Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Eine Frau allein

Sie kannte, als sie in der Hauptstadt ankam, niemand ausser einem jungen Sekretär der dänischen Gesandtschaft, den sie, wie es hiess, vor Jahren in Neu-Mexiko oder Arizona getroffen hatte. Über Neu-Mexiko hatte sie ein Buch geschrieben, das bei seinem Erscheinen in ihrer Heimat Dänemark viel Aufsehen erregt hatte und später auch ins Englische übersetzt worden war. Aber das lag mindestens drei Jahre zurück, und die Leute, die das Buch gelesen hatten oder dies behaupteten, sprachen abschätzig darüber: Es sei das Buch einer Abenteurerin, und es sei darin weniger von Neu-Mexiko die Rede als von geschmuggeltem Whisky, von der glatten, bartlosen Haut junger Indianer und vom Leben auf einer Ranch, wo sich die Leute an selbstgebranntem Alkohol und an der dünnen, trockenen Luft der Hochebene betranken, von Schulden lebten, und nachts in den Maisfeldern lagen und sich liebten. Anscheinend verdankte das Buch seinen Erfolg ein paar schlechten Kritiken, die darüber geschrieben wurden, sowie dem Umstand, dass tatsächlich ein junger Indianerhäuptling der Autorin bis nach New York nachgereist war und sich das Leben nahm, weil sie ihn nicht 178 heiraten wollte. Sie kehrte dann zu ihrem Mann und ihren Kindern nach Dänemark zurück, und ihr Verleger, der den Erfolg des ersten Buches ausnützen wollte, versuchte vergeblich, sie zu einer neuen Reise zu überreden. Sie sass auf ihrem Gut, mitten in den Laubwäldern und fetten Weiden Dänemarks, und kümmerte sich um nichts als um ihre Pferde und Hunde und um ihre beiden Kinder.

Erst als sich herausstellte, dass ihr Mann in der Affäre Kreugher sein ganzes Vermögen eingebüsst hatte, und dass er, ein abgedankter Kavallerieoffizier, in keiner Weise fähig war, Geld zu verdienen, entschloss sie sich, den Vorschlag des Verlegers anzunehmen und nach Persien zu reisen. Sie wusste nichts von diesem Land, aber das erleichterte es ihr vielleicht, den Vertrag zu unterschreiben und ihr Gut und ihre Kinder zu verlassen.

Sie kam im September an. Für Persien war es keine schlechte Jahreszeit, aber in der Stadt war die Hitze noch gross, und die Fahrt durch die Wüste und von Bagdad bis ins Gebirge musste fürchterlich gewesen sein. Ich arbeitete damals auf der Ausgrabung in Abderabad, unser Expeditionshaus lag nur eine halbe Stunde von der Stadt entfernt in einem Granatapfel-Garten.

Natürlich drang das Gerücht von der Ankunft Katrin Hartmanns zu uns heraus, noch bevor die Baronin überhaupt eingetroffen war. Im Orient ist eine Frau, die ohne männliche Begleitung reist, immer noch eine Seltenheit, selbst wenn es sich nur 179 um eine Sängerin oder um ein rumänisches Tanzmädchen handelt, das im »Pars« oder »Astoria« engagiert werden soll. Es war deshalb nicht erstaunlich, dass sich die ganze europäische Kolonie mit der Person Katrin Hartmanns beschäftigte. Eine Baronin? Eine Abenteurerin? Was wollte sie hier? Würde sie von der Gesandtschaft eingeladen werden?

Sie wohnte in der Stadt im Hotel Naderi, und besuchte niemand ausser ihrem dänischen Bekannten und einigen hochgestellten Persern, an die sie Empfehlungsbriefe vom persischen Konsul in Kopenhagen mitgebracht hatte.

Natürlich sprach man darüber, warum sie sich nicht zuerst an die Europäer gewandt habe, aber man nahm es ihr nicht übel. Sie war offenbar ein Original, eine interessante Persönlichkeit, man durfte sich Sensationen versprechen, ausserdem war sie schön, und, wie man wusste, eine ausgezeichnete Reiterin. Die Herren brannten darauf, ihr ihre turkmenischen und arabischen Pferde zur Verfügung zu stellen.

Ich traf die Baronin, am Tag nach ihrer Ankunft, auf der Terrasse des jungen Dänen, der draussen in Schimran einen schönen, kühlen Garten mit einem Bungalow und einem Schwimmbassin hatte. Sie tranken Whisky mit perlendem, eiskaltem Sodawasser und redeten von Neu-Mexiko. Zu mir sagte sie, dass sie sich für alles interessiere, auch für Ausgrabungen, aber ich merkte, dass sie davon noch 180 nie etwas gehört hatte. Obwohl ich glaubte, dass es sie langweilen würde, lud ich sie doch ein, uns draussen in Abderabad zu besuchen. Sie hob den Kopf und sah mich unter dem weissen Rand ihres Hutes hervor an. Sie hatte dunkelblaue Augen, die einen kalten, fast schwarzen Glanz hatten und tief eingebettet unter der bleichen, stark gewölbten Stirn lagen. Das Gesicht war schön, gross, männlich, die Wangen eingefallen, Mund und Kinn kräftig, herausfordernd – ein Pferdegebiss, dachte ich –, einzig die Schatten um die Augen und die gespannten Schläfen gaben diesem Antlitz etwas schmerzlich Rührendes ...

Sie kam wenige Tage später zu uns heraus. Sie hatte sich nicht angemeldet, es war früh, vielleicht sieben Uhr, wir arbeiteten im »Museum« und hatten noch nicht gefrühstückt. Ich ordnete die Gegenstände, die am Abend vorher von der Grabung gekommen waren, und neben mir arbeitete George Gordon an ein paar parthischen Münzen unter dem Mikroskop. Ich sass mit dem Rücken zur Tür, die Tür war offen, und das Licht vom Fluss und von den hellen, lehmigen Uferbänken fiel in den Raum. Ich sah vor dem Fenster, durch das Moskitogitter, die weissen Stämme der jungen Ulmen, die wir um das Schwimmbassin gepflanzt hatten, dann kam die Russin Gelina vorbei, und ihr grosses, breit lächelndes Gesicht füllte den Fensterrahmen. Sie ging zur Küche hinüber, um den Koch zu überwachen, der das Frühstück machte. Ich nickte 181 ihr zu. Dann war es, als rufe jemand meinen Namen, aber von der anderen Seite des Gartens her, wo niemand war. Man rief zum zweiten Mal, und George sagte: »Ich glaube, jemand ruft nach dir«, und als ich mich umdrehte, sah ich durch die offene Tür Katrin Hartmann. Sie sass auf ihrem Pferd draussen im Fluss und rief, und das Pferd tänzelte unter ihr und schob die Hinterhand hin und her. Von der Furt her ritt ein Perser mit schwarzer, persischer Schirmmütze den Fluss herauf, er hatte Mühe, sein Pferd vorwärts zu bringen, das Wasser spritzte an seinen Beinen hoch, er klopfte dem Tier auf den Hals, um es zu beruhigen. Gordon und ich liefen hinaus, die beiden ritten ans Ufer, stiegen ab, und unser Diener Hassan kam barfuss herbeigelaufen und führte die Pferde in den Hof.

