Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Bei diesem Regen

Tobby, Kade und ich waren im Regen unterwegs. Seit drei Tagen regnete es, seit drei Tagen ritten wir in der Umgebung von Dukiane umher und suchten den Hügel einer biblischen Stadt, worin seit zweitausendfünfhundert Jahren die Statuen hethitischer Götter verborgen liegen mussten, seitdem der Sturm der assyrischen Streitmächte über die Ebenen Nordsyriens gefegt war und Städte, Burgen und Tempel eingeäschert hatte. Der Platzkommandant der Gendarmerie von Dukiane hatte uns eine Begleitung mitgegeben, vier Mann, darunter einen französischen Unteroffizier. Die anderen waren Araber, die während des Reitens Zuckerwerk assen, Mehl, Zucker und Hammelfett. Sie drehten kleine Kugeln daraus, und boten uns davon an. Wir verkrümelten sie.

Die bewaffnete Begleitung war notwendig in dieser harten Jahreszeit. Hungrige Beduinen lauerten an den Strassen, überfielen Automobile auf dem Weg zwischen Aleppo und Antiochia, warum nicht auch uns? Sie erschienen rasch, standen schreiend auf der Strasse, schüttelten ihre Gewehre, schossen selten. Nachher verschwanden sie, hinter den römischen Trümmern, die sich, 40 Sonnentor, zerfallener Bogen oder alter Wachtturm, aus der Steinwüste erhoben. Arabische Soldaten konnten mit den Räubern verhandeln, wir fühlten uns in ihrer Begleitung sicher. Wir fürchteten den Regen viel mehr, und auch ihn nicht der Nässe wegen, sondern weil das Land ihm preisgegeben war und unter seiner düsteren Fahne trostlos, gesättigt mit Trauer, dalag. Und was half uns dagegen unser bester Mut? – Schweigsam ritten wir, einer hinter dem anderen, als sei jeder allein.

Die Verhandlungen mit den Dorfbewohnern hatten wir als aussichtslos aufgegeben. Ein Tell, ein Ruinenhügel? Sie wiesen in die Runde, über Fluss und Ebene: Da gab es hundert Hügel. Heilige wohnten darauf; die bescheidenen Siedlungen dieser letzten Generation lebten in ihrem Schutz und im Hügelschatten, in Aberglauben und Gespensterfurcht. Namen? Meistens hatten solche Hügel keine Namen, und oft ging der Pflug darüber hinweg. Dann wurden Scherben ans Licht gekehrt, und die Dorfleute brachten sie uns. Fast immer waren es gewöhnliche, rote Scherben aus römischen Fabriken, und von den Römern stammten auch die Mauerquadern, die da und dort das dünne Gras durchbrachen. Darunter, wussten wir, lag Schicht um Schicht: Assur und Zypern, tausend syrische Völkerschaften, beeinflusst von Meervölkern und Ägyptern, und von den mächtigen Hethitern Kleinasiens. Aber der Regen wusch höchstens römische Skelette und byzantinische Lampen rein. 41 Namen? Hethitische Vogelgesichter? Die Beduinen wussten nichts. Ihre Hunde, mit verstümmelten, oft noch blutigen Ohren, kläfften unsere Pferde an. Und es ging weiter, im Regen, die Steinwüste verwandelte sich allmählich in Lehm, der schwer an den Hufen hing.

Wir waren am vorigen Abend nach Aleppo gefahren und hatten den Fliegerhauptmann Poiret in der Bar Parisiana gefunden, natürlich betrunken, wie immer. Er hatte uns eine Flugaufnahme gezeigt, mit hundert Ruinenhügeln. »Aber wenn ihr etwas Genaues wissen wollt, ihr habgierigen Schurken ...« – denn er hielt amerikanische Ausgräber für Grabräuber –, »dann fragt den Leutnant, der dort oben die topographischen Aufnahmen macht. Der wird es euch schon verraten.«

Dorthin ritten wir heute. Es war ein weiter Weg, unsere Begleiter waren unzufrieden. Wir ritten nordwärts, über die Ebene, die einem Meer glich, wir verliessen den Fluss, die römischen Ruinen, die Strasse, die standhielt den Versuchungen, wir verirrten uns, weit war Dukiane, und sehr weit der Hügel der Zitadelle von Aleppo, der sich eine Weile noch tröstend am Rand der Regen-Welt erhoben hatte.

