Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Kapitel.
Ein Verkehrsunfall in der Rue d'Enghien.

Die Pariser Opéra Comique hatte am 26.April 1870 wieder einmal einen ganz großen Tag. Zum Abschluß der Winterspielzeit wurde Offenbachs ›Orpheus in der Unterwelt‹ in ganz neuer Inszenierung herausgebracht.

Der Komponist stand am Dirigentenpult. –

Wagen auf Wagen rollten in der Zeit von sechseinhalb bis sieben Uhr abends über den Boulevard des Italiens und immer neue Gäste eilten in die Vorhalle des Theaters.

Musette de Lanory war pünktlich, kurz vor sieben Uhr, eingetroffen und ging sofort in ihre Loge im ersten Rang.

Das Parkett war schon zu drei Viertel gefüllt; plaudernde, festlich gestimmte Menschen warteten auf den Beginn der Ouvertüre und stellten ihre Theatergläser ein. An der Bühnenrampe und am Proszenium wurden gerade die Gaslampen angezündet. Aus dem verdeckten Orchesterraum ertönte das Summen, Brummen und Fiedeln der einzelnen Instrumente, die zur Ouvertüre gestimmt wurden.

Die Logen zeigten größtenteils noch eine gähnende Leere. Die vornehmen Logenbesucher kamen entweder erst im letzten Augenblick, oder sie hatten sich in den Hintergrund zurückgezogen, und empfingen, nachdem die Logen durch die Samtvorhänge geschlossen worden waren, Besuche von Freunden und Bekannten.

Musette saß allein. Sie suchte mit ihrem Opernglas aus Perlmutt die Ränge diskret ab, legte aber schließlich das Glas auf ein kleines Tischchen und schloß die Vorhänge. – Die Logentür öffnete sich leise.

Ein schlanker, junger Mann in tadellosem Gesellschaftsanzug trat lächelnd ein. Musettes Gesicht, das einen gleichgültigen, beinahe etwas müden Ausdruck getragen hatte, hellte sich sofort auf. Ein frohes Lächeln huschte über ihren Mund.

»Herr Rittmeister!« rief sie und gab sich gar keine Mühe, ihre Freude zu verbergen. »Es ist wirklich nett, daß Sie noch gekommen sind – – –!«

Rittmeister Hans Dietrich von Martini, Militärattaché bei der preußischen Botschaft, ergriff lebhaft beide Hände Musettes und zog sie an die Lippen.

»Nie habe ich einen Dienst lieber versehen« erwiderte er eifrig »als die Anweisung unseres Botschafters, mich Tag und Nacht zu Ihrer Verfügung zu halten.«

Er griff nach einem großen Bukett, das er beim Eintreten abgelegt hatte. Es waren prachtvolle, gelbe, halb erblühte Rosen mit einem feinen, durchsichtig roten Schimmer, eine neue Züchtung, die nach dem Bezwinger des Malakows ›Maréchal Niel‹ genannt wurde. Die Rosen strömten einen fast betäubenden Duft aus.

Musette verbarg ihr Gesicht in den Blumen, zog den Duft ein, und sagte ein wenig schelmisch schmollend:

»Sie verwöhnen mich, Herr von Martini! – –«

Der blonde junge Mann antwortete nicht. Er warf einen bewundernden Blick auf die schlanke, auffallend hübsche Frau. Musette war an die Logenbrüstung getreten und sah, immer noch halb hinter dem Vorhang verborgen, in den Zuschauerraum hinab.

»Es wird gleich anfangen!« meinte sie.

Und gewissermaßen als Bekräftigung ihrer Behauptung prasselte plötzlich Beifall los.

Ein kleiner, zierlicher Mann mit scharfen aber listigen Zügen, einen Zwicker auf der auffallend starken Nase, war an das Dirigentenpult getreten.

Der Komponist: Jacques Offenbach!

Er verbeugte sich ein wenig geziert nach allen Seiten, klopfte an das Dirigentenpult und hob den Stab. Im Theater herrschte lautlose Stille. – Die Ouvertüre setzte ein.

Hans Dietrich von Martini wartete im dunklen Hintergrund.

Musette war in die Loge zurückgetreten.

»Recht so, Herr Rittmeister!« meinte sie. »Es ist nicht notwendig, daß man uns hier zusammen sieht, Wir haben uns mancherlei zu erzählen – – –!«

Und als der Rittmeister von Martini eine Bewegung nach der Bühne hin machte, wehrte Musette ab.

