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Der preußische Botschafter Baron von Werther ging in sichtbarer Erregung in seinem Arbeitszimmer auf und ab.
In einem Lehnsessel, rechts neben dem Schreibtisch des Botschafters, saß der Militärattaché von Martini und verfolgte die Erregung seines Chefs mit einem feinen, kaum merkbaren Lächeln.
»Ich kann mir nicht helfen, lieber Martini!« sagte der Botschafter. »Ich bin noch einer von der alten Garde. Ich vertrete grundsätzlich die Ansicht, daß die Frauen ihre Finger von der Politik lassen sollten; und für Spionage bin ich schon gar nicht zu haben!«
»Man muß aber leider mit den Wölfen heulen, Exzellenz!«
»Richtig! – Die anderen halten sich ja auch Spione! Das stimmt, und sie geben sogar ganz klotzige Gelder für diese höchst zweifelhafte Sorte von Menschen aus. Das sehe ich alles ein; aber ich kann mich in meinen alten Tagen nicht umkrempeln. Ein Spion ist mir widerwärtig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die anderen – – sagen wir mal – – modernere Ansichten auf diesem Gebiet haben.«
»Spione sind ein notwendiges Übel,« erwiderte Hans Dietrich von Martini »augenblicklich notwendiger, denn je. Die Lage ist bitter ernst, Exzellenz – – Der Krieg mit Frankreich – –!«
»Den Gott in letzter Minute noch verhüten möge! – –« warf der Botschafter schnell ein.
»Er steht meines Erachtens vor der Tür, und ich kann nur hoffen, daß er bald kommt. Die Franzosen haben – wie immer – die große Klappe. Nous sommes prêt, archiprêt!« – – Bereit, erzbereit bis zum letzten Gamaschenknopf. So oder ähnlich hat sich vor einigen Tagen der Kriegsminister Leboeuf geäußert.
»Das stimmt aber nicht, Exzellenz! Ich habe für unsere Regierung den ausgearbeiteten Bericht vorliegen! – Ich kann nachweisen, daß Frankreich alles andere als erzbereit ist.
Ich habe die großen Fehler der französischen Mobilmachung in den letzten Kriegen in der Krim, in der Lombardei und jetzt wieder bei der mexikanischen Expedition genau studiert. Das System von damals, das komplett versagte, besteht im großen ganzen auch heute noch. Wenn schon Krieg, Exzellenz, und er wird sich nicht vermeiden lassen, denn – Napoleon braucht den Krieg; dann – – so schnell wie möglich. Mein Exposé belegt die Gründe ganz eingehend; ich wollte nur das Ergebnis der Ermittlungen unserer ganz großen Agentin abwarten – –!«
Baron von Werther blieb vor dem Militärattaché stehen.
»Sie sprechen von der Lanory« sagte er ärgerlich. »Gerade für die Lanory kann ich mich nicht recht begeistern. Zugegeben, sie ist eine recht brauchbare Person, keine von den Abenteuerinnen, die aus Geltungsbedürfnis, aus Freude an Intriguen oder aus finanziellen Gründen den Spion mimen, den Amateurspion, der aber unter Umständen recht großes Unheil anrichten kann. – Diese Lanory mag menschlich und persönlich höher stehen als der übliche Agentendurchschnitt; aber – – –!«
»Verzeihung, Exzellenz!« warf Martini schnell ein und fuhr jedes Wort betonend fort. »Fräulein von Lanory ist das klügste, reizendste und liebenswerteste Geschöpf, das mir in meinem Leben begegnet ist.«
Der Botschafter blieb in seinem Spaziergang durch das Zimmer plötzlich stehen und sah seinen Militärattaché ein wenig unsicher und fast etwas schuldbewußt von der Seite an.
»Nach Ihren Worten könnte man schließen, mein lieber Martini, daß Sie in Fräulein von Lanory ganz toll verliebt seien? – –«
»Nicht verliebt – – Herr Baron – – sondern – – – – ich liebe Musette de Lanory.«
Der Botschafter zog erstaunt die rechte Hand aus der Hosentasche und starrte seinen Attaché ganz erschrocken an. Dieser hielt den Blick ruhig und lächelnd aus.
