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9. Kapitel.
Auf einen Schelm gehört ein doppelter Schelm.

Der Morgenschnellzug nach dem Mittelmeer ging in Paris um 6 Uhr 42 vom Lyoner Bahnhof ab.

Musette de Lanory wartete schon ab 6 Uhr im Wartesaal des Bahnhofes und las den ›Gaulois‹. Hinter ihr stand ein junges Mädchen und bewachte eine Anzahl Reiserequisiten, Hutschachteln, Reisetaschen und ein Plaid aus schottischem Wollstoff. Es war Musettes Zofe Germaine.

»Er kommt, Madame!« sagte die Zofe, die von ihrem Platze aus die Eingangstür im Auge halten konnte.

Musette legte langsam die Zeitung in ihre Falten und begrüßte mit einem frohen Lächeln den schnell näher tretenden Marchese de Vipiteno.

Dieser trug elegante, graue Reisekleidung und eine großkarierte Mütze. Er reichte Musette die Hand.

» Charmant, ma chérie!« sagte er galant. »Du stellst die alte Binsenweisheit, daß Frauen immer unpünktlich sein müssen, auf den Kopf. Verzeihung, daß ich Dich warten ließ, aber ich wurde kurz vor der Abfahrt noch aufgehalten. Wir haben übrigens noch viel Zeit, da das Coupé bereits im voraus bestellt worden ist. Entschuldige mich nun noch einen Augenblick; ich hole die Fahrkarten – –«

Musette hatte einen Fahrplan vor sich liegen, der eine Eisenbahnkarte von Frankreich enthielt.

»Welche Route nehmen wir, Félipe?« fragte sie. »Über den Mont Cenis oder die Riviera, Genua – –«

Vipiteno zeigte lachend sein Raubtiergebiß.

»Glaubst Du, daß ich die Kirche ums Dorf fahre. Es geht selbstredend über Marseille, Nizza, Ventimiglia – Genua!«

» Bon!« sagte Musette. »Ich will noch schnell eine Benachrichtigung für meinen Diener schreiben. Du brauchst Dich also nicht zu beeilen, Félipe. Du nimmst den Brief nachher gleich mit, Germaine –!«

Die Zofe knickste. »Sehr wohl, Madame!«

Musette nahm aus ihrem Réticule einen Bleistift und einen Notizblock und kritzelte einige Zeilen auf ein Blatt Papier. Dann schrieb sie die Adresse: ›An den Herrn Kommandanten der italienischen Grenzwache in Ventimiglia‹.

»Den Brief wirfst Du vorsichtig in den Postwagen unseres Zuges, Germaine!«

Das Mädchen lächelte verschmitzt.

»Wird besorgt, Madame!«

»Deine Instruktion kennst Du, Germaine?!«

» Madame können sich bestimmt auf mich verlassen! – – Vorsicht – der Marchese kommt –!«

Sofort nahm das Mädchen wieder die demütige, respektvolle Haltung und Miene der Dienerin an.

Musette erhob sich.

»Bringe das Gepäck in das Abteil, Du wirst an der Sperre den Diener des Herrn Marchese sehen. Er zeigt Dir das Coupé.«

Germaine verschwand.

Vipiteno und Musette folgten.

Draußen auf dem Bahnsteig herrschte der lebhafte Verkehr, der ziemlich allen Bahnhöfen von Paris eigen war.

Der Schnellzug nach dem Süden stand bereits unter Dampf.

An der Sperre wartete ein schlanker junger Mann in eleganter, dunkler Kleidung; er zog vor dem Marchese den Hut. Vipiteno erwiderte den Gruß auffallend höflich.

»Wer war der Herr?« fragte Musette. »Er kommt mir sehr bekannt vor –«

Vipiteno lachte.

»Du täuschst Dich! – – Das war der preußische Militärattaché Baron von Martini, ein flüchtiger Bekannter von mir. Den kennst Du nicht – –«

Nun lachte auch Musette.