»Die Operette interessiert mich wirklich nicht. Ich möchte mit Ihnen viel lieber plaudern. – – Gibt es etwas Neues – –?«

»Bei uns wenig – – und – – bei Ihnen –?«

»Ich komme meinem Ziele näher – –!« erwiderte Musette flüsternd. »Heute abend werde ich versuchen, die persönliche Bekanntschaft des Marchese von Vipiteno zu machen. Ich weiß noch nicht ganz genau, wie; aber ich habe bereits einen Plan, der, so abenteuerlich er auch klingen mag, zum Ziele führen kann – –!«

»Der Marchese ist im Theater, Madame de Lanory – –!«

»Ich weiß! Und auf seinen Besuch hier in der Opéra Comique habe ich meinen Plan aufgebaut. – Ich weiß auch, daß Herr Vipiteno anschließend sofort nach Hause in seine Wohnung in der Rue d'Enghien fährt – –!«

»Seien Sie vorsichtig, Madame!« warnte der Rittmeister von Martini. »Vipiteno ist ein gefährlicher Gegner – –!«

»Ich auch, Herr Rittmeister!« erwiderte Musette und krallte die rechte Hand um das Opernglas.

»Ich hätte nie gedacht, daß eine Frau so stark hassen kann, Madame!«

»Haß und Liebe liegen nahe zusammen, Herr von Martini!« erwiderte Musette.

»Haben Sie schon einmal in Ihrem Leben wirklich innig und heiß lieben können?« fragte Martini leise. – Durch den geschlossenen Vorhang girrten die Geigen.

»Ja! Ich habe Francisco Solano Lopez geliebt. Ob es die wirkliche, ganz große Liebe war, – – das weiß ich nicht – – –!«

Rittmeister von Martini hatte sich langsam erhoben. Er war hinter die hoch gewachsene Frau getreten, die er bewunderte, begehrte, vielleicht, ohne es zu wissen, auch wirklich liebte.

»Und – – glauben Sie, daß Sie noch ein zweites Mal lieben könnten – –?« fragte er, ein leises Zittern in der Stimme.

Musette drehte sich langsam um.

»Vielleicht!!« erwiderte sie. » Qui vivra verra!!«

Rittmeister von Martini war versucht die Gelegenheit wahrzunehmen, die verführerische Frau in die Arme zu reißen und Hals und Gesicht mit wilden Küssen zu bedecken.

Das mystische Halbdunkel in der geschlossenen und heißen Loge erregte Phantasie und Sinne.

Ein Paukenschlag, der aus dem Orchester dröhnend in die Höhe stieg, ließ ihn zusammenfahren, brachte ihn zur Besinnung.

Im Orchester setzte der Cancan ein, der die Ouvertüre abschloß. – In wenigen Sekunden hob sich der Vorhang.

Musette legte ihre schlanke, weißbehandschuhte Hand leicht, beinahe zärtlich auf den schwarzen Frackärmel des jungen Mannes.

»Wir müssen vernünftig sein!« sagte sie leise – und Martini verstand. Ein Glücksgefühl ohnegleichen stieg in ihm auf. Er griff ihre Hand und preßte heiße Küsse auf die Stelle zwischen Unterarm und Ellenbogen auf weißes, zartes, duftendes Fleisch, das der lange Handschuh freiließ.

Musette entzog ihm die Hand nicht; als Martini aber verlangender, begehrender wurde, machte sie sich los.

»Genug, Herr Rittmeister!« sagte sie lächelnd. »Wir sind heute beide im Dienst! – Gehen Sie jetzt! – Man soll uns hier, im Theater, nicht zusammen sehen.«

Der Attaché griff sofort nach seinem Chapeau claque.

»Wissen Sie, Musette, daß ich Sie liebe??? – –«

Musette de Lanory lächelte, ein frohes, fast glückliches Lächeln. – Dann huschte der Schalk über ihre Lippen.

»Sie verstanden es, Ihre Gefühle ausgezeichnet zu verbergen!«

»Sind Sie mir böse, Musette – –?!«

» Au contraire, Monsieur! Aber nur unter der Bedingung, daß Sie jetzt augenblicklich verschwinden. –«

Hans Dietrich von Martini verließ, ohne ein Wort zu erwidern, die Loge.

Musette nahm an der Brüstung Platz. Unter dem lauten Beifall der Besucher hob sich jetzt der Vorhang zum ersten Akt. Das Spiel begann. – –

Im Zwischenakt herrschte im Foyer des Theaters eine geradezu beängstigende Fülle. Bekannte suchten und fanden sich, saßen und standen in Gruppen zusammen.

Diplomaten, Hochfinanz, Fremde von Rang. Die bunten Uniformen mit den roten Hosen der Offiziere unterbrachen das stumpfe Schwarz der Fräcke. Dazwischen Frauen in ausgesucht eleganten Kleidern, der damaligen Mode entsprechend tief ausgeschnitten. Kostbares Geschmeide blitzte auf weißgepuderten Frauenhälsen, funkelte in raffinierten Coiffüren.

In einer Ecke standen ein Dutzend Herren; dort ging es besonders lebhaft zu. Pierre Desaix, der berühmte und gefürchtete Kritiker des › Gaulois‹, das Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch, hielt den Kollegen der Presse einen Vortrag.

»Es sieht mulmig aus, Messieurs,« sagte er leise. Duvivier vom Figaro schob seinen grauen Kopf mit dem weißen Landsknechtschnurrbart interessiert vor. Er war ein wenig schwerhörig, aber was der Kollege Desaix sagte, hatte für ihn ein brennendes Interesse.