»Es ist schon so, Exzellenz!« wiederholte Martini. »Ich habe Fräulein von Lanory in den Monaten unseres gemeinschaftlichen Zusammenarbeitens genau kennen, schätzen und lieben gelernt.«
»Sie erschrecken mich, Herr von Martini – –!« stieß der Botschafter hervor. »Das heißt – – verzeihen Sie – – Sie – – – – Sie – – haben sich – – mit Fräulein von Lanory bereits verlobt?«
»Noch nicht, Exzellenz! Unsere engen und – ich wiederhole – sehr herzlichen Beziehungen müssen im Interesse der Politik und der großen Aufgabe, die wir für das Vaterland zu erfüllen haben, vorerst noch geheim bleiben. In Ihnen, Herr Baron, sehe ich aber nicht nur den Vorgesetzten sondern auch, wenn Sie gestatten, dies ehrlich sagen zu dürfen, den wohlwollenden, väterlichen Freund; ich muß vor Ihnen carte blanche spielen – –«
Der Botschafter fand nicht sofort die Antwort. Er nahm seinen Spaziergang wieder auf und zeigte dem Militärattaché den Rücken. Plötzlich drehte er sich um und sagte:
»Mein lieber Martini! Sie appellieren an meine freundschaftlichen Gefühle für Sie und – Ihre Familie. – – Gerade deshalb – nicht als Ihr Vorgesetzter – sondern als Freund, als ein Mann, der doppelt so alt ist wie Sie, darf ich mit meiner Ansicht nicht zurückhalten. Ich befürchte, die Verbindung mit Fräulein von Lanory wird auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen – –!«
»Darf ich Euer Exzellenz bitten, ganz offen weiter zu reden – –. Ich – – Herr Baron – – sehe nämlich keine Komplikationen. – – Daß Musette de Lanory Französin ist, schadet nichts; durch die Heirat mit mir gewinnt sie die preußische Staatszugehörigkeit. Musette ist unabhängig, klug, katholisch, wie ich auch, von Adel – – –«
Werther griff schnell das letzte Wort auf.
»Der Wert des ›de‹ vor den französischen Namen mag dahingestellt bleiben, Herr von Martini. Dieser Adel ist häufig recht zweifelhaft – –!«
»Mag er, Herr Baron! Der Rittmeister von Martini kann sich auch schlimmstenfalls den Luxus leisten, eine Bürgerliche zu heiraten. Ich bin unabhängig. – – Mein Gut bei Andernach am Rhein wartet nur darauf, von mir selbst bewirtschaftet zu werden. Ich hatte zudem nie die Absicht, mein Leben als Offizier oder Diplomat zu beschließen. –«
»So schnell und leicht einer Frau zu Liebe werfen Sie die Flinte ins Korn – –?«
» Pardon, Exzellenz! Erstens handelt es sich hier nicht um die erste beste Frau, und zweitens denke ich gar nicht daran, jetzt fahnenflüchtig zu werden. Ich hoffe im Gegenteil, meinem Vaterlande noch manchen wertvollen Dienst zu leisten, und – Musette de Lanory wird mir dabei helfen. –«
Der Botschafter wurde einer Antwort durch den Eintritt des Dieners enthoben.
» Madame de Lanory bittet, vorgelassen zu werden!« meldete er.
Die beiden Diplomaten sahen sich bedeutungsvoll an. Der Botschafter ernst, nachdenklich überlegend, der Militärattaché lächelnd.