Ich erkannte den jungen Mann, den die Baronin mitgebracht hatte. Es war Ali Achmed, der jüngste Sohn der Karagöls, einer der grossen Familien Persiens. Sie waren Türken oder Kurden und hatten ihre Dörfer oben in Kurdistan, an der irakischen Grenze. Seitdem der alte Prinz an der Cholera gestorben war, beherrschte die Mutter die Familie; sie hatte sechs Söhne, von denen die beiden jüngsten in Lausanne erzogen worden waren. Von ihr selbst erzählte man, sie sei ein Nomadenmädchen und könne weder lesen noch schreiben. Es war eine Ehre, bei ihr eingeladen zu werden, sie empfing wenig Europäer und hatte ihren Söhnen verboten, Europäerinnen zu heiraten, weil es für beide Teile 182 ein Unglück sei. Es hiess, Ali Achmed sei in Lausanne mit einer Schweizerin verlobt gewesen, aber seine Mutter zwang ihn, ein reiches persisches Mädchen zu heiraten, dessen Familie noch reicher und mächtiger war als die Karagöls. Kurz nach der Hochzeit starb der Vater der Braut, einige behaupteten, im Gefängnis, andere, durch Selbstmord, und sein Vermögen wurde eingezogen. Das Mädchen war erst sechzehn Jahre alt. Sie lebte seither im Hause ihrer Schwiegermutter, man sah sie selten, sie durfte keine Einladungen annehmen.

Gordon und ich hatten Ali Achmed bei einem Polomatch getroffen. Er galt als guter Spieler und hatte ausgezeichnete Pferde. In Abderabad war er noch nie gewesen. Wir bekamen übrigens wenig Besuch aus der Stadt. Aus der Nähe gesehen ist eine Ausgrabung enttäuschend.

»Ali Achmed hat darauf bestanden, mir Abderabad zu zeigen«, sagte Katrin Hartmann, »er ist so stolz auf die Kunstschätze seines alten Persiens.«

»Ich habe ihr gesagt, dass ich nichts davon verstehe«, sagte Ali. Er ging mit George hinter uns her. Sie sprachen persisch. Wir gingen durch das Museum und sahen die Wandbretter mit den prähistorischen Gefässen an, und George holte die islamischen Goldmünzen hervor, die wir auf der Zitadelle gefunden hatten. Man konnte den Besuchern mit diesen Goldstücken am meisten imponieren, wir wussten es aus Erfahrung. Dann läutete die Kamelglocke, und wir gingen in den Garten 183 und setzten uns an den Frühstückstisch unter den Ulmen.

Der Tisch stand mitten zwischen den abgesteckten Vierecken, in denen die Scherben sortiert wurden und die wir deshalb »Scherbenbeete« nannten. Ein paar persische Arbeiter hockten auf Strohmatten am Boden und wuschen die Tonscherben, die man am vorigen Tag von der Grabung gebracht hatte. Sie benützten leere Benzinkannen als Wassergefässe. Vor dem »Museum« lag ein Stapel solcher Benzinkannen, wir brauchten sie für alle möglichen Zwecke: um Garagentüren zu machen, Mauern auszubessern, um feinere Funde zu transportieren und als Sitzgelegenheiten. Kat sah über den Garten mit den Scherbenbeeten hinweg. »Was machen Sie mit diesen Trümmerhaufen?« fragte sie. Sie sass neben Gordon. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen, darunter trug sie einen gelben Sweater mit Rollkragen, und man sah ihre breiten Schultern und ihren breiten, kräftigen Oberkörper. Sie sah wunderschön aus. »Warum machen Sie sich solche Mühe mit diesen Trümmern?« fragte sie.

»Wir kleben sie zusammen«, antwortete Gordon, »wir üben unsere Geduld daran.«

»Und dann?«

»Dann schicken wir sie in das Museum von Philadelphia.«

Hassan kam über den Hof und brachte Tee, Eier und geröstetes persisches Brot. Kat hatte noch nie persisches Brot gegessen.

184 »Es sieht aus wie Knäckebrot«, sagte sie. Sie liess die Butter darauf zergehen. »Und in tausend Jahren«, fuhr sie fort und sah wieder in den Garten hinaus, »ist dieser Garten ein Ruinenhügel, und man wird Ihre Benzinkannen als Antiquitäten ausgraben. Es wird genauso nützlich sein wie die Arbeit, die Sie sich jetzt machen.«

»Aber wenigstens brauchen wir uns dann nicht mehr darum zu kümmern«, sagte Gordon.

Sie sah ihn mit einem schnellen Blick an. »Es langweilt Sie also?« fragte sie.

»Nein.«

»Ach, geben Sie doch zu, dass es Sie langweilt!«

»Gut«, sagte George, »manchmal langweilt es uns. Aber es ist unser Beruf.«

Sie hob die Arme und verschränkte sie im Nacken. »Und es gibt so viel Lebendiges, worum man sich kümmern sollte! Die Welt ist so wunderbar lebendig!«

Ali Achmed sprach während des Frühstücks kein Wort. Er sass da und schien Gordon zuzuhören und hatte seinen ganzen Teller mit Trauben gefüllt, die er dann zu essen vergass. Er sah Katrin an, mit einem aufmerksamen, fast demütigen Blick.

»... so wunderbar lebendig!«

Er folgte, als sie die Arme hob, ihrer Bewegung, und seine Augen leuchteten auf.

Draussen im Hof sprang der Lastwagen an. Gordon zog die Uhr aus der Tasche. »Ich muss jetzt auf die Grabung hinaus«, sagte er, und zu mir: 185 »Aber du kannst ja hierbleiben und die Baronin noch herumführen. Oder wollen Sie mit hinauskommen?«

Katrin sprang auf. »Nein«, sagte sie, »wir müssen gehen. Wir treffen den Emir Hossen zu einem Picknick. Zu einem persischen Picknick in einem persischen Garten. Ich wollte Sie einladen mitzukommen.«

Ali Achmed war schon in den Hof gegangen, um die Pferde zu holen.