»Das stimmt!« meinte sie. »Unter den Prussiens habe ich keine Bekannte; ausgenommen: Major Seyler, in Asuncion, Du erinnerst Dich vielleicht noch an den großen, breiten Kerl mit dem borstigen, roten Schnurrbart. Der stammte doch auch aus Deutschland – –?!«

Vipiteno schien diese Rückerinnerung an Paraguay wenig angenehm. Er wurde auch einer Antwort enthoben, denn der Diener erschien und meldete, daß das Gepäck verstaut sei.

»Haben Sie meine Zofe gesehen?« fragte Musette.

»Jawohl, die ist bereits wieder fortgegangen, Madame!«

Eine halbe Minute später saßen Vipiteno und Musette in einem reservierten Abteil erster Klasse.

Vipiteno brachte die Gepäckstücke unter und packte sofort einen Korb mit Lebensmitteln aus. Musette beobachtete belustigt und mit einem spöttischen Zug, wie Vipiteno Terrinen mit Gänseleber, zwei gebratene Hühner, Weißbrot, Früchte, mehrere Flaschen Wein und die nötigen Bestecke auf der einen Bank unterbrachte.

»Ulkig!« meinte Musette. »Es ist doch eine sonderbare Erscheinung, daß Leute, die sonst im Essen außerordentlich genügsam sind, im Eisenbahnzug einen geradezu anormalen Appetit entwickeln und die ganze Reise hindurch nichts weiter tun als – verzeihe! – fressen – –!«

Vipiteno holte aus seinem Korb noch eine Pfundbüchse Sardinen und antwortete:

»Ich bin auf der Reise mit dem Essen gern unabhängig. Das Essen in den Bahnhofswirtschaften schmeckt mir nicht. Zudem haben wir eine recht lange Tour vor uns – –.«

»Wann kommen wir an die Grenze?« fragte Musette.

»Gegen 8 Uhr heute abend. Wir reisen bis Genua durch. Ich habe im Hotel Minerva bereits zwei Zimmer vorausbestellt.«

Musette antwortete nicht sofort.

»Hast Du Deine Dokumente sicher untergebracht?«

Der Marchese deutete mit den Augen auf eine hohe Reisetasche, die in Perlenstickerei sinnig die Worte › Bon voyage‹ trug.

»Die Dokumente sind noch einmal gesichert, stecken in einem großen, braunen Portefeuille. – Meine Reise, Musette, bedeutet vielleicht einen Wendepunkt in der Geschichte Europas – –«

»Das ist durchaus möglich, Félipe« erwiderte Musette doppelsinnig.

Draußen auf dem Bahnsteig rannten die Schaffner hin und her, schlossen die Wagentüren.

Der Chef de gare mit seiner weißen Schirmmütze hatte schon die Pfeife angesetzt.

Ein Pfiff schrillte.

Die Maschine zog prustend an.

Der Schnellzug fuhr langsam aus der Halle.

Die Fahrt ging zuerst noch durch das Weichbild der Millionenstadt. Bei Conflens ließ der Schnellzug die Forts von Paris hinter sich und überquerte bei Charenton die Marne.

Vipiteno spielte zuerst den liebenswürdigen Kavalier, aber er war nicht recht bei der Sache.

Musette, die bei strahlender Laune war, sprach mehr als der Mann.

»Du scheinst ein wenig fané, Félipe?!« meinte sie teilnehmend.

»Verzeih!« erwiderte Vipiteno. »Ich bin wirklich müde! – – Du kannst Dir denken, welche Aufregungen mit der ganzen Geschichte verbunden waren. Ich bin Dir daher für Deine Begleitung, die mich ablenkt, herzlich dankbar. Aber ich habe die vergangene Nacht kaum eine Stunde schlafen können – –!«

»… und bin müde« ergänzte Musette, indem sie sofort nach einem Buch griff. »Bitte geniere Dich nicht! – Schlafe nur, ich habe für die nächsten Stunden Beschäftigung.«

Vipiteno gähnte hinter der vorgehaltenen Hand.

»Du hast recht!« erwiderte er, zog aus seiner Reisetasche ein Kissen und lag hinter Melun bereits in tiefem Schlaf.

Musette hatte zuerst mit wirklichem Interesse gelesen; jetzt klappte sie das Buch zu und betrachtete ihren Begleiter mit einem bösen Blick.

