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Zwei stark angetrunkene Masken, Pierrots in schmutzigen, zerrissenen Kostümen, an denen der Straßenkot sichtbare Spuren hinterlassen hatte, taumelten durch die Rue de Rambuteau in Paris.
Der Ältere, in einem gelben Nankingkostüm, gröhlte mit überschnappender, manchmal versagender Stimme das Lied von Marlborough, der in den Krieg zieht, und schleifte seinen anscheinend sinnlos betrunkenen Begleiter am Arme nach.
An der Ecke des Boulevards Sebastopol standen zwei Stadtsergeanten in ihren blauen Fräcken und Dreispitzen und beobachteten, die Hände auf dem Rücken, mit mehr persönlicher denn dienstlicher Anteilnahme die seltsame Gruppe. Soeben entglitt der Betrunkene den Händen seines Begleiters und lag wie ein Klotz auf dem Asphalt. Der gelbe Pierrot machte verzweifelte Anstrengungen, das leblose Maskenbündel hochzuziehen, schließlich wischte er sich den Schweiß unter der spitzen, blaurotgestreiften Clownsmütze ab und ließ resigniert die Arme sinken.
Die Polizisten kamen lachend näher.
»Ich bin nicht voll, Messieurs, ich bin ganz nüchtern!« stammelte der Pierrot. »Aber – – der – – der – da – – hat einen auf die Lampe gegossen.«
»Es könnten auch mehrere gewesen sein« erwiderte der eine Stadtsergeant grinsend. »Der hat genug, und auch Du, mein Freund, – Du solltest Dich in die Klappe legen. Du hast's genau so nötig – – – wie der da – –!«
»Ich bin aber noch lange nicht voll, ich bin wirklich nicht voll!« wiederholte die Maske wie ein eigensinniges Kind.
Die beiden Stadtsergeanten hatten inzwischen den Betrunkenen mit einer kräftigen Armbewegung, die eine gewisse Routine verriet, auf die Beine gestellt. Der arme Teufel sackte aber sofort wieder in sich zusammen. Neugierige, Bummler, Soldaten, Männer und Frauen in Masken und in bürgerlichen Kleidern sammelten sich um die Gruppe, gaben gute Ratschläge, lachten, machten faule Witze. Die beiden Stadtsergeanten gingen mit taktmäßigen Schritten, die Hände auf dem Rücken, wieder zurück nach der Ecke des Boulevards.
Mochten die beiden Kerle sehen, wie sie allein nach Hause kamen. An der Straßenecke, an ihrem Standplatz, gab es heute Interessanteres zu sehen und vielleicht auch zu erleben.
Durch den breiten Boulevard de Sebastopol tollte und raste der Pariser Karneval. Auf dem Opernplatz ballte sich der Haupttrubel zusammen; dort gellte, schrie und brodelte ein wildes Inferno. Die Nacht war zum Tag geworden. Die kaiserliche Polizei stand zwar unter Alarm, aber sie schloß gern beide Augen.
Von oben herunter, direkt von der Polizeipräfektur, war ein deutlicher Wink gekommen, heute nur in ganz dringenden Fällen einzugreifen; und der Polizeipräfekt, Herr von Deauville, mochte wohl seine dahingehenden Instruktionen ziemlich direkt vom Kaiser erhalten haben.
Napoleon der Dritte stand damals – im Jahre 1862 – auf dem Gipfelpunkt seiner Macht. Der Feldzug in der Lombardei war vor etwa drei Jahren bei Solferino durch das Übergewicht der französischen Waffen siegreich entschieden worden, nachdem schon der Krimkrieg Lorbeerkränze um die französischen Adler gewunden hatte.
Auch das neueste politische Abenteuer, in das der Parvenu und Va-Banque-Spieler auf dem Thron die Franzosen gehetzt hatte, die bewaffnete Intervention gegen den Präsidenten Juarez von Mexiko, schien sich aussichtsreich und ruhmvoll anzulassen.