»Wenn du mitgehen willst«, sagte George zu mir, »ich habe leider keine Zeit. Ich muss Van draussen ablösen.«

Ali Achmed brachte die Pferde. Er gab Hassan ein Bakschisch, nahm ihm die Zügel ab und führte die Pferde selbst durch den Hof und an das Flussufer hinunter.

Kat Hartmann sah mich an. »Ich schicke Ihnen den Wagen des Emirs«, sagte sie.

Ich hatte grosse Lust, ein persisches Picknick mitzumachen. »Es ist furchtbar nett von Ihnen«, sagte ich, »aber wir haben wirklich keine Zeit. Ich muss mit Gordon auf die Grabung hinaus, um Van abzulösen.«

Sie ging schon mit grossen Schritten über den Hof. Sie sah sich gar nicht mehr um. »Wie Sie wollen«, rief sie, »aber wie kann man so pedantisch sein! Wie kann man sein Leben zwischen Scherbenhaufen verbringen!«

Als Gordon und ich auf der Grabung unseren 186 Rundgang machten, sahen wir weit draussen auf dem flachen Feld die beiden Pferde von Kat und Ali Achmed, sie ritten Galopp und liessen eine kleine Staubwolke hinter sich zurück.

 

Ich traf Katrin Hartmann erst eine Woche später wieder, an einer Cocktail-Party bei Gaby Miles. Gaby Miles war mit George befreundet, sie interessierte sich für Archäologie und kam manchmal, gegen Abend, in ihrem eleganten Cabriolet nach Abderabad hinaus und sah sich die letzten Funde an. Sie sprach zehn Minuten lang über Lüstertechnik, Minai-Gefässe und prähistorische Dekorationen. In unserem düsteren, kalten Museum, wo auf jedem Arbeitstisch eine qualmende Petroleumlampe brannte, ging Gaby Miles in einem weissen, knappsitzenden Schneiderkleid umher, nahm sich Zigaretten aus unseren Zigarettenschachteln, die überall herumlagen – von Zorai im Bazar, Nummer 5 –, befahl Hassan, Wodka zu bringen, er strahlte, weil die englische »Khanum« persisch mit ihm sprach; dann füllte sie selbst die Gläser und trank, auf Vans Zeichentisch sitzend, mit uns. »Ich musste wieder einmal nach meinem Freund George sehen«, sagte sie, dann fuhr sie weg und liess den zarten Duft ihres Parfums und den zarten Glanz ihres goldblonden, mädchenhaft gelockten Haares in unserem kalten Museum zurück. Gaby Miles interessierte sich auch für Pferde, besonders für Polopferde, und Ali Achmed galt als 187 ihr Hausfreund. Sie gab jede Woche eine Cocktail-Party, gewöhnlich richtete sie es auf Donnerstag, aus Rücksicht auf ihren Freund George Gordon, denn freitags wurde in Abderabad nicht gearbeitet, und wir konnten es uns deshalb leisten, Donnerstag abends auszugehen ...

Die Europäer hielten darauf, bei Gaby Miles eingeladen zu werden. Man sagte nicht: »bei Mr. and Mrs. Miles«, denn Mr. Miles, Handelsattaché bei der englischen Botschaft und leidenschaftlicher Forellenfischer, spielte neben seiner Frau eine geringe Rolle.

George und ich fuhren also am nächsten Donnerstag in die Stadt, in unserem alten Chevrolet, dessen Trittbretter abgerissen waren und dessen Verdeck wie ein Segel im Staub der Landstrasse flatterte. »Meinst du«, fragte ich ihn unterwegs, »dass diese dänische Baronin da sein wird? Meinst du, dass sie bereits bei Gaby zugelassen ist?«

»Ich glaube, Gaby wird eifersüchtig auf sie sein. Sie hat Frauen nicht gern.«

»Aber wenn die Hartmann eingeladen ist«, antwortete ich, »dann hat sie auch die ganze Stadt schon erobert.«

George sagte nichts. Ich wusste nicht, ob ihm Katrin Hartmann gefallen hatte.

Wir stellten den Chevrolet in die Reihe der eleganten Limousinen, die in der Allee vor Miles' Haus parkiert waren. Als wir das Wohnzimmer betraten, waren die meisten Gäste schon 188 angekommen, sie standen in Gruppen zwischen den mit Chintz überzogenen Bombaystühlen; im Hintergrund des grossen Raums brannte ein Kaminfeuer. Gaby sass mit Ali Achmed an der Hausbar, sie trug ein weisses, kurzes, etwas zu sommerliches Kleid, das ihre dünnen Beine, ihre zu dünnen Arme und die kleinen, mageren Schultern frei liess und das schulmädchenhaft, beinahe rührend wirkte. Sie winkte uns, nahm zwei Gläser von der Bar, Ali Achmed, der Hausfreund, schenkte uns Whisky ein. »Habt ihr die Baronin Hartmann schon gesehen?« fragte Gaby, »ihr werdet sie gleich kennenlernen, sie hat mir versprochen, heute abend zu kommen.«

»Sie war bei uns draussen, auf der Ausgrabung«, sagte ich.

»Natürlich«, sagte Gaby, »sie interessiert sich für alles, ich hätte mir denken können, dass sie euch schon ausfindig gemacht hat!« Sie neigte sich nach vorn, stützte sich auf Alis Schulter: »Und stellt euch vor, dass dieser Junge mir Vorwürfe macht, weil ich die Baronin eingeladen habe! Ganz Teheran spricht von ihr, und ich soll mir nicht erlauben dürfen, sie einzuladen!«

»Sie scheint eine sehr gescheite Frau zu sein«, sagte George.

»Da hören Sie es«, Gaby schüttelte den jungen Ali an der Schulter, »seien Sie doch kein Stockfisch, Ali, ich bitte Sie! Morgen kommt Kat zu mir, um mein neues Pferd zu malen, den neuen 189 Turkmenen. Ihr solltet sie sehen, wenn sie malt! Sie streift die Ärmel hoch wie ein Bursche, stellt sich breitbeinig vor ihre Leinwand und malt, als ginge es ums Leben!«

In diesem Augenblick öffnete ein Diener die Tür, Katrin Hartmann trat ein. Sie trug den gelben Sweater mit Rollkragen, darüber eine braune Jacke, und hielt Hut und Handschuhe in der Hand. Sie sah aus, als sei sie gerade erst vom Pferd gesprungen, und schüttelte, als sie durch das Zimmer auf Gaby zuging, das kurze, braune, gelockte Haar aus der Stirn zurück. Alle Anwesenden hörten auf zu sprechen, traten zurück, um ihr Platz zu machen. »Lassen Sie sich nicht stören«, rief Kat lachend, »ich habe mich beim Reiten verspätet. Es war wundervoll draussen!« Und in die plötzliche Stille, in das von Zigarettenrauch erfüllte Zimmer brachte sie den Geruch von Staub und Leder mit sich herein, und vom Wind des freien Feldes einen grossen Atemzug ...