Vipiteno schnarchte mit offenem Munde, daß man seine gelben Zähne sah. Seine langen, schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn, und der Hemdkragen war zerknittert.

Musette empfand neben dem glühenden Haß, der sie beseelte, auch einen starken Widerwillen, geradezu Ekel an ihrem nichtsahnenden Reisegenossen. Sie schielte nach der Handtasche und überlegte schon, ob es nicht am klügsten wäre, die wertvollen Dokumente heimlich zu stehlen und mit irgendeiner Ausrede in Sens oder Iviguy den Zug zu verlassen. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort.

Es war ihr nicht nur darum zu tun, die Papiere in die Hände zu bekommen; sie mußte aus vielerlei Gründen auch alles vermeiden, was sie in den Verdacht des Diebstahls und der Spionage bringen konnte. Ihr Plan war genau durchdacht und mußte klappen.

So widerwärtig ihr der Gedanke auch war, gewissermaßen als Geliebte Vipitenos mit bis an die Grenze zu fahren, ihn, wenn nötig, sogar bis nach Italien zu begleiten – dieses Opfer mußte im Interesse der guten Sache gebracht werden.

Musette machte sich keine Gedanken, ob die Sache wirklich gut war. Sie strafte einen Verräter, den sie glühend haßte, und nützte dem Geliebten, der jetzt in Paris auf der Botschaft sitzen mochte und in seinen Gedanken bei ihr war. – –

In Dijon hatte der Zug einen fahrplanmäßigen Aufenthalt von zwanzig Minuten.

Im Jahre 1870 kannte man weder Speisewagen noch Toiletten in den Eisenbahnzügen. Zur Befriedigung der diversen Bedürfnisse des reisenden Publikums waren daher an größeren Stationen entsprechende Aufenthalte vorgesehen.

Musette verließ in Dijon leise das Abteil und ging langsam den Bahnsteig hinab, bis sie vor einem Coupé dritter Klasse des letzten Wagens stand. Ein gut gekleideter, aber etwas derb und vierschrötig aussehender Mann stand am Fenster; hinter ihm saß ein junges, hübsches Mädchen, das bei genauem Ansehen der Zofe Germaine glich, nur war Germaine blond, während die junge Dame im Abteil schwarze Locken hatte.

Musette wechselte mit dem Manne und der schwarzlockigen jungen Frau einen verstohlenen Blick und sagte nur leise: »Fünf Uhr Avignon!« Dann kehrte sie wieder in ihr Abteil zurück.

Der Zug fuhr endlich weiter.

Vipiteno schlief immer noch. Erst als der Schnellzug in den Bahnhof Lyon eingefahren war, gähnte er und erwachte langsam.

»Wie steht es mit dem Appetit?« fragte er und griff, ohne die Antwort abzuwarten, nach einem großen Weißbrot.

Musette dankte verstimmt, ohne sich eigentlich über den Grund ihrer Verärgerung Rechenschaft geben zu können.

Vipiteno sah sie überrascht an.

»Was ist Dir?« fragte er.

»Ich habe Kopfschmerzen« erwiderte Musette. »Das Reisen bekommt mir nicht.«

»Du mußt etwas essen!« sagte der Mann und begann, ein Huhn kunstgerecht zu zerlegen.

Musette nahm mit kurzem Dank einen in eine weiße Papierserviette gewickelten Schenkel an und knabberte – mit ihren Gedanken ganz woanders – an dem Fleisch.

Der Zug fuhr weiter – die Rhône hinab. St. Etienne, Tournon, Valence wurden erreicht. Je näher der Schnellzug Avignon kam, umso nervöser wurde Musette. Aber sie riß sich gewaltsam zusammen. – Nur jetzt Ruhe behalten!

In Avignon war wieder ein Aufenthalt von fünfzehn Minuten.

»Ich habe eine Bitte!« sagte Musette. »Hole mir doch, bitte, aus dem Restaurant eine Flasche Vichy-Wasser!«

»Darf ich Dir vielleicht ein Glas Médoc anbieten?« fragte Vipiteno.

»Um Gottes Willen! Keinen Wein!« rief Musette.

Vipiteno erhob sich sofort und ging nach dem Wartesaal.