Und Napoleon der Dritte kannte seine Landsleute. So lange er durch glänzende Waffentaten ihrem Ehrgeiz schmeichelte, stand sein Thron fest. Nur die Franzosen – und Paris war Frankreich – nicht zur Ruhe kommen lassen, sie vor allem in Kleinigkeiten nicht verärgern!
Die Polizei blieb die ganze Karnevalswoche über so gut wie tatenlos, die gefürchteten Geheimpolizisten, vom Volkswitz Mouchards genannt, hockten trübselig in der Polizeipräfektur.
Die Straße gehörte heute dem Volk. – In den Zugangsstraßen zum Opernplatz feierte die Ausgelassenheit Orgien; erst in der Nähe der Nationalbibliothek flaute der Trubel ab, und in den schmalen, schlecht beleuchteten Seitengäßchen merkte man vom eigentlichen Karnevalstreiben überhaupt nichts mehr; höchstens, daß eine dicht vermummte Maske schnell den Boulevard des Italiens oder die Richelieustraße zu erreichen suchte, oder daß eine Rotte Betrunkener die für den Tag abgeänderte und sonst eigentlich verpönte Marseillaise › Allons enfants de la patrie, le jour de boire est arrivé!‹ mit möglichstem Stimmenaufwand in die Nacht hinaus gröhlte.
In Paris spielte sich, damals vielleicht noch mehr als heute, das öffentliche Leben hauptsächlich in den Straßen ab. Der Faschingsbetrieb in den zahlreichen Lokalen war mehr nebensächlicher Natur, und das kleine Cafe ›Zum Krieger von Magenta‹ in der westlichen St. Honoréstraße wies gegen Mitternacht nur einige Stammgäste auf.
Sie hockten vor ihrem Glas Rotwein oder Absynth, die Dominosteine vor sich auf den Tischen, aufmerksam, vielleicht sogar im gewissen Sinne mißtrauisch betreut von ›Madame‹, die hoheitsvoll hinter dem Buffetaufbau von Likör, Schnaps und Weinflaschen thronte.
Neben dem Buffet lag das sogenannte Extrazimmer, wo der südamerikanische Club heute Karneval zu feiern schien.
Aber auch hier herrschte keine Ausgelassenheit oder auch nur Lustigkeit. Man hätte fast glauben können, in eine Gesellschaft von Verschwörern oder Aufrührern geraten zu sein.
An einem runden Tisch, dessen ehemals weißes Tischtuch über und über mit Weinflecken beschmutzt war, saßen unter der heißen Gaskrone ein Dutzend, meistens junge Männer. Sie schienen aufmerksam, teilweise erregt und mit glühenden Wangen den Ausführungen eines gelblichen Mestizen zu lauschen. Dieser, ein etwa dreißigjähriger, überschlanker Mann, mit langen, schwarzen Haaren sprach spanisch mit unverkennbarem südamerikanischen Akzent.
Jetzt hob er sein Absynthglas mit der milchigen, weißen Flüssigkeit gegen einen elegant gekleideten, mittelgroßen Stutzer:
»Evviva nuestro Francisco Solano Lopez!« rief er mit Pathos, dann trank er das Glas so hastig und in einem einzigen Zuge aus, daß er seinen braunen Gehrock und die nicht mehr ganz einwandfrei saubere, weiße Krawatte benetzte.
Der durch den Trinkspruch Gefeierte tat gelassen, beinahe müde Bescheid. Dann erhob er sich und antwortete, leise, fast ein wenig verträumt; aber man merkte seinen Worten an, daß er genau zu überlegen schien, was er sagte.
Er trug einen eleganten, schwarzen Frack und hatte den breitrandigen Zylinderhut in den Nacken geschoben. Sein rundes, etwas sinnliches Gesicht wirkte nicht unschön und verriet die indianische Abstammung, wenn auch vielleicht schon in der dritten oder vierten Generation. Die zusammengewachsenen Augenbrauen gaben dem Gesicht etwas Energisches; aber die träumerischen, mandelförmig geschnittenen Augen und der volle Mund unter dem gepflegten, weichen Schnurrbart straften diese vorgetäuschte Energie Lügen.
