf man nur zum Feinde haben, dann weiß man wenigstens genau, woran man ist!«

» Sire!« erwiderte der Herzog von Gramont. »Sie urteilen ungerecht in diesem Falle. Ein Eingreifen Österreichs zu unseren Gunsten würde sofort die Kriegserklärung Rußlands nach sich ziehen.«

»Und Dänemark?« warf Napoleon ein.

»Dänemark ist keine Hilfe für uns! Die paar Mann Militär, die Dänemark ins Feld stellen kann, haben keinen Wert.«

»Stimmt; gar keinen! Umso mehr, als Dänemark von mir ein Armeekorps von 30 000 Mann verlangte. Aber wir brauchen unsere Truppen selbst, Messieurs! Es ist so gekommen, wie ich befürchtet habe: Frankreich wird diesmal allein, ohne Bundesgenossen ins Feld ziehen müssen!«

»Dafür kämpft Deutschland auch allein.«

»Gewiß, aber Deutschland ist militärisch weit stärker als wir! – Ich erinnere mich, von Ihnen, Oberstleutnant Stoffel, sehr detaillierte Berichte gelesen zu haben, Berichte, die mich ein wenig überraschten. –«

»Ich kann nur wiederholen, Sire,« erwiderte der Oberstleutnant Stoffel »daß die deutschen Feldarmeen den unseren weit überlegen sind! Ich darf auf meine Berichte verweisen. – –«

Oberstleutnant Stoffel war einige Jahre lang Militärattaché in Berlin gewesen und einer der wenigen französischen Militärs, die die Situation nicht durch eine vom Chauvinismus getrübte Brille betrachteten. Seine Berichte über die Kriegsbereitschaft des norddeutschen Bundes, aber auch über die politische Konstellation, soweit sie sein militärisches Ressort betraf, waren von einer überzeugenden Klarheit und Sachlichkeit und paßten der Kriegspartei in Paris nicht in ihren Kram.

Stoffel, der später noch zu hohen Ehren kommen sollte, wurde nicht gehört, bei Kriegsbeginn kaum beachtet, sehr zum Nachteil des Kaiserreichs, dem mancher Schade erspart geblieben wäre, hätte es Stoffels Meldungen etwas ernster genommen.

Als Stoffel vor dem Kriegsminister, allerdings vom Kaiser geradezu aufgefordert, das Wort ergriff, setzte der Kriegsminister Leboeuf eine etwas spöttische Miene auf; aber der Oberstleutnant schien das nicht zu bemerken.

Stoffel stammte aus der Schweiz, sprach geläufig deutsch und war ein vorzüglicher Beobachter.

Aber die Franzosen wollten in den Julitagen des Jahres 1870 keine warnenden Stimmen hören. Paris – und nicht nur der Straßenplebs tobte wie irrsinnig. Die seit vier Jahren herbeigesehnte Rache für ›Sadowa‹ stand jetzt vor der Tür.

Der Oberstleutnant versuchte, dem Kaiser ein möglichst genaues Bild der militärischen Machtmittel Preußens und seiner Verbündeten zu zeichnen. – Er wies nach, daß die deutschen Feldarmeen im ersten Aufgebot eine Million Streiter zählten, führte aus, wie Einteilung und der Aufmarsch der verbündeten deutschen Truppen nach seinen Informationen etwa gedacht sei. Er wies darauf hin, daß die deutsche Artillerie über weit bessere Geschütze verfügte, als die der Franzosen; aber er fühlte, daß er tauben Ohren predigte.

Selbst der Kaiser, der die Situation schon deshalb nicht so rosig ansah, weil er auf Verbündete gehofft hatte, die sich nun, wo es ernst wurde, langsam aber sicher zurückzogen, selbst Napoleon der Dritte, wollte keine Warnungen, keine Wahrheiten hören.

Er ließ den Oberstleutnant zuerst ruhig reden, unterbrach ihn nicht und schien an den Ausführungen Stoffels sehr interessiert; als dieser aber auf die Güte der deutschen Artillerie zu sprechen kam, fiel ihm Napoleon sofort ins Wort:

»Deutschland besitzt keine Mitrailleusen!«

»Das stimmt, Sire!« gab Stoffel zu. »Auch unser Chassepotgewehr ist besser als die deutsche Zündnadel. Es trägt mehr als doppelt so weit und ist schneller schußfertig. Auch diese Tatsache will ich nicht in Abrede stellen, Sire – –!«

»Na – – was wollen Sie dann?!« rief Napoleon ungeduldig und verärgert. »Daß ein Franzose zwei Preußen aufwiegt, dürfte doch feststehen und Franzosen mit Chassepots und Mitrailleusen sind unwiderstehlich – –!«

Stoffel schwieg. –

Der Kriegsminister, der nervös seinen langen, dichten Troupierschnurrbart bearbeitet hatte und sich über den schwarzsehenden Oberstleutnant sichtlich ärgerte, griff nun ein.