Auf der Geröllhalde glitten die Hufe unserer Pferde aus. Ihre Leiber dampften, ihr Fell glänzte von Schweiss. Regen floss von ihren Hälsen.

Oben stand eine einzige Baracke, dort, im Wind, der von einem dunklen Gebirgskamm geisterhaft 42 herüberstrich, preisgegeben der grossen Trauerfahne, entrückt der Ebene, wohnte allein der Leutnant.

Wir klopften, ein arabischer Bursche in französischer Uniform öffnete uns. Durch eine zweite Tür kamen wir in das Zimmer. Der Leutnant war krank. Er lag auf seinem Feldbett, bis zum Halse zugedeckt. Der Bursche flüsterte. »Herren«, sagte er, »es ist das Fieber. Jetzt schläft mein Herr, Allah behüte ihn. Aber wenn er erwacht, wird das Fieber steigen.«

»Bring Tee«, sagte Tobby.

Der Bursche verschwand, schloss die Tür hinter sich. Wir sahen uns um. Im Zimmer standen, ausser dem Feldbett, ein Tisch und zwei Militärkoffer, alles mit Karten bedeckt. An der Wand hingen Helm und Mantel des Offiziers. Wir schoben die Karten weg und setzten uns auf die Koffer.

»Ob wir ihn wecken?« flüsterte Tobby, »aber wenn er sehr krank ist, nützt es gar nichts. Dann kann er uns ja gar nichts erklären!«

»Lass ihn«, sagte Kade.

Der Bursche kam zurück, er trug die kleinen Teegläser auf einem Tablett aus Blech, stellte sie sorgfältig auf den Tisch.

»Was fehlt dem Leutnant?« fragte ich.

»Es ist das Fieber«, sagte er, »aber es wird vorbeigehen. Mit dem Regen wird es vorbeigehen.«

»Hat er es oft?«

Der Bursche hob bejahend den Kopf. »Wenn es regnet«, sagte er.

43 Der Leutnant richtete sich plötzlich auf. »Sie müssen mich entschuldigen«, sagte er, seine Stimme war merkwürdig klar. »Ich hätte Sie gern besser empfangen.«

»Bleiben Sie liegen«, sagte Kade.

Der Kranke sank zurück, sein Gesicht war gerötet, sehr jung, ein Schulknaben-Gesicht.

Ich stand auf, ging an sein Bett: »Es ist an uns, sich zu entschuldigen«, sagte ich, »wir kommen von Dukiane und wollten Ihre Karten sehen. Wir suchen einen Hügel.«

Er sah mich an, verstand nichts. »Meine Karten«, sagte er seufzend, »wenn Sie wüssten, wie schwierig das alles ist.«

»Es handelt sich nur um einen Hügel ...«

Ich sah vor mir, was er von der Plattform seiner Baracke aus überblicken mochte: die grosse Ebene, hunderthügelige, unseres Landes. Dörfer, den Orontes, in der Ferne eine Gebirgskette. Und Schritt für Schritt mass er aus, allein mit seinem arabischen Burschen. Sinnlos, dachte ich, was wir da von ihm verlangen, sinnlos, was man von ihm verlangt. Dabei ist er noch fast ein Kind.

»Ich kenne alle Hügel«, sagte er, »aber sie haben keine Namen. Ich bin auch kein Archäologe.« Und fügte, nach Atem ringend, hinzu: »Ich verstehe nichts von Hügeln, nichts von diesem Land. Es ist alles so schwierig ...«

»Malaria?« fragte Tobby.