Katrin Hartmann hatte ganz Teheran für sich gewonnen. Sie war mit Gaby Miles befreundet, malte ihr Turkmenenpferd, und trainierte es für die Springkonkurrenz am Schluss der Schnitzeljagden. Sie ritt Ali Achmeds bestes Polopferd und besuchte seine Mutter, das gefürchtete Haupt der Familie Karagöl, zum Tee. Der dicke Emir Hossen gab für sie ein persisches Essen, sein ständiger Diener und Begleiter, der kleine Spassmacher Aghbar, fuhr sie, wie ein Chauffeur, in seinem neuen Buickwagen 190 umher, begleitete sie in den Bazar und zu den Antiquitätenhändlern. Sie ging mit Mr. Miles ins Gebirge, um Forellen zu fischen, mit Ali Achmed und seinen Brüdern auf deren Gütern in Kurdistan auf die Steinbockjagd. Sie hatte keine Zeit mehr, nach Abderabad zu kommen, aber sie schlug George und mir vor, in die Turkmenen-Steppe zu fahren, um dort die berühmten Pferderennen der Nomaden zu sehen. Leider hatten wir keine Zeit dazu; sie fuhr allein, mit einem armenischen Chauffeur. Als sie zurückkam, hatte in der Stadt die Wintersaison begonnen. Der dicke Emir gab ein altpersisches Fest, wo man herrliche alte Kostüme, persische Ringer und Tänzerinnen sah. Während des Essens – es gab nur persische Gerichte, Fasane, Reis mit Butter, Rosinen und Pistazien, Zucker und Melonen aus Isfahan – liess er seine Frau im Kostüm einer Tänzerin auftreten. Er hatte viele Frauen gehabt, diese war die jüngste, erst vierzehn Jahre alt, ein Nomadenkind, welches er in einem seiner Dörfer am Demawend gefunden hatte. Er hielt seine Frau sonst streng verborgen, heute zeigte er ihre Schönheit; sie nahm den weissen, mit Gold bestickten Schleier ab und tanzte in kleinen, grünen, goldbestickten Sandalen. Als Kat aufstand und sie vor allen Gästen an sich zog und küsste, schlug sie die Augen auf und betrachtete sie mit dem grossen, dunkelfeuchten Blick einer Gazelle.

Kat besuchte ein persisches Frauenbad, einige Tage später, im schwarzen Schleier und, in 191 Begleitung des Spassmachers Aghbar, ein Bordell am Kasvin-Tor. Aghbar war ein Vetter der Karagöls, er hatte sein Vermögen verspielt und lebte, geduldet und unentbehrlich, im Hause des dicken Emirs. Er verkehrte viel bei Europäern, man erzählte, er stehe im Dienst der Fremdenpolizei. Die Perser, sonst zurückhaltend gegen Ausländer, vergötterten Katrin, luden sie in ihre Häuser ein, sie lernte ihre Frauen kennen, sah ihre Sammlungen alter Miniaturen, kostbarer Korane, ihre eingelegten Waffen und schweren Seidengewänder. Um in die heilige Moschee von Abdul-Azim eindringen zu können, verheiratete sich Kat für die Dauer von vierundzwanzig Stunden mit einem Bruder des Emirs, der im Hause des dicken Reichen ein ähnliches Schmarotzer-Dasein führte wie der Spassmacher Aghbar. Er war klein, Kat überragte ihn um Haupteslänge, sie trug den Tschador, den schwarzen Schleier, wie eine Rüstung über den breiten Schultern. Die Moschee wurde von wallfahrenden Frauen besucht, die unfruchtbar waren, auf weissen Eseln ritten sie auf der alten Karawanenstrasse bis zum Tor des Heiligtums, das von blauen Kacheln und goldenen Ornamenten schimmerte. Katrin betrat den Moscheenhof an der Seite ihres zitternden Gatten. Man starrte sie an – als sie zurückging, folgte ihr eine drohende Menge durch die enge Bazargasse des Dorfs, erst vor dem Automobil des Emirs wich sie zurück. Der Gatte wurde noch vor Ablauf der vierundzwanzig Stunden auf eines der Güter am Demawend geschickt.

192 Weil die persischen Damen selten ausgingen und noch seltener Gäste in ihren Häusern empfingen, gaben die Perser ihre Diners meistens in einem der Lokale der Stadt, im »Pars« oder »Astoria«, die eine Mischung von Tanzlokal, Bar und Restaurant darstellten. Die Kapellen kamen aus Beirut oder, bestenfalls, aus Ägypten, die Besitzer waren Armenier und Levantiner, die Küche war schlecht. Whisky war das einzige geniessbare Getränk. Die Europäer besuchten diese Lokale manchmal am späteren Abend, nach dem Diner, wenn man keinen Gesprächsstoff mehr hatte und sich zu langweilen begann. Hausfrauen haben für solche Gefahrenmomente einen sicheren Instinkt; im richtigen Augenblick schlugen sie dann vor, dass man sich noch ein bisschen amüsieren sollte. Droschken wurden bestellt, und die ganze Gesellschaft siedelte in das Lokal um, das die beste Kapelle oder gerade neue Tänzerinnen aus Rumänien oder Ungarn zu bieten hatte.

Dies änderte sich während des Winters, den Katrin Hartmann in der Hauptstadt zubrachte. Sie war mit vielen Persern befreundet, der Emir Hossen lud als erster mit ihr zusammen ein paar Europäer zum Essen ins »Pars« ein, zuerst nur Junggesellen, den dänischen Gesandtschaftssekretär, den englischen Arzt; Kat selbst veranlasste, dass Aghbar George Gordon, Van und mich überraschenderweise in Abderabad abholte. Dann tat Gaby Miles den ersten Schritt und gab ein »Supper« im 193 »Astoria«. Das Essen begann um zehn Uhr und dauerte zwei Stunden, weil die Bedienung schlecht war. Man tanzte zwischen den Gängen. Um drei Uhr gelang es George und mir, Aghbar zu überreden, uns nach Hause zu fahren. Wir gingen auf die Strasse hinaus, ein rot uniformierter Negerjunge brachte Aghbars Mantel nach.