»Sie erhalten sofort Bescheid!« sagte der Botschafter kurz zu dem Diener. »Warten Sie draußen.«
»Wenn ich eine Bitte aussprechen darf, Herr Baron,« fuhr Martini schnell fort »dann empfangen Sie Fräulein von Lanory sofort. Ihr Erscheinen in der Botschaft beweist die Wichtigkeit der Meldungen, die sie zu machen hat. Es war geradezu genial, wie es ihr gelang, durch einen fingierten Straßenunfall die Bekanntschaft mit Vipiteno zu erneuern. Es spricht für ihr fabelhaftes, schauspielerisches Talent, für ihre Kühnheit, Klugheit und ihr diplomatisches Fingerspitzengefühl, wie sie den Marchese – ich kann keinen anderen und besseren Ausdruck finden – einwickelte. Die beiden sind seit einigen Wochen die besten Freunde, und Vipiteno ahnt nicht, daß Musette eigentlich seine gefährlichste Feindin ist. Seine Feindin, die ihn auf den Tod haßt. –«
»Ich werde Fräulein de Lanory selbstverständlich empfangen!« erklärte der Botschafter. »Wünschen Sie, der Unterredung beizuwohnen, Herr von Martini?«
»Ich möchte Euer Exzellenz herzlich darum bitten!«
»Selbstverständlich!«
Der Botschafter ergriff die Glocke; der Diener erschien.
»Ich lasse Fräulein von Lanory bitten – –!«
Musette trat ein. Sie machte dem Botschafter eine übertrieben tiefe, an einen Hofknicks erinnernde Verbeugung, setzte aber dabei ein so schelmisches Lächeln auf, daß beide Männer lachen mußten.
Die Bedenken des alten Diplomaten, seine bedingte Abwehrstellung gegen die ›Spionin‹ im allgemeinen und gegen die raffinierte Frau, die seinen Militärattaché derart gefangen hatte, daß dieser ernsthaft die Frage einer Heirat erwog, hielten beim Erscheinen der Frau nicht mehr stand. Er strich vor dem natürlichen Charme, dem gewandten und dabei dezent vornehmen Auftreten der tadellos gekleideten, bildhübschen Frau bald die Flagge.
Warum auch nicht? Schließlich wollte ja nicht er die Lanory heiraten. Was Martini vorhatte, ging ihn nur sehr bedingt etwas an; hingegen hatte er ein brennendes, dienstliches Interesse daran, zu erfahren, was im gegnerischen Lager, vor sich ging. Daß sich die Lage, die politische Situation zwischen Frankreich und Preußen in den letzten Frühjahrsmonaten ganz bedenklich zugespitzt hatte, das wußte er genau.
Zugegeben: Konflikte, Kriegsahnungen und auch Kriegsdrohungen hatte es in den letzten Jahren schon genug – übergenug gegeben. Zum Beispiel auch kurz nach dem Zusammenbruch der österreichischen Armee bei Königgrätz, das die Franzosen Sadowa nannten, und wofür sie – warum, wußte eigentlich keiner – ›Rache‹ zu nehmen drohten.
Noch gefährlicher war die Situation in der Luxemburger Frage vor einigen Jahren, und die Thronkandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern hatte die Pariser ganz nervös gemacht.
Aber dieser neue Konfliktstoff schien ja längst aus der Welt geschafft. König Wilhelm von Preußen, der nach zwei blutigen Kriegen seinem Volk jetzt den Frieden dringend bewahren wollte, dachte gar nicht daran, die Kandidaturfrage zu einem Kriegsgrunde auswachsen zu lassen.
Bismarck vertrat allerdings eine etwas andere Ansicht, die mit der des Königs durchaus nicht übereinstimmte. Er rasselte mit dem Säbel, mehr, als es – nach Werthers Meinung – gut schien. Aber an einen Krieg, wenigstens an einen Krieg, der unmittelbar bevorstand, glaubte wohl auch Bismarck nicht.
König Wilhelm hatte dem französischen Botschafter Benedetti klipp und klar sagen lassen, daß er zwar dem Erbprinzen von Hohenzollern weder verbieten noch erlauben könne, die spanische Krone anzunehmen; er, der König, würde es aber begrüßen, wenn Erbprinz Leopold seinen Verzicht erklären würde.
Damit schien die Situation wieder klar! Der Friede gesichert!
Ollivier erklärte sogar selbst im französischen Senat, daß die politische Lage in den letzten zehn Jahren noch niemals so friedlich gewesen sei wie im Frühjahr des Jahres 1870.
Aber traue einer den Franzosen!