Francisco Solano Lopez, der Sohn des Diktators von Paraguay, war eine schwärmerische, vielleicht sogar etwas phantastische Natur, versehen und behaftet mit allen Vorzügen der spanisch-amerikanischen Mischlingsrasse. Er hatte unter der Oberleitung von spanischen und deutschen Jesuitenpatres eine gute Erziehung erhalten, trat schon mit achtzehn Jahren als Brigadegeneral in die Armee seines kleinen Heimatstaates ein, nahm rühmlichen Anteil an der Vertreibung des Tyrannen Rosas von Argentinien und hielt sich für einen ebensolchen genialen Heerführer wie großen Diplomaten.
Ein längerer Aufenthalt in Preußen galt dem Studium des modernen Heerwesens. In Paris studierte er ausgiebig Wein und Weib und war, da er über beträchtliche finanzielle Mittel verfügte, bald der Mittelpunkt jener Welt, die sich nicht langweilt.
Die zahlreichen Schmarotzer und Stellenjäger, die sich an seine Sohlen hefteten, wußten zu genau, daß der alte Diktator Carlos Antonio Lopez in Paraguay schon lange die Nachfolge seines Sohnes Francisco Solano testamentarisch sichergestellt hatte – – – – – und die Lebenstage des alten Herrn drüben in Asuncion, der paraguayischen Hauptstadt, waren gezählt. – Die zahlreichen Zechfreunde, politische Abenteurer aus aller Herren Länder fühlten sich schon als die späteren Minister, Heerführer und Diplomaten.
Francisco Solano Lopez antwortete betont ruhig auf die wilde Rede des Mestizen, eines rücksichtslosen Parteigängers, der schon unter Oribe in Uruguay gekämpft hatte.
Lopez dankte seinen Freunden in gesetzten Worten für ihre Treue und Anhänglichkeit, versprach ihre Gefühle in aller Kürze zu belohnen, warnte aber vor übereilten Schritten und schloß mit den Worten:
»Unser Wahlspruch bleibt nach wie vor: Geduld, Klugheit, Freiheit!«
Zustimmende Rufe, Beifallsklatschen tönte durch den kleinen überhitzten Raum.
Plötzlich wurde die Tür hastig aufgerissen. Ein großer, breitschulteriger Mann stand auf der Schwelle.
Sein kaltes, bleiches Gesicht mit dem tiefschwarzen Knebelbart wirkte beinahe dämonisch. Er hob beschwichtigend den rechten Arm, schloß vorsichtig die Tür zum allgemeinen Gastraum des Cafes und trat einige Schritte auf Lopez zu.
Dieser hatte sich sofort erhoben, sein gelbliches Gesicht wurde um einen Schein bleicher.
»Cimasoni!« rief er beinahe zitternd. »Was bringen Sie – – –? Sprechen Sie ungeniert, die Herren sind alle meine Freunde –!«
» Excelencia!« erwiderte der mit Cimasoni Angeredete. »Ich suche Sie den ganzen Abend. Der heiligen Jungfrau von Brescia sei Dank, daß ich Sie endlich gefunden habe! Sie müssen sofort Paris verlassen, Don Francisco Solano! Müssen morgen schon nach Le Havre abreisen. Am Donnerstag fährt die ›Queen Elizabeth‹ nach Buenos Aires ab.«
Lopez war kreidebleich geworden, seine Mienen wurden starr.