»So geht das jetzt jede Nacht«, sagte Aghbar, »es ist ein lustiges Leben, seitdem die Baronin da ist!«

Er setzte sich ans Steuer, wir fuhren die breite, leere Hauptstrasse zum Bazar hinunter.

»Ich wundere mich bloss, dass sie es aushält!« sagte ich.

Aghbar bog in die Bazarstrasse ein. Er fuhr schnell. Er war leicht betrunken. »Dass sie es aushält?« fragte er, »eure Baronin? Sie kann zehn Gäule zuschanden reiten und zehn Männer ums Leben bringen, ohne auch nur Atem zu schöpfen!«

George, der hinten im Wagen sass, rief: »Fahren Sie langsamer! Halten Sie am Stadttor, wir müssen unsere Papiere zeigen!«

»Am Stadttor«, schrie Aghbar zurück, »ich dachte, Sie wollten vielleicht auch ein Bordell am Stadttor besuchen, wie die Baronin!«

George antwortete nicht. Aghbar rief den Wachsoldaten am Tor etwas zu und fuhr in die Ebene hinaus.

»Ja«, sagte ich, »sie hat sich allerhand geleistet, sie ist mutig, sie kann es sich leisten, die ganze Stadt ist ja verrückt nach ihr! Vielleicht einfach, weil sie 194 so schön ist ...«, fügte ich hinzu und vergass, wer neben mir sass.

Aghbar brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. »Schön!« schrie er, und liess, vor Lachen geschüttelt, das Steuer los und schlug sich mit den Fäusten auf die Brust, »schön nennt ihr das? Das ist nicht schön, das ist ein halber Mann, ein Pferd ist das!«

»Passen Sie doch auf!« schrie George von hinten.

Wir kamen um halb vier Uhr nach Abderabad. Um halb sechs Uhr mussten George und ich mit dem Lastwagen auf die Grabung hinaus. Wir beschlossen, keine Einladungen mehr anzunehmen.

Vierzehn Tage lang führten wir durch, was wir beschlossen hatten. Wir schrieben Gaby Miles, dass wir am nächsten Donnerstag nicht zur Cocktail-Party kommen könnten, weil wir jetzt abends den Katalog aufarbeiten müssten. Wir dankten dem Emir für seine Einladung und gingen einfach nicht hin. Wir gaben Aghbar einen Wodka, als er mit dem Wagen kam, um uns abzuholen, und führten ihn durch den Garten zu allen Scherbenbeeten, bis er genug davon hatte und in die Stadt zurückfuhr. Wir standen um fünf Uhr auf und arbeiteten den ganzen Tag, und abends sassen wir mit Van auf der Treppe vor dem Museum und sprachen darüber, was wir machen würden, wenn die Saison zu Ende war. Vielleicht würden wir über Kurdistan fahren, und nachher meine Freunde in Syrien 195 besuchen. George wollte auch nach Konstantinopel, er war dort früher Lehrer an der Amerikanischen Schule gewesen. Aber vielleicht war es besser, direkt nach Hause zu reisen. Wir redeten davon, als seien wir viele Jahre nicht mehr zu Hause gewesen. Um neun Uhr holten wir die Taschenlampen im Museum und gingen schlafen. So machten wir es vierzehn Tage lang. Wir luden Katrin Hartmann ein, Donnerstag abend zu uns herauszukommen. Wir wollten ein Mondschein-Picknick auf der Ausgrabung veranstalten. Sie schickte uns ein paar Flaschen Wodka und kam nicht.

Am nächsten Nachmittag fuhr ich mit George in die Stadt. Wir mussten im Bazar Gemüse, Fett und Melonen besorgen. Nachher ging George zu den Antiquitätenhändlern, und ich fuhr mit dem Wagen ins Hotel Naderi. Ich sah Ali Achmeds Wagen vor der Tür stehen. Ich wartete im Salon, es war ein kalter, düsterer Raum, leer bis auf ein paar schmale, mit grünem Samt überzogene Bänke, welche die Wände entlang aufgestellt waren. Über einem Spiegel hing eine Photographie des jungen Thronfolgers in weisser Uniform.

Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, hörte ich draussen einen Wagen anspringen, und Katrin kam herein. »Ich dachte, es sei Gaby Miles«, sagte sie, »ich wollte nicht, dass sie Ali Achmed hier antrifft, sonst hätte ich Sie nicht warten lassen.« Ihr Gesicht war gerötet, als habe sie Fieber. »Ich bin gerade mit ihm vom Reiten zurückgekommen«, 196 fuhr sie fort, »wir wollen etwas Heisses trinken. Vielleicht einen Grog.« Sie liess sich auf eine der schmalen Bänke fallen, sie sah müde, nervös und fiebrig aus. »Ich friere immer so nach dem Reiten«, sagte sie.

»Die können hier keinen Grog machen«, sagte ich.

»Abdul kann es«, sagte sie, »ich habe jetzt einen eigenen Diener, Ali Achmed hat ihn mir besorgt.« Sie klatschte in die Hände, ein schlecht gekleideter, junger Bursche trat ein. Offenbar hatte er vor der Tür gewartet. »Abdullah«, sagte Kat, »bring heissen Wein mit Zucker, hast du verstanden?«

Er ging.

»Soll ich ihm eine weisse Livree machen lassen?« fragte Kat, »haben eure Diener in Abderabad weisse Livreen?«

»Nein«, sagte ich, »sie sind barfuss und schmutzig. Man gewöhnt sich daran.«

»Es lohnt sich auch nicht«, sagte Kat, »für die kurze Zeit.«

Abdullah kam zurück. Er brachte einen Krug mit dampfendem Wein, und, unter den Arm geklemmt, ein Bündel Zeitungen und Briefe. »Die Post«, sagte er. Es waren schwedische Zeitungen, und die Briefe hatten dänische Marken.

»Ich mag sie gar nicht mehr lesen«, sagte Kat, »ich will bald nach Hause fahren. Freust du dich, wenn du Post von zu Hause bekommst?« Sie duzte mich zum ersten Mal, aber ich wusste, dass 197 Skandinavier, besonders junge Leute, es mit dem »du« nicht besonders genau nehmen.

»Nein«, sagte ich, »ich freue mich nicht. Es ist meistens unangenehm. Man bekommt Heimweh davon.«

Kat nahm die Briefe in die Hand. »Dieser ist von meiner Mutter«, sagte sie, »und dieser hier vom Verlag. Ach, ich will gar nicht wissen, was er schreibt, es ist doch immer das gleiche.«

»Wann müssen Sie Ihr Manuskript abliefern?« fragte ich.