Am Buffet trank er einen Kirsch und ließ sich eine Flasche Vichy-Wasser einpacken.

Im Wartesaal saßen ein Dutzend Gäste, Geschäftsreisende, zwei, drei Weinhändler, die laut und anscheinend schon etwas angeheitert debattierten.

Neben Vipiteno stand ein großer, vierschrötiger Mann, mit einer Mustertasche, wie sie Geschäftsreisende mit sich führten.

Ein Blick auf die Bahnhofsuhr sagte Vipiteno, daß der Zug in fünf Minuten weiterfahren mußte. Er wollte auf den Bahnsteig hinausgehen, als ihn der Geschäftsreisende plötzlich am Arm ergriff, und laut um Hilfe schrie.

Vipiteno verstand die Situation nicht recht. –

Der Kerl brüllte etwas von »Bestohlen! Meine Brieftasche ist weg!« Dann schrie er: »Der – – der – – hat mir meine Brieftasche gestohlen!« und deutete auf Vipiteno.

Der Marchese glaubte zuerst, einen Betrunkenen vor sich zu haben, und wollte dessen Arm abschütteln; aber der Kerl gab keine Ruhe, schrie: »Haltet den Dieb!« und schon lief das ganze Restaurant zusammen.

In Vipiteno stieg jetzt die Wut auf.

»Sie, Idiot!« brüllte er. »Lassen Sie meinen Arm sofort los; sonst – –!«

Aber der andere hielt ihn fest.

»Geben Sie mir meine Brieftasche heraus!«

»Sie sind wohl irrsinnig!«

Der Marchese holte aus und versetzte dem anderen eine schallende Ohrfeige. Aber jetzt stürzte sich dieser auf den weit schwächeren und auch älteren Italiener.

Andere Gäste sprangen hinzu.

Ein Gendarm tauchte auf.

Vipiteno wurde von drei, vier, acht Fäusten gepackt.

Draußen gab der Chef de gare mit seiner Pfeife das Abfahrtszeichen.

»Ich muß mit dem Zug mit!« schrie Vipiteno mit vor Wut und Aufregung überschnappender Stimme.

»Das glaube ich gern!« erwiderte der Geschäftsreisende, der jetzt auffallend ruhig geworden war. »Herr Brigadier, ich beschuldige diesen Kerl, hier –«

»Wer ist Ihr Kerl?!« brüllte Vipiteno.

»Ich beschuldige diesen Burschen,« fuhr der andere fort »mir soeben am Buffet die Brieftasche gezogen zu haben! Ich bitte um Ihren Schutz, Herr Brigadier!«

Der Gendarm setzte eine dienstliche Miene auf.

»Ich werde den Fall aufklären, Messieurs!« sagte er.

»Und – draußen fährt mein Zug ab! Mein Gepäck!« brüllte der Marchese.

»Dann fahren Sie mit dem nächsten Zuge nach!« erwiderte der Gendarm ruhig. »Bitte, wollen die Herren mit auf die Wache kommen! – – Zuerst muß der Diebstahl geklärt werden!«

Vipiteno beruhigte sich ein wenig. Der Zug war längst fort! Daran war nichts zu ändern; aber Musette war im Abteil zurückgeblieben, und sein wertvolles Gepäck war in bester Hut. Der Unsinn, den der anscheinend besoffene Kerl verzapfte, die lächerliche Diebstahlsbezichtigung mußte sich in wenigen Minuten aufklären.

»Ich weiche der Gewalt!« sagte er ruhig, aber innerlich vor Wut kochend. »Wer ich bin, Gendarm, will ich Ihnen auf der Wache sagen. – – Und Sie, mein Herr, Sie werden die Verantwortung für Ihre Beschuldigung zu tragen haben – –!«

Der Gendarm verließ mit den beiden Männern, dem Dieb und dem Geschädigten, das Bahnhofsrestaurant.

Für Avignon bedeutete die Festnahme eines Taschendiebes, der am Buffet in flagranti erwischt worden war, natürlich eine Sensation.

* * *

Während Vipiteno zähneknirschend vor Wut und Erregung neben dem Hüter des Gesetzes und dem Anzeiger des Diebstahls durch die stillen Straßen von Avignon nach dem Hotel de ville ging, fuhr der Schnellzug weiter und hatte nach etwa zwanzig Minuten Tarascon erreicht.