Der Leutnant sah zu ihm hinüber. »Hier soll es 44 ja keine Malaria geben«, sagte er, »aber ich war einmal drüben, in den Malariagebieten –«, wir fragten nicht wo, »und jetzt, bei diesem Regen ...« Er verstummte, wir sahen, wie das Fieber seinen Körper ergriff. Er wurde sehr blass, Kälte schüttelte ihn, es half nichts, ihm Tee einzuflössen. Wir legten seinen Mantel über die Decke, das Zittern stieg von den Füssen bis zu den Schultern, ergriff das Kinn. Sein Gesicht verwandelte sich, wurde gespannt, er fürchtete sich, seine Hand umklammerte mein Knie. »Seit drei Tagen«, klagte er, »seit drei Tagen dieser Regen!«

Ich sah Tobby am Tisch über eine Karte gebeugt, Kade unschlüssig neben ihm stehen. Es war fünf Uhr, Zeit, zurückzureiten. Es war schon fast dunkel. Wir würden den Weg verlieren. Wir würden keinen Hügel finden. Wir würden nicht mehr nach Hause finden.

»Es wird auch nicht mehr lange dauern«, sagte ich zu dem Leutnant, »Sie kennen sich doch aus, Sie wissen doch, dass Malariaanfälle nicht ewig dauern.«

»Ach«, sagte er, »es ist nicht wegen der Malaria. Es ist wahrhaftig nicht wegen des bisschen Fiebers.« Röte drang jetzt schnell in seine Kinderstirn. Das Fieber stieg rasch, er würde sich besser fühlen.

»Sie müssen Heimaturlaub nehmen«, sagte ich, über ihn gebeugt. Er starrte mich an, schon ein wenig beruhigt.

»Sehen Sie«, sagte er mit einem kleinen Lächeln, 45 »wie wenig das Fieber bedeutet. Jetzt bin ich schon ganz heiss, und dann träume ich.«

»Schickt man Ihnen keinen Arzt?«

»Von Aleppo?« fragte er, »aber ich kann ja nicht berichten. Und dann – ich habe mich freiwillig gemeldet. Ich muss die Karten fertig zeichnen. Ich muss!«'

»Wenn Sie gesund sind.«

Er drehte sich plötzlich zur Seite, schob ein wenig die Decke weg, näherte sich mir. »Ich werde nicht gesund«, flüsterte er, »ich habe die tropische Malaria, und ich habe so viel getrunken, dass ich es nicht mehr überstehen kann. Ich kann keine Chininspritzen überstehen. Ich werde – diesen Regen – nicht überstehen.« Er sah mich entsetzt an. »Deshalb habe ich mich hierher versetzen lassen«, flüsterte er hinzu. Ich schob ihm die Decke wieder über die Brust.

»Wie alt bist du?« fragte ich.

»Dreiundzwanzig.«

»In diesem Alter hält man alles aus. Wir werden dich nach Aleppo holen lassen. Noch heute fährt unser Chauffeur hinüber. Wie heisst dein Kommandant?«

Er antwortete nicht mehr. Sein Körper streckte sich aus, Zittern und Frost waren von ihm gewichen. Er schlief, wie es schien, fast ohne Atem, wie kleine Kinder schlafen.

Tobby stand neben mir. »Jetzt müssen wir gehen«, sagte er leise. Unter der Tür stand der 46 französische Unteroffizier. »Jetzt müssen wir gehen«, wiederholte er.

Draussen hatte der Regen aufgehört. Ein sanfter, von Nebel verhangener Nachthimmel lagerte über der Ebene. Wir bestiegen die Pferde, die Soldaten folgten. Im Schritt ritten wir die Geröllhalde hinunter.

 

Tobby fuhr noch in derselben Nacht mit Hussein nach Aleppo und benachrichtigte die Garnison. Man konnte mit dem Auto nicht bis zur Baracke des Leutnants gelangen, er wurde von Sanitätern bis zur Landstrasse gebracht, und verfiel während der darauffolgenden Nacht in Agonie. Man gab ihm Chininspritzen, aber sein Herz hielt nicht stand. Tobby, Kade und ich hatten ihn noch besuchen wollen, man liess uns lange im Wartezimmer des Militärspitals warten. Eine halbe Nacht lang wussten die Ärzte nicht, ob der Dreiundzwanzigjährige noch in der Agonie lag, oder schon gestorben war. 47

 


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