Sie schenkte den heissen Wein in die Gläser. »Ich will es gar nicht wissen«, sagte sie, »ich weiss nur, dass ich an Weihnachten wieder in Dänemark sein werde.«

»Aber Sie waren ja noch gar nicht im Süden! Sie haben ja noch nicht einmal Persepolis gesehen!«

»Ich will es nicht sehen«, sagte Kat, »der Verlag zahlt mir nur drei Monate Aufenthalt, die sind ohnehin schon fast abgelaufen.«

»Sie müssen nach Süden fahren«, sagte ich, »gehen Sie ins Gebirge, zu den Nomadenstämmen, zu den Bakhtiari und Kaschgai, wenn Sie schon Persepolis nicht sehen wollen. Hier verlieren Sie nur Ihre Zeit.«

»Ja«, sagte sie, »ja, ich verliere nur meine Zeit. Ich will nach Hause fahren. Ich will meine Kinder wiedersehen.«

»Aber das Buch«, sagte ich, »Sie können doch nicht ein Buch über den Stadtklatsch von Teheran schreiben!«

198 Katrin begann zu lachen. »Ich kann überhaupt nicht schreiben«, sagte sie, »aber wenn du willst, kann ich auch zu den Nomaden fahren. Auch nach Persepolis. Sag deinem Freund George, dass ich euch einlade, mit mir nach Süden zu reisen.«

»Wir haben ja keine Zeit.«

»Ihr habt nie Zeit, etwas Vernünftiges zu tun!«

»Ausserdem ist es jetzt auch zu spät. Jetzt beginnt die Regenzeit, dann schneit es, und die Strassen haben keine Brücken. Im Winter kann man hier nicht reisen, du musst bis März warten.«

»Bis März«, sagte Kat, »aber wovon soll ich hier leben?« Sie schenkte sich wieder ein.

»Ich muss gehen«, sagte ich, »George wartet auf mich.«

»Kommt ihr heute abend ins ›Astoria‹?«

»Es geht nicht, wir müssen morgen arbeiten.«

»Bitte«, sagte sie, »bitte, kommt mit mir ins ›Astoria‹! Du musst George dazu überreden. Gaby wird dort sein. Der Emir und Aghbar werden dort sein. Alle werden kommen.«

»Dann brauchst du doch uns nicht!«

»Ich bitte dich«, sagte Kat.

 

George und ich sassen im »Astoria«. Um neun Uhr kam Gaby Miles. Sie setzte sich mit uns an die Bar. Sie trug ein schwarzes Abendkleid, das den Rücken frei liess und nur durch zwei breite Bänder über den Schultern gehalten wurde. Sie war weiss und zart und mager, ihr Haar glänzte und 199 schmiegte sich mit runden, zarten Locken in ihren kindlichen Nacken. »Wenn doch Kat endlich käme«, sagte sie.

Ich sagte: »Sie wird schon kommen. Sie hat uns hierher bestellt.«

»Solange sie nicht da ist, wartet alles auf sie«, sagte Gaby, »man kann ohne sie einfach nicht mehr auskommen.«

Um zehn Uhr waren eine Menge Leute da. Emir Hossen und sein Spassmacher, Ali Achmed, mehrere junge Engländer von der Ölkompanie, der englische Arzt, sogar der neue dänische Gesandte mit seiner Gattin. Man wartete auf die Baronin Hartmann. Mr. Miles spielte Bridge mit dem Emir und zwei Belgiern. Um halb elf Uhr kam Ali Achmed an die Bar, er küsste Gaby die Hand.

»Vielleicht sollten wir ins ›Naderi‹ fahren«, sagte er zu mir, »vielleicht hat sie es einfach vergessen.«

Wir gingen die Treppe zur Garderobe hinauf, als Kat ankam. Wir sahen sie auf der Strasse den Droschkenkutscher bezahlen und über den Hof laufen. Der Negerjunge lief neben ihr her und hielt einen Schirm über sie. Sie trug ein Abendkleid aus schwarzem Samt, den Mantel hatte sie wie ein Offizierscape über eine Schulter gehängt, an der anderen, nackten, weiss schimmernden Schulter trug sie rote Federn, die wie ein Strauss von Feuerlilien aussahen. Sie war sehr bleich, ihr Gesicht und ihr breiter Hals schimmerten über dem Rot der Federn.

200 »Wir wollten dich abholen«, sagte ich.

Ali Achmed stand da, auf dem feuchten Pflaster des Hofs, den Mantel über dem Arm, und starrte sie an.

»Danke«, sagte sie, »es ist nichts. Ich habe eine schlechte Nachricht bekommen.« Sie ging vor uns her, die Treppe hinunter.

Während des Essens sass sie zwischen dem dicken Emir und dem neuen dänischen Gesandten, und George und ich sassen am anderen Ende des Tisches. Gaby schickte mir eine Karte hinüber: »Was ist mit Katrin?« Ich antwortete nicht. Man begann, zwischen den Gängen der Mahlzeit, zu tanzen. Kat tanzte mit Ali Achmed, und sie redeten kein Wort miteinander. Beim nächsten Tanz forderte er sie wieder auf, dann tanzte er einmal mit Gaby Miles, und dann nur noch mit Kat. Sie hielt den Kopf zurückgeworfen und sah aus, als habe sie geweint. Sie waren beide gleich gross, aber Kat war breiter und kräftiger als er, und ihr Kopf sah neben seinem schmalen, dunklen Gesicht mit dem schwarzen, gekräuselten Haar wie das Haupt eines Erzengels aus.

Nach dem Essen sass Aghbar mit George und mir am abgeräumten Tisch und erzählte Witze. Ich wäre gern nach Hause gefahren, aber oben am Tisch sass Kat und hatte den Arm um den fetten Hals des Emirs gelegt, und es war beunruhigend, sie lachen zu hören. Ali Achmed stand in höflicher Haltung neben ihrem Stuhl und unterhielt sich mit 201 Gaby Miles. Dann drehte er sich plötzlich nach Kat um, und Gaby sprang auf und legte ihr den Arm um die Schulter. Kat sass ganz ruhig, den Kopf nach hinten geworfen, und weinte. Sie schob Gabys Arm weg und weinte unbeweglich, mit erhobenem Gesicht.

»Man muss sie nach Hause bringen«, sagte ich.

Wir standen auf, und George ging auf sie zu und sagte laut: »Nehmen Sie sich doch zusammen, Kat! Hören Sie doch auf, vor diesen Leuten zu weinen!«

Sie schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander, aber ihr Gesicht war von Tränen überströmt, und unter den geschlossenen Lidern drangen immer mehr Tränen hervor.