» Sire!« sagte er. »Oberstleutnant Stoffel ist ein ausgezeichneter Theoretiker, aber er sieht zu schwarz. Ich, als Kriegsminister, kann nur sagen, daß die Armee erzbereit ist und darauf brennt, gegen die Preußen geführt zu werden. Oberstleutnant Stoffel hat durchaus recht, wenn er behauptet, daß die Deutschen, wenigstens in den ersten Wochen, uns numerisch überlegen sind; aber die Zahl der Streiter war noch nie in einer offenen Feldschlacht maßgebend; entscheidend ist nur die Qualität – der Geist, der die Truppen beseelt. Mit nur 30 000 Mann hat, um ein Beispiel aus Preußen heranzuziehen, Friedrich der Große bei Leuthen 90 000 Österreicher in die Flucht geschlagen. – Beispiele aus der Geschichte Frankreichs anzuführen erübrigt sich. Ihr Oheim, Sire, Napoleon der Erste. hat bekanntlich die Gegner auch nie gezählt; denn hinter ihm und seiner Feldherrnkunst standen – Franzosen. – – Wir müssen allerdings versuchen, die Minderzahl unserer Truppen durch rasche und unwiderstehliche Schläge auszugleichen.

Ich schlage darum vor, daß etwa 50 000 Mann sich im Lager von Chalons, 150 000 bei Metz und rund 100 000 bei Straßburg versammeln. Die beiden letztgenannten Heeresgruppen überschreiten bei Maxau und Karlsruhe den Rhein, überwältigen das verhältnismäßig schwache Süddeutschland durch schnelle, kräftige Schläge und suchen dann erst die Preußen auf. –«

Napoleons leidende Miene hellte sich bei den Worten des Kriegsministers Leboeuf sichtlich auf.

»Ihr Vorschlag gefällt mir« sagte er. »Ich übernehme natürlich den Oberbefehl und werde sofort die notwendigen Vorbereitungen treffen, um nach Straßburg oder Metz abzureisen.«

Bevor der Kriegsminister noch antworten konnte, war der Kaiser, der mit halbem Ohre hinaus nach dem Park gelauscht hatte, ans Fenster getreten.

Von weit her ertönten Hochrufe, und der Lärm einer anmarschierenden Volksmenge.

»Was bedeutet das?« fragte Napoleon.

Der Herzog von Gramont antwortete: »Demonstrationen der Pariser Bevölkerung! Sire sollten augenblicklich in Paris sein! Das Volk jubelt, läßt seinen Kaiser und den Krieg hoch leben. In den Straßen herrscht ein geradezu beängstigender Verkehr. Die Begeisterung ist ins Gigantische gewachsen.«

» Vox populi!« erklärte der Kriegsminister Leboeuf. »Es ist ein gerechter Kampf, Sire, den wir zu führen und durchzukämpfen haben. Frankreich, das seit Jahrhunderten für Zivilisation und Menschenrechte eintritt, hat eine hehre Mission übernommen: Vernichtung des preußischen Militarismus, bevor es zu spät ist.«

* * *

Musette kam vom Postamt in der Rue de Montmartre, wo sie einen postlagernden Brief von Martini behoben hatte.

Martini schrieb aus Saarbrücken, daß er vor einiger Zeit wieder als Eskadronschef bei seinem Ulanenregiment eingetreten sei. Der Krieg sei nach seiner Meinung unvermeidlich, und er freue sich darüber. Je früher die Abrechnung käme, umso besser.

›Mein Leben steht in Gottes Hand‹ schloß er. ›Ich hoffe den Krieg zu überdauern, und dann, Musette, dann hole ich Dich! Meine Sehnsucht, Dich bald wiederzusehen und in meine Arme zu schließen, ist – ich schäme mich nicht, es ehrlich zu sagen – noch größer als meine Kampfbegier‹.

Musette hatte den Brief in ihrem Wagen gelesen und in die Tasche gesteckt. Als der Wagen die Kirche von St. Eustache passierte und nun, um den Boulevard de Sebastopol zu gewinnen, in die Rue de Turbigo einbog, versperrte ihm eine dicht marschierende Menschenmenge den Weg.

Männer aus dem Volk aber auch Studenten und zahlreiche Frauen marschierten singend und jubelnd vorbei. Fahnen wurden dem Zuge vorangetragen.

»Es lebe der Kaiser! – Es lebe Frankreich! – Nieder mit Preußen!! – Nieder mit Bismarck!!!«

Vom Boulevard de Sebastopol kommend kreuzte ein zweiter Demonstrationszug den Weg des ersten. Eine Musikkapelle spielte die Marseillaise.