Musette war allein im Abteil.

Als der Schnellzug nach einigen Minuten Aufenthalt weiter fuhr und auf Arles zusteuerte, zog Musette ein kleines Messer mit einer schmalen, papierdünnen, scharfen Klinge. Jetzt, wo sie unmittelbar vor Vollendung ihres gefährlichen Vorhabens stand, war sie vollkommen ruhig und arbeitete mit einer Sicherheit, als sei sie ihr ganzes Leben lang eine Diebin von Profession gewesen.

Sie trennte an beiden Reisetaschen, auch an der, die ihr Eigentum war, die Rückwände an den Nähten auf, und zog aus der des Marchese eine dünne, braune Aktentasche, die die Papiere enthalten mußte. Da die Ledertasche einen festen Verschluß hatte, trennte sie auch hier die Naht auf, prüfte den Inhalt, und ein befriedigendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann zog sie eine Packnadel mit festem Faden aus ihrem Réticule und vernähte die Schnittstellen, aber so, daß jeder sofort die eilige Pfuscharbeit erkennen mußte.

Als der Zug in Arles einlief, verpackte Musette die Dokumententasche des Marchese in eine Zeitung und trat ans Fenster.

Auf dem Nebengleis stand ein Schnellzug in entgegengesetzter Fahrtrichtung. Germaine in ihrer schwarzen Lockenperücke tauchte auf, blieb, wie zufällig, vor dem Fenster Musettes stehen und nahm die in Papier eingepackte Tasche in Empfang.

»In einem kleinen Päckchen« flüsterte Musette »liegt die Rückfahrkarte nach Paris. Du fährst diesmal die andere Strecke – über Alais, Clermont, Ferrand, Nevers! Da drüben steht der Zug! Die Tasche lieferst Du sofort ab! – Hast Du verstanden, Germaine?«

»Vollkommen, Madame! Gute Reise!«

Das Mädchen ging mit langsamen Schritten nach der Unterführung und bestieg den Zug auf dem Nebengleis. – –

Als der Schnellzug nach Paris wenige Minuten später abging, stand Musette am Fenster ihres Abteils und winkte der Zofe ein Lebewohl zu.

Dann schloß sie die Fenster und fiel jetzt mit einem Heißhunger über die Vorräte des Marchese her. Von Kopfschmerzen oder einer Verstimmung war Musette jetzt nichts mehr anzumerken.

Inzwischen hatte sich auf der Polizeiwache in Avignon eine dramatische Szene abgespielt.

Die Situation war für Vipiteno zuerst durchaus ungünstig, sogar bedenklich, da der Bestohlene als Hauptinhalt seiner Brieftasche einen hohen Geldbetrag in italienischen Banknoten angab. Die Brieftasche des Verhafteten hatte zwar mit der des Geschädigten keine Ähnlichkeit, enthielt aber einen erheblichen Geldbetrag in italienischen Kassenscheinen.

Aber Vipiteno besaß seinen Diplomatenpaß, wies sich aus, und jetzt, nachdem die Identität des ›Taschendiebs‹ in überraschender Weise aufgeklärt war, wurde auch der Anzeiger wankend.

Er konnte natürlich nicht annehmen, daß ausgerechnet ein Militärattaché der italienischen Botschaft in Paris seine Brieftasche gestohlen hätte.

»Aber mein Geld ist doch weg, ist im Bahnhof gestohlen worden!« jammerte er.

Der commissaire de police vermittelte.