Er, Werther, stand auf dem gefährlichsten Posten, den die preußische Diplomatie zu besetzen hatte, und die Augen wollte er schon offen halten. –
Napoleon war ein alter Fuchs. Vor einigen Wochen, als ihn Werther in St. Cloud kurz sprach, war der Kaiser die Liebenswürdigkeit selbst; kein Wölkchen trübte den politischen Horizont. Wenige Tage später hetzte die Pariser Boulevard-Presse erneut, und hinter der ganzen Intrigue steckte der französische Außenminister, der Herzog von Gramont, ein aalglatter Kerl, den er, Werther, von Wien her, wo beide, der Franzose und der Preuße, im diplomatischen Dienste gestanden hatte, sehr gut kannte und auch gut einzuschätzen verstand.
Alles dies ging Werther durch den Kopf, als Musette de Lanory den Militärattaché herzlich aber durchaus formell begrüßte, dann Platz nahm und langsam ihre langen, weißen Handschuhe aufknöpfte.
Der Botschafter hatte sich einen Stuhl herangezogen und sah Musette erwartungsvoll an.
»Was bringen Sie uns, Madame?« fragte er höflich. »Krieg – oder – – Frieden? – –«
Die Frage sollte scherzhaft klingen, aber Musette antwortete ernst:
» Krieg, Herr Baron! – –«
»Nanu – –?!« rief Werther. »Was soll das bedeuten?!«
»Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß wir in einigen Monaten, spätestens im Herbst, den Krieg haben. Krieg zwischen Frankreich und seinen Verbündeten einerseits und Preußen andererseits, das wahrscheinlich allein stehen und den furchtbaren Kampf auch allein auszufechten haben wird.«
Der Botschafter antwortete nicht sofort. Aber er lächelte ein wenig überlegen und spöttisch. Er wußte, was Musette natürlich nicht ahnen konnte, daß die geheimen Schutz- und Trutzverträge zwischen Preußen und Süddeutschland die süddeutschen Staaten, Bayern, Württemberg und Baden zu einer bewaffneten Allianz mit Preußen verpflichteten, daß die Wiederholung des unseligen Bruderkrieges vom Jahre 1866 dank der glücklichen Bismarckschen Politik im Jahre 1870 unmöglich war. Aber die ›Bundesgenossen‹ der Franzosen interessierten ihn doch.
»Gnädige Frau!« sagte er daher. »Ich bitte sich nicht auf Gemeinplätzen zu bewegen. Welche Vermutungen oder noch lieber welche Tatsachen können Sie anführen, um Ihre Befürchtung – – zu beweisen – –«
»Eine ganze Menge, Herr Baron!« erwiderte Musette. »Es war, um es vorweg zu nehmen, eine wirklich gute Idee, mich mit dem Marchese von Vipiteno zu ›verbünden‹. Vipiteno hält hinter den Kulissen sämtliche Fäden in der Hand, und er hat vor mir erfreulicherweise kein Blatt vor den Mund genommen. Frankreich rechnet in dem kommenden Kriege stark mit der Unterstützung, mit einem Bündnis von Österreich und Italien.«
Der Botschafter schien nicht überrascht.
»Österreich?« meinte er. »Mag sein! – Dieser Gedanke ist nicht neu und auch vielleicht nicht ganz abwegig, obgleich nach meinen Informationen Österreich aus Klugheit und vielleicht auch aus einer gewissen Dankbarkeit heraus die Waffen gegen Preußen nicht so bald wieder erheben wird. –!«
Musette setzte ein feines Lächeln auf und schnippte mit den Fingern.
»Rechnen Sie nicht immer auf Klugheit in Fragen der Politik. Und – was die Dankbarkeit anbelangt, so darf ich Eure Exzellenz vielleicht auf den Ausspruch des österreichischen Ministerpräsidenten von Schwarzenberg verweisen, der sagte: Österreich wird die Welt durch seine Undankbarkeit in Erstaunen setzen!«
Der Botschafter mußte lachen.