»Auf nach Berlin!« rief eine schrille Frauenstimme. Hunderte von Stimmen fielen jubelnd, lachend, gröhlend ein. Die Cafés waren bis an den Rinnstein der Trottoirs besetzt.

Vor dem Café du Temple gab es einen Auflauf. Dutzende von aufgeregten Menschen liefen dort zusammen, schlugen auf einen kleinen, blonden Mann ein, der schon aus zahlreichen Wunden blutete. – Zwei Stadtsergeanten hatten weder die Macht noch vielleicht auch den Willen, den kleinen, schreienden und bittenden Mann zu schützen.

»Schlagt ihn nieder den Prussien –!«

»Ich bin kein Prussien!« jammerte das Männchen in höchster Angst. »Ich bin Sachse – – Sachsen und Preußen ist nicht dasselbe –!«

Ein wüst aussehender Bursche in einer weißen Leinenbluse hieb dem alten Mann die geballte Faust auf den Mund, daß das Blut erneut hervorschoß.

»Es ist ein Boche!« sagte er verächtlich. »Sachse oder Preuße ist gleich – –! Boche ist Boche – –!«

Der am Boden liegende, wimmernde Mann wurde von den Stadtsergeanten in den Eingang eines benachbarten Hauses gezerrt. Für den Augenblick war er in Sicherheit.

Musette wandte sich angeekelt ab.

Mit derartigen Rohheiten und Ausbrüchen einer ungezügelten Volksleidenschaft gewinnt man keine Schlachten.

In ihrer Tasche knisterte der Brief Hans von Martinis und – Musette zuckte leicht zusammen.

Der Besitz des Briefes konnte ihr im Augenblick doch vielleicht Unannehmlichkeiten bereiten. Sie zerriß den Bogen in ihrer Tasche in kleine Stückchen und stopfte sie hinter das Kissen ihres Wagens.

Dann gab sie den Befehl, umzukehren; nach Hause!

»S' wird schwer halten, Madame!« erwiderte der Kutscher. »So wie hier, sieht's in allen Straßen der Innenstadt aus; es ist nirgends ein Durchkommen!«

Zwei stark angetrunkene Infanteristen drängten sich an das Gefährt.

»Wir sind tapfere Krieger, Madame!« rief der eine lallend.

»Aber wir haben Durst! – Zwanzig Sous für eine Flasche Pinard! – Seien Sie edel, Madame!«

Musette machte gute Miene zum bösen Spiel, warf den ›tapferen Kriegern‹ ein Fünffrankenstück zu, das auf den Asphalt rollte. – – Zehn – zwanzig Hände griffen danach. Diese Großzügigkeit bewahrte Musette vor weiteren Anbetteleien oder gar noch Schlimmerem!

Die Pferde des Wagens zogen an.

» Merci, Madame!« brüllte der eine Soldat und schwenkte sein Käppi.

Erschöpft und am ganzen Leibe zitternd kam Musette in ihrer Wohnung an. Die Zofe Germaine erwartete sie bereits mit Ungeduld.

»Hilf mir beim Auskleiden, Germaine,« bat Musette »und richte sofort ein Bad –!«

Germaine lächelte: » Madame, das Bad ist schon bereit! Die furchtbare Hitze und Aufregung in der Stadt! Hatten Madame Unannehmlichkeiten –?«

»Es genügt mir, Germaine! – Komm mit, Du mußt mich frottieren und ein wenig massieren!«

Eine halbe Stunde später, als Musette gebadet und abgetrocknet, nur mit einem leichten Morgenrock und dem Frisiermantel bekleidet in ihrem Schlafzimmer saß, konnte sie wieder lachen.

Germaine ordnete mit geschickten Fingern die Locken ihrer Herrin zu einer kunstvollen Frisur, deren Schwergewicht im Nacken saß.

»Paris ist verrückt!« meinte das Mädchen, das zu seiner Herrin in einem gewissen Freundschaftsverhältnis stand und für Musette durchs Feuer gegangen wäre.

» Tout à fait maboul! Überall wittern sie Spione, besonders wenn sie – besoffen sind. – – Vorhin hat die Polizei die alte Schwarz aus ihrer Wohnung herausgeholt. Sie kennen Sie doch, die alte Frau, die sich durch deutschen Unterricht ernährt. Sie stammt irgendwo aus Deutschland, erinnert sich aber vielleicht selbst nicht mehr genau ihrer eigentlichen Heimatstadt; ihr Mann war ein waschechter Franzose. Er war souschef de gare auf dem Lyoner Bahnhof. Aber heute ist sie wieder eine Boche. Sie soll seit Jahren für Preußen hier spioniert haben. – Der Epicier an der Ecke hat sie denunziert; wahrscheinlich, weil sie nie etwas bei ihm gekauft hat.