»Das bezweifeln wir nicht, Monsieur. Sie werden aber nicht ernsthaft behaupten wollen, daß Herr Marchese de Vipiteno es nötig hätte, Ihnen das Geld zu klauen – –!«

» Certainement, Monsieur! Das behaupte ich jetzt auch nur bedingt – –!«

»Was heißt bedingt?!« fuhr der commissaire de police wütend auf. »Haben Sie positiv gesehen, daß der Herr Marchese der filou war? – Können Sie es auf Ihren Eid nehmen, daß der Herr Marchese seine Hand in Ihrer Tasche hatte – –?!«

»Heilige Mutter Gottes! Nein! Das nicht! Wo werde ich! Aber – – – es war sonst niemand in meiner Nähe als gerade der Herr Marchese –!«

»Wissen Sie ganz bestimmt, daß Ihnen die Tasche erst am Buffet gestohlen wurde? – – Sie kann doch vorher schon abhanden gekommen sein –?!«

»Ich vermißte sie erst im Restaurant –!«

»Möglich! – Aber« fuhr der Kommissar triumphierend fort »das ist doch durchaus kein Beweis dafür, daß sie nicht schon vorher auf dem Perron, im Zug oder sonstwo gestohlen wurde! –«

Der Geschädigte mußte die Möglichkeit recht kleinlaut zugeben.

»Damit kommt mein Geld aber nicht zurück!« meinte er wehmütig.

Der Kommissar zuckte mit den Achseln und wandte sich jetzt mit vollendeter Höflichkeit an den Diplomaten.

»Herr Marquis!« sagte er. »Sie sind natürlich frei! Ich bitte um Verzeihung! Aber ich mußte meine Pflicht tun – –!«

Vipiteno würdigte weder den total niedergeschlagenen, laut jammernden Bestohlenen noch den Beamten einer Antwort.

»Wissen Sie, wann der nächste Schnellzug nach Marseille geht?« fragte er kurz.

Der Polizeikommissar trat sofort an einen Fahrplan, der an der einen Wandseite hing.

»Erst heute abend um 9 Uhr 45, Herr Marquis! Um 7 Uhr geht ein Personenzug, der aber später ankommt als der Postzug – –«

Vipiteno unterdrückte einen Fluch.

»Dann muß ich einen Extrazug mieten! Ich muß den fahrplanmäßigen Pariser Morgenzug noch vor Ventimiglia erreichen – –«

Die Verhandlungen auf dem Bahnhofe waren für Vipiteno eine Qual.

Der Chef de gare machte Einwände. Erst hatte er keine Maschine; dann stellte er fest, daß die Strecke zwischen Arles und Marseille durch drei Güterzüge versperrt sei; endlich – nach langem Her und Hin, und nachdem Vipiteno ein kleines Vermögen geopfert hatte, wurde der Extrazug zusammengestellt.

Drei Stunden nach der Abfahrt des fahrplanmäßigen Pariser Morgenzuges ratterte die Extramaschine mit einem einzigen Wagen erster Klasse aus dem Bahnhof in Avignon.

Die Fahrt ging natürlich flott und ununterbrochen vonstatten. Aber sie dauerte dem Marchese begreiflicherweise doch viel zu lange.

Der kleine Zug sauste hinter Marseille am Meeresstrand entlang, aber Vipiteno fieberte; er hatte für das prächtige landschaftliche Bild, für das Meer, das wild brandend an die felsigen Ufer des Departements Bouches du Rhône schlug, keinen Blick.

Auf dem Bahnhof in Toulon erreichte ihn ein Bahntelegramm, mit der Meldung, daß der fahrplanmäßige Schnellzug bereits Nizza passiert hätte.

Vipiteno ergab sich jetzt mit einem gewissen Galgenhumor in sein Schicksal. Ein Einholen des Zuges vor der italienischen Grenze war nicht mehr möglich.

Hoffentlich hatte Musette, was ohne weiteres anzunehmen war, das Gepäck gut behütet und erwartete ihn in Ventimiglia. Auf die Klugheit dieser Frau konnte er sich schließlich verlassen.

Fréjus und Nizza wurden erreicht; die Riviera mit ihrer üppigen Vegetation tat sich auf. Hohe Fächerpalmen säumten die Landstraße ein, die sich neben den Eisenbahngleisen hinzog. Cannes, Antibes, Nizza, Monaco wurden durchfahren.

Jetzt endlich zeigten sich die Güterhallen des großen Zollbahnhofs von Ventimiglia. Der kleine Zug ratterte über die Weichen und fuhr in den Bahnhof Ventimiglia ein.

Vipiteno stand am offenen Fenster und suchte Musette, die irgendwo auf dem Bahnhof stehen mußte und ihn wahrscheinlich sehnsüchtig erwartete.