»Stimmt, Madame! Das war im Jahre 1850, und Österreich hat diese Undankbarkeit im Krimkrieg gegen Rußland wahr gemacht; nichts spricht dagegen, daß Österreich diese Behauptung jetzt im Jahre 1870 auch noch einmal gegen Preußen unter Beweis stellt. – Herr Schwarzenberg ist tot, Madame – –.«
»Stimmt, aber Herr von Beust, der sicher ganz ähnlich denkt und fühlt, lebt. Aber lassen Sie mich zur Sache kommen – –! Der österreichische Erzherzog Albrecht, das eigentliche Haupt der österreichischen Kriegspartei, der Sieger von Custozza, ist augenblicklich in Paris – –«
»Das ist mir natürlich bekannt!«
»Was Ihnen aber kaum bekannt sein dürfte, ist die Tatsache, daß Erzherzog Albrecht inkognito beim französischen Kriegsminister Leboeuf gespeist hat, daß er eine Art von Feldzugsplan Frankreichs und Österreichs gegen Preußen entwarf, und daß ich diesen Entwurf bei Vipiteno eingesehen und – – – – kopiert habe – –«
Werther zuckte zusammen. Martini wechselte mit Musette einen Blick, in dem seinerseits Triumph, Bewunderung und Liebe lag, was Musette mit einem leichten Lächeln quittierte. Aber sie war sofort wieder ernst.
»Frankreich und Österreich sind,« fuhr sie fort, »dessen dürfen Sie überzeugt sein, fast einig. Noch zaudert der Kaiser Franz Josef. Nicht aus Freundschaft für den König von Preußen sondern aus angeborener Klugheit, oder sagen wir besser: Vorsicht. Aber die Kriegspartei in Österreich, an ihrer Spitze Beust und Erzherzog Albrecht, ist stark. Albrecht schlägt vor, Frankreich möge in einem kommenden Kriege zuerst die Offensive ergreifen, weil Österreich ungefähr sechs Wochen braucht, um die Mobilmachung zu vollenden. Ein gemeinschaftlicher Feldzugsplan soll ausgearbeitet werden, und zwar schlägt der Erzherzog vor, einen französischen General zu diesem Zwecke nach Wien zu entsenden – –.«
»Das – – – Madame – – das wissen – – Sie genau – –?!«
»Ganz genau, Herr Baron! – Ich kenne auch den Namen des Generals, der in den nächsten Tagen an den Wiener Hof reisen wird. –«
»Kann ich – – – diesen – – Namen erfahren – – Madame?«
»Jawohl! – Es ist der General Lebrun. –«
Werther schwieg betroffen. Er spielte nachdenklich mit seiner dicken Uhrkette. Dann schüttelte er, wie abwehrend, den Kopf.
Musette fuhr fort: »Ich bin noch nicht am Ende, Exzellenz! – Der zweite Bundesgenosse Frankreichs wird, wie im Jahre 59 wieder Italien sein. Die Verhandlungen sind schon ziemlich weit gediehen, und Vipiteno ist die treibende Kraft. – –«
»Undenkbar, Madame!« rief Werther. »Italien, das ehemalige Königreich Sardinien verdankt uns alles. Ohne unsere Siege hätten die Italiener nie Venedig bekommen. Zwischen Italien und Preußen bestehen keine Gegensätze, während Napoleon durch die Besetzung von Rom die vollkommene Einigung Italiens hintertreibt.«
»Herr Baron,« erwiderte Musette ruhig, aber es klang fast mitleidig, »muß ich Ihnen, dem gewiegten Diplomaten, antworten, daß Erkenntlichkeit und Dankbarkeit in der Politik ein Nonsens ist? Die Dankbarkeit des Hauses Savoyen ist genau so problematisch wie die des Hauses Habsburg. Ich befürchte, Preußen wird mit seinen ›Freunden‹ in Florenz Florenz war damals die Hauptstadt Italiens. eine recht unangenehme Überraschung erleben. – Sie schütteln den Kopf, Herr Baron! Sie glauben mir nicht, es schmerzt Ihrer Eitelkeit, oder – verzeihen Sie – es widerspricht nach Ihrer Einstellung dem gesunden Menschenverstand, daß eine Frau, die bisher von Politik nicht das geringste verstand, klüger sein will als Sie, der alte, versierte Diplomat. Ich bin nicht klüger; aber, Exzellenz, ich hatte vielleicht doch die Möglichkeit, Dinge zu erfahren, die man Ihnen nicht gerade auf dem Präsentierteller darbietet. –«
»Daran zweifele ich nicht, Madame!«
»Schön!« lachte Musette. »Heute abend findet in der Bündnisangelegenheit eine eingehende und letzte Besprechung zwischen Frankreich, Italien und Österreich statt. Erzherzog Albrecht kommt mit dem Marchese de Vipiteno in dessen Wohnung zusammen; und als dritter im Bunde erscheint der – französische Außenminister. –«
» Wer?!« rief Werther, und seine Augen bekamen einen fast starren Ausdruck.