Vorhin kamen zwei Mouchards und holten sie ab, sie soll in ein Konzentrationslager kommen –«

»Die Leute sind verrückt!« murmelte Musette.

» Certainement, Madame!« bekräftigte die Zofe. »In der Rue de la Victoire wohnt ein kleiner Marchand de vins« fuhr Germaine fort. »Schneider heißt der Mann; der ist heute morgen auch auf das Kommissariat geschleppt worden, aber sie mußten ihn wieder laufen lassen, denn er konnte nachweisen, daß er trotz des deutschen Namens kein Boche ist. Er stammt aus Zürich in der Schweiz. Deutschsprechen Madame ist augenblicklich sehr gefährlich in Paris – –.«

»Die Spionenfurcht unserer Landsleute ist geradezu grotesk!« erwiderte Musette. Dann erhob sie sich plötzlich, ging zu einem Ruhebett, zog die etwas überraschte Germaine neben sich und ergriff die Hand des Mädchens.

»Germaine!« sagte Musette leise. »Ich habe kein Geheimnis vor Dir! Du bist mir mehr eine Freundin als Dienerin!«

»Das weiß ich, Madame! Aber – Madame – was ist Ihnen?!«

»Mir ist gar nicht sehr wohl zu Mute, Germaine! Kein Wort über die Geschichte im Eisenbahnzug darf über deine Lippen kommen!«

»Aber, Madame, nein! Madame wissen, daß ich verschwiegen bin!«

»Sei vorsichtig! Besser ist besser, Germaine! Wahre Deine Zunge! Vipiteno hat nichts geahnt; und doch – sein Benehmen vorige Woche war ein wenig seltsam. – – Ich bin keine Spionin, Germaine! – – Ich – ich habe mein Vaterland Frankreich nicht – verraten!«

»Heilige Mutter Gottes, Madame! Wer wagt es, derartiges zu behaupten!«

»Niemand, Germaine! Bis jetzt noch niemand! – Aber, wir müssen vorsichtig sein! Ich habe die Geschichte damals gemacht, Germaine, weil ich Vipiteno hasse wie den Teufel, und den anderen liebe, innigst liebe, mehr als mich selbst. Dieser andere steht jetzt drüben auf feindlicher Seite.«

»Das ist doch nicht Ihre Schuld, Madame!«

»Der furchtbare Krieg, den ich nicht gewollt habe, wird ein Ende nehmen!« sagte Musette leise. »Ich verabscheue den Krieg! Er wird hunderttausende von Opfern kosten, bei uns und – drüben bei den Preußen – – dort, wo Hans – Dietrich – Herr von Martini steht. –

»Ich – ich werde versuchen, diesen Opfern zu helfen, so gut ich es kann, Germaine. Morgen, heute noch, melde ich mich für den Sanitätsdienst. Das Rote Kreuz braucht ausgebildete Schwestern. Ich verstehe mich auf diese traurige und doch so befriedigende Beschäftigung. – – Man hat mich drüben, in Amerika, den ›Engel von Humaita‹ genannt, Germaine! Ich will gut machen, was ich – vielleicht doch an meinem Vaterland gefehlt und gesündigt habe –!«

Germaine schwieg eine Weile. Sie war innerlich von den Worten Musettes erschüttert.

» Madame!« meinte sie herzlich. »Sie quälen sich vollkommen zwecklos. Ihr Arbeiten für die Preußen war eine private Angelegenheit, richtete sich einzig und allein gegen den schuftigen Italiener. Nie haben Sie etwas Unehrenhaftes begangen. Daß Sie den armen Präsidenten von Paraguay, der so viel für Sie getan hat, an seinem Verräter zu rächen suchten, das, Madame, war Ihr gutes Recht, vielleicht sogar Ihre Pflicht – –!«

Madame de Lanory küßte Germaine zärtlich auf die Wange.

»Dank Dir, Germaine, für Deinen Trost!« Und dann nach kurzer Pause: »Bist Du fromm, Germaine? Glaubst Du an Gott – an unseren Heiland – – –?«

Germaine lächelte.

»Man hat mich zu Hause Religion gelehrt. Ich bin früher auch häufig zur Kirche gegangen. Aber, hier – in Paris –?«

Musette erhob sich – jetzt wieder ganz Herrin.

»Bring mir mein Kleid, Germaine, das schwarze Seidenkleid mit dem weißen Besatz. – Dann kleide Dich ebenfalls an. – – Wir gehen zur Beichte in die Madeleine – – –!«


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