»Lasst Sie in Ruhe«, sagte Gaby Miles, sie stellte sich vor Ali Achmed, als müsse sie Katrin vor ihm schützen.

Neben mir sagte einer der Belgier: »Was für eine widerliche Komödie!« Ich kannte ihn nicht.

»Sie hat eine schlechte Nachricht bekommen«, sagte ich, »sie hat einfach die Nerven verloren.«

»Nerven!« sagte der Belgier, »glauben Sie doch nicht, dass Frauen dieser Sorte Nerven haben!«

»Hören Sie schon auf!« sagte ich wütend. Ich sah mich nach dem dänischen Gesandten um. Er war mit seiner Frau weggegangen. Gaby Miles, ihr Mann, George und Ali Achmed bildeten einen Kreis um Katrin. Sie stand auf. Miles, der am meisten getrunken hatte, schien auf einmal ganz nüchtern.

202 »Also jetzt sind wir so weit«, sagte er, »jetzt bringen wir Sie nach Hause!«

»Ach, lasst mich in Ruhe!« sagte Kat, mit einer vom Weinen rauhen Stimme. George folgte ihr die Treppe hinauf.

Ich wartete auf der Strasse im Regen, bis er mit dem Wagen zurückkam. »Was hatte sie nur?« fragte ich ihn.

»Komm«, sagte Georg und öffnete den Wagenschlag, »komm, wir wollen nach Hause fahren. Ich glaube, sie hat endlich einmal die Nerven verloren!« Und viel später fügte er hinzu: »Im Auto war sie zuerst ganz ruhig. Dann sagte sie plötzlich: ›Ich habe es satt‹, und fing wieder an zu weinen, wie ich nie einen erwachsenen Menschen habe weinen hören.

Ich fragte George am nächsten Vormittag, ob er während der Mittagspause mit mir in die Stadt fahren würde.

»Wenn es sein muss, natürlich«, sagte er, »was willst du denn in der Stadt?«

»Ich habe das Gefühl, man sollte sich um Katrin kümmern.«

»Das Gefühl werden genug andere Leute haben.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich doch lieber fahren.«

»Schön«, sagte George, »dann werde ich den Direktor um den Wagen bitten.«

Wir fanden Katrin im Bett. Sie trug ihren 203 Rollsweater und einen wollenen Schlafrock und hatte sich mit einer schwarzen Decke aus Ziegenhaar und mit ihrem Mantel zugedeckt. Trotzdem fror sie, ihre Lippen waren aufgesprungen und blau vor Kälte.

»Es ist gut, dass ihr kommt!« sagte sie. »Ihr müsst mir helfen. Ich muss sofort abreisen.«

»Ich glaube, Sie brauchen einen Arzt«, sagte George.

Sie richtete sich ein wenig auf, ihre Zähne schlugen aufeinander. »Versteht ihr mich«, sagte sie, »ich will keinen Arzt. Ich will abreisen.«

»Sie können in diesem Zustand nicht reisen. In einer Stunde werden Sie das schönste Fieber haben.«

»Aber ich muss nach Hause!« schrie sie.

George und ich sahen uns an. Wir schwiegen beide. Kat liess sich auf das Kissen zurückfallen, ihr Gesicht rötete sich plötzlich, das Fieber begann. George drehte sich leise um und ging zur Tür. »Hören Sie«, sagte Kat, sie schrie nicht mehr, ihre Stimme klang heiser und angestrengt, »holen Sie bitte keinen Arzt, George. Es hilft ja nichts, ich muss nach Hause reisen, meine Mutter hat mir geschrieben, dass mein Kind krank ist. Es ist fünf Jahre alt. Es wird sterben.«

»Kat«, sagte ich, »wenn es so gefährlich wäre, würde man dir doch telegraphieren!«

Sie sah mich an, ihre Augen wurden weit vor Angst. »Ich habe heute morgen ein Telegramm bekommen«, sagte sie.

204 Wir konnten beobachten, wie das Fieber stieg. Katrin sprach die ganze Zeit, der Schüttelfrost hörte auf, sie lag ganz still und hielt die Augen weit geöffnet und redete. »Meine Mutter hält mich für eine Abenteurerin«, sagte sie, »sie glaubt mir nicht, dass ich weggegangen bin, weil wir Geld brauchen. Sie hat nie Geld gebraucht. Sie hat nie ihren Mann verlassen. Sie hält mich für eine schlechte Frau. Wenn ich nur Zeit hätte, nach Hause zu reisen! Ach, wenn ich nur Zeit hätte«, klagte sie, »aber mein Vertrag läuft ab, und der Verlag hat mir geschrieben, dass er mir kein Geld mehr schicken kann, bis ich das Buch abgeliefert habe, und ich habe noch keine Zeile geschrieben!« Sie schrie uns an: »Ich werde keine Zeile über dieses Land schreiben, ich hasse dieses Land, ich hasse meine Mutter, oh, ich hasse euch, ich hasse euch!«

Endlich kam George mit dem englischen Arzt zurück. Katrin hatte vierzig Grad Fieber, ihre Zunge war geschwollen. Der Arzt stellte eine schwere Angina fest. Als George mit ihm hinausgegangen war, um mit dem Englischen Krankenhaus zu telefonieren, fasste Katrin meine Hand, zog mich zu sich herab und flüsterte: »Du musst bitte zu den Karagöls fahren«, sie stockte einen Augenblick, liess mich los und fuhr mit klarer Stimme fort: »Sag Ali Achmed, dass man mich in das Englische Krankenhaus gebracht hat.«

 

Man behielt das Telegramm mit der Nachricht 205 vom Tode ihrer kleinen Tochter zurück, bis Katrin die schwersten Fieberanfälle überstanden hatte. Vierzehn Tage lang durfte man sie nicht besuchen, auch nachher, der Ansteckung wegen, nur auf eigene Gefahr. Katrin hatte eine Blutvergiftung, geschwollene Füsse, ihr linkes Armgelenk entzündete sich, der Arzt sagte, dass das Gelenk wahrscheinlich steif bleiben würde.

Als es ihr endlich besser ging, begann sie, Persisch zu lernen. Ali Achmed las mit ihr Firdusis »Schahname«, sein Wagen stand den ganzen Tag vor dem Krankenhaus. Sonst bekam sie wenig Besuch. Vierzehn Tage sind, während der Saison, eine lange Zeit, nachher hatte man Katrin Hartmann vergessen. Nur Gaby Miles erschien manchmal, zusammen mit Ali Achmed, im Krankenhaus, mit Blumen, englischen Zigaretten und englischen Romanen. Aber Katrin war mit ihren persischen Wörterbüchern beschäftigt.