»Der Herzog von Gramont!« wiederholte Musette ruhig.
Werther verlor jetzt doch einen Augenblick die Beherrschung. Er sprang auf, schneller, als man es seinem Alter zugetraut hätte.
»Wenn das wahr wäre, Madame – –!«
»Es ist wahr! – – Herr Baron,« erwiderte Musette ruhig, fast ein wenig spöttisch »ich bürge Ihnen für die Wahrheit. Ich kann Ihnen sogar noch verraten, daß über die heutige Besprechung ein ausführliches Protokoll verfaßt wird. Vipiteno reist in den allernächsten Tagen mit diesen Aufzeichnungen nach Florenz zur persönlichen Aussprache mit dem italienischen Außenminister, Visconti-Venosta.
Macht Italien mit, – fast wahrscheinlich bei der Energie Vipitenos und der Einstellung des Königs Victor Emanuel, der in Dankbarkeit vor Napoleon erstirbt, – dann ist auch das zaudernde Österreich gewonnen, und dann haben wir den Krieg!«
Musette schwieg. Sie hatte sich warm geredet – bei aller äußeren Ruhe, die sie zur Schau trug.
Der Botschafter sah betreten auf den Attaché. – Dieser zeigte aber weder Überraschung noch Erstaunen. Er mochte vielleicht vorher schon von Musette Andeutungen über die Art ihrer sensationellen Mitteilungen erhalten haben und konnte daher leicht den Gleichgültigen und Überlegenen spielen.
Die klaren Ausführungen Musettes waren, falls sie auf Wahrheit beruhten, von derart weitgehender Bedeutung für Preußen und die durch Geheimverträge verbündeten süddeutschen Staaten, daß der Botschafter Baron von Werther die ganze Erzählung der ›Spionin‹ am liebsten in das Fabelreich verwiesen hätte. – Ein Bündnis zwischen Frankreich, Italien und Österreich bedeutete den Untergang Preußens.
Gegen eine Koalition, die fast 100 Millionen Einwohner umfaßte, kam das kaum ein Drittel so große Deutschland trotz seiner unbedingt besseren militärischen Kriegsvorbereitungen nicht auf.
Selbstverständlich mußte er zu dem Bericht Musettes amtlich Stellung nehmen, mußte sofort nach Berlin berichten, so ungern er dies an sich vielleicht tat. Und nun fand er doch noch einen Einwand, eine Frage, die, wie er glaubte, Musette nicht würde beantworten können.
» Madame!« sagte er und konnte schon wieder lächeln. In seinem Ton steckte eine gewisse, für einen Hellhörigen nicht schwer herauszufindende Ironie. »Ihre Mitteilungen, Madame, sind von einer im Augenblick noch gar nicht zu übersehenden Tragweite, immer vorausgesetzt, daß es sich um Tatsachen handelt und nicht um phantasievolle Kombinationen. Ich möchte ohne weiteres annehmen, daß Ihr Gewährsmann die Wahrheit sagte, und ich für meine Person zweifele auch keinen Augenblick an Ihrer unbedingten Glaubwürdigkeit, Fräulein de Lanory. Man könnte aber vielleicht annehmen, der Marchese Vipiteno habe Sie durchschaut, und hat Ihnen – um mich vulgär auszudrücken – einen dicken Bären aufgebunden.