»Cimasoni!« stammelte er, seine etwas schiefstehenden schwarzen Augen funkelten. »Mein – Vater? – – Er – ist – – tot?«
»Nein!« erwiderte der andere lauernd. »Noch nicht – – aber – –!« Er betonte jedes einzelne Wort. »Ich habe sichere Nachrichten, daß der Tod jede Woche, vielleicht täglich zu erwarten ist. Sie wissen, Excelencia, was diese Nachricht für Sie bedeutet, was für Sie auf dem Spiele steht. Ich habe Ihnen weiter nichts zu sagen, Don Francisco Solano. Ich wiederhole: Fort von Paris! So schnell wie möglich fort!«
Lopez schwieg. – Seine Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen; seine weichen Züge wurden hart, verzerrten sich zu einer fast widerwärtigen Grimasse. Er gab seiner Gestalt einen Ruck, warf einen Blick auf die Zechgenossen, die sich schweigend erhoben hatten. Dann klemmte er die rechte Hand in Napoleonspose in den Brustausschnitt seiner Weste und sagte mit möglichst fester und ruhiger Stimme:
»Ich danke Ihnen, Major Cimasoni! – Ich reise morgen ab!«
Der Major streifte die Zechgesellschaft mit einem schnellen, fast verächtlichen Blick; aber, als er sich erneut an Lopez wandte, bekam sein Gesicht einen demütigen, unterwürfigen Zug.
»Ich bitte, Excelencia, schicken Sie diese Leute weg. – – Draußen – wartet – – noch jemand!«
Lopez zog erstaunt die Brauen hoch. Er wollte eine Frage stellen, aber schon hatte Cimasoni die Tür geöffnet. Eine junge, schlanke Frau in hellem, ballmäßigem Seidenkleid flog ins Zimmer, warf sich, ohne die anwesenden Männer zu beachten, dem Südamerikaner an den Hals.
Cimasoni gab den übrigen Gästen einen Wink. Schweigend, ohne Abschied verließen sie das Zimmer.
»François! Mein lieber, kleiner François Solane! schluchzte die Frau und bedeckte das Gesicht des Mannes mit wilden Küssen. »Du gehst fort, fort von Paris! – – Du – Du willst mich verlassen?!«
Francisco Solano machte sich sanft aus den Armen der jungen, zitternden Frau los und bog ihren Kopf leicht nach hinten.
Er sah in ein feingeschnittenes, vor nervöser Aufregung zuckendes Gesichtchen, das von einer Fülle schwarzer Locken umrahmt war. In die weiße Bepuderung hatten die Tränen scharfe Furchen gezogen.
»Musette!« erwiderte er zärtlich. »Tröste Dich, meine kleine Musette. Ich komme – bestimmt wieder – –!«
»Nein – – – Nein!« schrie die Frau gellend auf, daß Cimasoni zusammenzuckte und sich unwillkürlich vor die Tür stellte.
»Nein!« schrie Musette noch einmal. »Du – Du wirst niemals zurückkehren! Ich lasse Dich nicht abreisen – –!«
Lopez schüttelte den Kopf.
»Liebe Musette,« sagte er mit Pathos »Du wirst die Weltgeschichte nicht aufhalten können.«
Die junge Frau hatte beide Hände des Mannes ergriffen.
»Ich lasse Dich nicht allein abreisen, François!« erwiderte sie energisch. »Wer weiß, wie bald Du eine liebende, kluge Frau dringend benötigst. Nimm mich mit, François Solane! – – Bitte – laß mich – mit Dir nach Amerika reisen!«.
Schmeichelnd hing Musette, kätzchengleich, am Halse des Mannes.
Francisco Solano Lopez wurde weich, wankend. Der Gedanke schien gar nicht so schlecht.
Warum sollte er die Geliebte nicht mit hinübernehmen? Was hinderte ihn eigentlich, ihren Wunsch zu erfüllen? In eingeweihten Kreisen nannte man die kleine Musette de Lanory, ehemalige Tänzerin der Opéra Comique, schon lange scherzhaft die ›Pompadour von Paraguay‹. Zu einem Louis Quinze, mit dem er, Lopez, sich durchaus wesensverwandt fühlte, gehörte eigentlich eine Pompadour. Sei – – es!
Er riß die zierliche, schlanke Frauengestalt in seine Arme und preßte einen heißen Kuß auf die rot geschminkten Lippen. Dann machte er sich frei und zwang seine innere Erregung gewaltsam hinab.
»Gemacht, Musette! Wir bleiben zusammen! Aber – jetzt bitte brav und vernünftig sein! Wir reisen morgen nach Le Havre und von dort nach Amerika!«
Den Jubelschrei des Mädchens erstickte er in einem neuen, heißen und langen Kuß.