Einmal, als ich abends neben ihrem Bett sass, fragte sie mich: »Wirst du eigentlich diesen George heiraten?«

»Wie kommst du darauf!« sagte ich lachend.

»Dann ist es schon gut«, sagte Kat, »ich hatte Angst, dass du ihn heiraten würdest, er ist doch ein besonders netter Junge.«

»Ja«, sagte ich, »er ist nett, er ist mein bester Freund.«

»Aber er hängt an diesem Land. Ich möchte nicht, dass du in diesem Land bleibst«, antwortete Kat.

206 Sie verliess das Krankenhaus nach sechs Wochen. Während dieser ganzen Zeit hatte sie nie etwas über ihre Pläne gesagt, nie von ihrer Abreise geredet. George und ich fuhren, wie gewöhnlich, Donnerstag abends in die Stadt und liessen Katrin unseren Besuch anmelden. Ihre Nurse, eine junge Armenierin, kam die Treppe hinuntergelaufen. Sie lächelte George an. »Die Baronin ist nicht mehr bei uns«, sagte sie, »sie ist vor zwei Tagen mit dem Prinzen Karagöl abgereist.«

Ihre Mutter hat also recht gehabt: Katrin ist eine Abenteurerin. Sie ist nach Persien gekommen, um über dieses grossartige und merkwürdige Land ein Buch zu schreiben, und wenn sie sich auf ungewöhnliche und zuweilen abwegige Unternehmungen einliess, verzieh man es ihr, denn sie tat es, um Material für dieses Buch zu sammeln. Überhaupt verzieh man ihr alles, man war geneigt, ihren Mut zu bewundern, im Sturm gewann sie die ganze Hauptstadt. Männer und Frauen, Europäer und Perser waren geradezu in sie verliebt. Aber sie war undankbar, wie nur Abenteurer es sein können, und ihr Buch ist nie erschienen. Später behauptete man, sie habe überhaupt nie eine Zeile geschrieben, ja, selbst der Tod ihres Kindes, diese ergreifende Begebenheit, sei nur erfunden gewesen, wohl aber habe der Verlag Katrin grosse Summen ausgezahlt, denn wovon hätte sie sonst den Winter über gelebt, wovon die hohen Rechnungen des Englischen Krankenhauses bezahlen können? Dänemark war 207 weit, der dänische Gesandte war zurückhaltend, wenn das Gespräch auf die Baronin Hartmann kam. Und Katrin war weggereist, mit ihrem Liebhaber, den sie dazu verführt hatte, seine junge Frau zu verlassen. Sie konnte nicht hören, was über sie gesprochen wurde, sie konnte ihren Freunden nicht antworten, sich gegen ihre einstigen Freunde nicht verteidigen. Vielleicht fuhr sie nicht nach Dänemark zurück, weil sie für ihr Buch noch nicht genügend Material hatte, vielleicht fürchtete sie sich, nach Hause zurückzukehren und ihre kleine Tochter nicht mehr wiederzufinden. Vielleicht hatte sie ein angefangenes Manuskript im Koffer, das sie dann eines Abends verbrannte, weil es ihr nicht gut genug vorkam – oder vielleicht verzweifelte sie einfach. Denn in den grossen Hochländern werden Leute, die an ihre traumverwehte Grösse nicht gewöhnt sind, manchmal von Verzweiflung ergriffen, von einer namenlosen Trostlosigkeit ... Ja, vielleicht hätte man Katrin nicht allein lassen sollen!

George und ich redeten im Lauf des Winters oft von Katrin, aber sie hatte uns vergessen, nie bekamen wir eine Nachricht von ihr, nie erinnerte sie sich daran, dass sie mit uns hatte nach Persepolis fahren und von der königlichen Terrasse mit uns zusammen in die ewigen Ebenen hinabschauen wollen.

Sie war monatelang verschollen.

Im März, als der Frühling ausbrach und der schmelzende Schnee vom Tauschalgebirge die 208 Bäche füllte, hörte man, dass Katrin mit Ali Achmed im Süden sei, in den Bergen der Bakhtiari, der Nomadenstämme, Gast in ihren Zelten aus Ziegenfilz. Aber Ali Achmed kehrte eines Tages in die Hauptstadt zurück. Er stellte sich ein bei Gabys Cocktail-Parties, er ritt wieder seine Polopferde, er hatte einen neuen, eleganten, hellgrünen Wagen. Von seiner Frau hatte er sich scheiden lassen, es hiess, er würde in den diplomatischen Dienst treten und nach Europa gehen.

Niemand fragte ihn nach Katrin. Trotzdem verbreitete sich das Gerücht, sie sei, schwer krank, nach Teheran gekommen und wohne im Hause von Ali Achmeds Mutter. Sie meldete sich bei keinem ihrer alten Freunde. Niemand hatte sie gesehen. Sie versteckte sich wie ein krankes Tier – oder aus Hochmut? Schämte sie sich ihres Liebhabers? Des jungen, eleganten, dunkelhaarigen Ali Achmeds, der seine Rolle als Gabys Hausfreund so unbefangen wieder angetreten hatte? Liebte Katrin ihn so sehr?

»Man soll sie doch um Gottes willen in Ruhe lassen!« sagte George zu mir.

»Aber sie ist krank«, sagte ich, »wahrscheinlich hat sie einfach kein Geld mehr. Wahrscheinlich möchte sie nach Hause.«

»Wahrscheinlich«, sagte George, »aber wie soll man sich um sie kümmern? Sie will uns ja nicht sehen. Sie hat uns vergessen.«

Ali Achmed ist seit einigen Monaten in Rom,

209 man prophezeit ihm eine glänzende Karriere. Durch den Spassmacher Aghbar haben wir erfahren, dass Katrin ihr Visum verlängern liess und in die Bakhtiari-Berge zurückkehren wollte, zu den Nomadenhäuptlingen, zu den wilden Pferden, zu den Ziegenfilz-Zelten. Aghbar ist allerdings nicht zuverlässig, aber ich kann mir denken, dass Katrin sich an das Leben dort draussen gewöhnt hat. Sie wird kein Buch über den Klatsch der Hauptstadt schreiben. Vielleicht wird sie Dänemark, seine fetten Weiden und Laubwälder nie wiedersehen. Sie ist, trotz allem, eine grossartige Frau. Aber George meint, man hätte sie nicht allein lassen dürfen ...

 


 


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