Andererseits: die beabsichtigte Koalition überrascht mich nicht. Mit der Möglichkeit, daß sich Frankreich, Österreich und Italien finden, haben wir schon lange gerechnet. Es bleibt allerdings noch die Hoffnung, daß es sich nur um eine Koalition auf dem Papier handelt, daß sie im Ernstfall nicht in Aktion zu treten braucht. Denn das Wesentlichste für den Augenblick ist der erfreuliche Mangel eines geeigneten Kriegsgrundes. –«
Musette zog leicht die Augen zusammen und spielte mit ihren Handschuhen.
»Der Kriegsgrund!« antwortete sie leise. »Der ist schon da: Die spanische Kandidatur!«
Werther schüttelte den Kopf.
»Wenn Prinz Leopold ablehnt, entfällt dieser Grund, und der Prinz wird ablehnen – –!«
»Dann – –!« sagte Musette mit erhobener Stimme »werden Napoleon und sein schlimmster Kriegshetzer, der Herzog von Gramont, trotzdem einen Grund finden. Verlassen Sie sich auf mich, Exzellenz: in einem Vierteljahr haben wir den Krieg. Im September verwüsten die Turkos und Zuaven den Schwarzwald und Hessen schlimmer als die Horden, die ein Mélac damals auf die arme Pfalz losgelassen hat.«
»Da sei Gott vor!« erwiderte Werther mit feierlichem Ernst. »Heute findet die bewußte Aussprache statt, Madame?!«
»Jawohl, Exzellenz, heute abend in der Rue d'Enghien, in der Wohnung des Marchese von Vipiteno.«
»Glauben Sie, Madame, daß Sie uns, beziehungsweise Herrn von Martini etwas über den Ausgang dieser Entrevue mitteilen können?«
»Ich glaube sogar, daß ich Ihnen die schriftlichen Unterlagen, die der Marchese nach Italien bringen will, verschaffen kann. – Österreich ist mein Feind nicht und Frankreich sogar mein Vaterland. Ich habe kein Interesse daran, diesen beiden Ländern zu schaden. Aber bei dem Lumpen Cimasoni oder Vipiteno da liegt die Sache anders; außerdem – –« Musette wechselte mit Martini einen schnellen Blick »liegen heute meine Interessen auf preußischer Seite. Herr von Martini dürfte Ihnen, Herr Baron, bereits gewisse Andeutungen gemacht haben. Sie erhalten die Dokumente, Herr Baron, – – – so wahr ich Musette de Lanory heiße – – – – –!«
»Bedenken Sie die große Gefahr, Madame!! Um Gottes willen keine Gewalt!!«
»Gewalt?« erwiderte Musette und lächelte. Dann machte sie eine Pause und preßte einen Augenblick die Lippen fest zusammen. »Nein, Herr Baron,« sagte sie »Gewalt kommt wirklich nicht in Frage. Der gute General Cimasoni wird bei seiner Ankunft in Florenz möglicherweise noch gar nicht wissen, daß seine Dokumente verschwunden sind. Überlassen Sie das weitere mir. – Guten Morgen, meine Herren! – –«
Musette erhob sich. Martini eilte sofort herbei und brachte Musettes Schirm. »Darf ich Dich ein Stück begleiten?« fragte er zärtlich.
»Um Gottes Willen! Nein!« wehrte Musette ab. »Wir dürfen uns – so schmerzlich dies auch für mich ist – heute und morgen nicht sehen und nicht kennen. Sobald ich in der bewußten Sache etwas Neues, Wichtiges weiß oder etwas zu berichten habe, melde ich mich. – Und jetzt nochmals guten Morgen, meine Herren – –!«
Hinter Musette schloß sich die Tür. Botschafter von Werther stand eine volle Minute regungslos an den Schreibtisch gelehnt. Er schien vollkommen übersehen oder vergessen zu haben, daß sich Martini noch im gleichen Zimmer aufhielt.
Plötzlich sah er auf, fuhr sich mit der feinen, schlanken Hand über die Augen und sagte leise:
»Diese ebenso kluge wie auch gefährliche Frau stellt uns – das sogenannte, starke Geschlecht, in den Schatten – –!«