»Wir tanzen auf einem Vulkan!« sagte Desaix. »Bandinguet Spottname für Napoleon den Dritten. Als er aus der Festung Ham, wo er gefangen saß, entfloh, legte er sich den Namen eines Maurers Badinguet bei. Dieser Name verblieb ihm bis zu seinem Tode. gibt keine Ruhe. Er will den Krieg mit Preußen, braucht eine Ablenkung; seine Dynastie wackelt. Lesen Sie heute abend meinen Leitartikel im › Gaulois‹ – – das wird die Sensation von Paris! – Sie werden Augen machen! – – – – Messieurs!«

Der kleine Cartier von der › Humanité‹ wehrte energisch ab.

»Unsinn!« rief er, aber er dämpfte ebenfalls seine Stimme. »Der Kaiser will seine Ruhe haben! Ich weiß aus bester Quelle, daß ihm sein Blasenleiden augenblicklich wieder furchtbar zu schaffen macht. Der Kaiser will keinen Krieg, Messieurs! – Verlassen Sie sich auf mich! Der Hetzer Gramont –!«

»Der Herzog von Gramont hat mehr zu sagen als Napoleon selbst!« erwiderte Desaix ruhig.

»Ja, leider!« meinte Cartier.

Ein lang anhaltendes Klingelzeichen unterbrach die Debatte. – Das Foyer leerte sich langsam. Der zweite Akt begann in wenigen Minuten. Musette de Lanory verfolgte die Geschehnisse auf der Bühne mit nur recht geringer Anteilnahme. Die burlesken Liebesabenteuer des Göttervaters Jupiter und seiner eifersüchtigen Gattin Juno ließen sie gleichgültig. Dafür warf sie gelegentlich einen vorsichtigen Blick nach einer Loge im zweiten Rang, wo der Marchese von Vipiteno saß und mit behaglicher Freude, ein Schmunzeln auf den Lippen, der Bühnenhandlung folgte.

Nach dem zweiten Akt verließ Musette das Theater. Rittmeister von Martini folgte ihr mit den Augen, stieg dann ebenfalls langsam die Treppe, die zum Theaterausgang führte, hinab. Erst, als er sah, daß Musette ihren Wagen erreicht hatte und mit ihrem Kutscher sprach, kehrte er in den Zuschauerraum zurück.

»Ich bin also genau verstanden, Pierre?!« fragte Musette ihren Kutscher.

»Sehr wohl, Madame!«

»Fahre hinüber auf die andere Straßenseite, damit wir aus dem Trubel hier herauskommen. Du folgst dem Wagen, den ich Dir nachher bezeichnen werde, läßt ihn nicht aus den Augen. – Sobald ich auf den Gummiball drücke, überholst Du den anderen Wagen, beim zweiten Zeichen mußt Du einen Zusammenstoß auf irgendeine geschickte Art und Weise arrangieren. Schone dabei die Pferde und Dich selbst – – –!«

»Sehr wohl, Madame!«

»Es hängt alles davon ab, Pierre, daß die Sache haargenau klappt, daß der Zusammenstoß erst unmittelbar vor dem Hause 180 in der Rue d' Enghien erfolgt. – – Nicht früher und nicht später! – – Dann schimpfst Du das Blaue vom Himmel herunter, Pierre, Du kannst doch schimpfen – –?!«

Der Kutscher grinste.

»Ich habe drei Jahre bei den Dragonern in Meaux gedient und bin seit sieben Jahren Kutscher in Paris. Das genügt doch wohl, Madame – – –?!«

Musette wußte herzlich lachen.

»Ich rechne auf Deine Intelligenz, Pierre! – Arrangiere Du den Zusammenstoß, das weitere ist dann meine Sache –!«

Der Kutscher fuhr den Wagen nach der nördlichen Straßenseite des Boulevard des Italiens und schien auf dem Bock ein kleines Nickerchen zu machen, aber er beobachtete unter halb geschlossenen Lidern genau den Ausgang des Theaters.

Im Wagen wartete Musette. Sie hatte die Vorhänge der Chaise zugezogen, aber hinter einem kleinen Spalt verborgen entging ihr auch nicht die geringste Bewegung auf der Straße.

Gegen zehn Uhr leerte sich die Opéra Comique und strömte eine Schar lachender und schwatzender Menschen aus.

Die Portiers des Theaters hatten alle Hände voll zu tun, die wartenden Wagen herbeizurufen. Die Schutzleute schnauzten – die Kutscher schimpften. Die Wagen fuhren an die Rampe, nahmen ihre Herrschaften auf und entfernten sich; auf dem Boulevard des Italiens bildeten sie eine lange Schlange.

Unter den Wagen, die nach Norden abbogen, war auch eine graue, geschlossene Chaise. Musette drückte auf den Gummiball, der Kutscher zog die Zügel an. Die graue Chaise bog in die Rue Laffitte ein. Musettes Wagen folgte ihr in einer Entfernung von ungefähr fünfzig Metern.


 << zurück weiter >>