Aber von Musette war nichts zu sehen; dafür umringten, kaum daß der Zug stand, ein Dutzend schwer bewaffnete italienische Alpenjäger unter Führung eines Offiziers den Wagen erster Klasse.

Vipiteno stieg aus. Sofort trat der Offizier, die Hand am Hut, auf ihn zu.

» Marchese de Vipiteno?« fragte er ernst.

» Si, Signore!«

»Sie sind verhaftet, Signore!« erklärte der Offizier. »Ich bitte, mir unauffällig zu folgen –!«

Vipiteno verstand nicht sofort. – Ihn verhaften! – – Das zweite Mal an einem Tage – – ihn, den Militärattaché Italiens bei der Botschaft in Paris?! – – Verrückt – –! Das mußte ein Irrtum sein – mußte sich sofort aufklären – –!

Er antwortete überhaupt nicht – ging aber mit dem Offizier langsam über die Gleise nach der Wachtstube der Alpini, die hier den militärischen Grenzdienst versahen. Die Soldaten trabten mit ihren aufgepflanzten Seitengewehren hinterher.

Der Transport ging aber durchaus nicht so unauffällig vor sich, wie Vipiteno angenommen hatte. Überall folgten ihm neugierige Blicke.

Der ganze Bahnhof in Ventimiglia, und zwar sowohl die Franzosen wie auch die dort stationierten Italiener wußten, daß vor einigen Stunden ein anonymer Brief aus Paris angekommen war mit sehr interessanten Aufklärungen über einen sogenannten Marchese de Vipiteno, der mit gefälschten Papieren reiste, in Wirklichkeit aber ein gefährlicher Carbonaro (Anarchist) war. Seine Begleiterin, eine Abenteuerin – Musette de Lanory –, die in dem gleichen Briefe ebenfalls denunziert worden war, hatte man aus dem Schnellzuge nach Genua schon herausgeholt.

Jetzt ging auch der Hochstapler und Verschwörer, der sich als Marchese ausgab, den Behörden ins Garn.

Das Bahnhofspersonal wußte aber noch mehr. Es wußte, daß die festgenommene Frau einen tollen Krach geschlagen hatte, weil sowohl ihr Gepäck wie auch das ihres Begleiters, der in Avignon zurückbleiben mußte, inzwischen auf raffinierte Weise beraubt worden war. Was dem Mann fehlte, konnte die Frau nicht angeben; aber ihr hätten unbekannte Gauner den ganzen Schmuck und die gesamte Reisekasse in Höhe von siebentausend Franken gestohlen.

In Ventimiglia regte man sich über den Diebstahl nicht sonderlich auf. Gestohlen wurde damals in Italien sehr intensiv, und in diesem Falle traf es ja keine armen Leute.

Weit interessanter war die Festnahme der zwei gefährlichen Verschwörer, und es bedeutete eine ungeheuere Sensation und eine gewisse Enttäuschung, als am kommenden Tage auf ein Telegramm der Grenzpolizei hin ein feiner Herr aus Florenz in Ventimiglia anlangte, der die Identität des Marchese und Diplomaten einwandfrei bestätigte.

Die Polizei war nämlich auf eine anonyme Denunziation schwer hereingefallen.

Der Marchese reiste zwei Stunden später in Begleitung des Florentiners, der ihn identifiziert hatte, weiter. – Die Frau hatte kurz zuvor mit dem Marchese einen furchtbaren Krach. Sie regte sich, wie dies bei Frauen ja durchaus verständlich sein mochte, über den Diebstahl, über den Verlust ihres Schmuckes und Geldes mehr auf, als es die Sache vielleicht verdient hätte, und war unter gar keinen Umständen zu bewegen, die Reise nach Italien fortzusetzen.

Der Marchese mochte vielleicht selbst froh sein, das exaltierte Frauenzimmer loszuwerden; er kaufte ihr eine Karte erster Klasse nach Paris.

Und mit der Abfahrt des Marchese nach Florenz und der Rückkehr der Frau nach Paris war der Zwischenfall in Ventimiglia, der sich zuerst so vielversprechend angelassen hatte, auf eine für die Unbeteiligten leider recht nüchterne Art und Weise erledigt.


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