Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Ein Auswanderer

Das erste, was er uns begreiflich machen konnte, war, dass er ein Hebräer sei, und dass er nach Palästina wolle. Er stand, kurz nachdem die Abfertigung an der türkisch-syrischen Grenze vorbei war, in der Tür unseres Abteils und sprach hastig auf uns ein. Wir schüttelten die Köpfe. »Rusk?« fragte er, und, sich besinnend: »Hebreux? Espagnol?«

Mit Hilfe von französischen und italienischen Brocken kam eine Art von Verständigung zustande.

Wir waren gerade beim Essen. Wir hatten Servietten ausgebreitet und darauf Butter, Schafkäse und Creamcrackers. Wir boten ihm davon an, aber er dankte und nahm nur eine von Kades Zigaretten und begann gleich, in tiefen Zügen zu rauchen. Er schien sehr aufgeregt und nahm sich sehr zusammen.

Er konnte höchstens sechzehn Jahre alt sein. Er trug einen neuen Sportanzug mit Knickerbockers und starke, genagelte Stiefel. Während er mit uns sprach, hielt er die Mütze in den Händen. Sein Gesicht war dunkel und sehr breit, eine breite Strähne seines groben, schwarzen Haares bedeckte die Stirn. Er hatte grosse, dunkle, hübsche Augen, die lebhaft glänzten.

24 Er besass eine Fahrkarte dritter Klasse und fürchtete offenbar, dass der Schaffner kommen und ihn wegschicken würde. Als Kade die Tür geschlossen hatte und den Riegel vorschob, atmete er sichtlich auf und setzte sich neben uns. Er griff in die Tasche und zog seinen Pass heraus. Dabei wiederholte er immer: »Nach Palästina.«

Als Kade und ich ihm den Pass abnahmen und ihn zusammen ansahen, verstummte der Junge und gab sich Mühe, unser Gespräch zu verstehen.

Es war ein rumänischer Pass, an einem Ort ausgestellt, den wir nicht kannten. Er enthielt ein Transitvisum durch die Türkei und ein anderes durch Syrien.

»Wohin wollen Sie reisen?« fragten wir den Jungen.

»Nach Palästina.«

»Dann müssen Sie in Syrien aussteigen?«

»Ich will in Aleppo aussteigen. Man hat mir kein Visum für Palästina gegeben, aber ich werde eines bekommen. Ich werde sicher nach Palästina hinein können, wenn ich nur in Syrien aussteigen darf.«

Wir zeigten ihm sein syrisches Visum. Ein grosser, blauer Stempel »Transit« ging quer über die Seite. Darunter war von Hand hinzugefügt: »Berechtigt nicht zum Aussteigen innerhalb Syriens.« Er sah es und nickte.

»Sie müssen direkt nach Mossul weiterfahren«, sagten wir ihm.

Er sah langsam von einem zum anderen.

25 »Aber ich muss nach Palästina«, sagte er.

»Wie sind Sie denn zu dem Visum gekommen?«

Er stotterte. Er erzählte schnell und wiederholte sich mehrmals. Es war schwer, ihm zu folgen. Manchmal sagte er das gleiche Wort in verschiedenen Sprachen.

Er hatte fünf Geschwister. Er war der älteste und wollte aus Rumänien fort, weil sie arm waren. Er wollte als Arbeiter nach Palästina. Ein Freund hatte ihm geraten anzugeben, dass er nach Persien wolle, auf diese Weise würde er ohne Schwierigkeit die Transitvisen durch die Türkei, durch Syrien und Irak bekommen.

»Was haben Sie sich dabei gedacht?« fragten wir ihn.

»Ich konnte kein Visum bekommen«, sagte er. »Man muss Geld haben, oder man muss zu Verwandten reisen, die in Palästina leben. Deshalb bekam ich das Visum nicht.«

»Warum haben Sie dann nicht ein Visum für Syrien verlangt?«

»Für Syrien?«

»Damit Sie hier aussteigen dürfen.«

Er sah uns an. Er schüttelte langsam den Kopf. »Man hat es mir nicht geben wollen«, sagte er.

Es wurde heftig an unsere Tür gepocht. Kade sprang auf, um zu öffnen. Mit einem Ausdruck gelähmter Furcht folgte der Junge Kades Bewegungen.

»Man tut Ihnen nichts«, sagte ich.

26 Der Schaffner kam herein, um die Karten zu kontrollieren. Als er den Judenjungen sah, sagte er uns auf französisch, dass dieser »gamin« an der nächsten Station aus dem Zuge gewiesen und durch die Gendarmerie in die Türkei zurückbefördert werde.

»Er hat doch nichts getan«, sagte Kade.

»Wir kennen uns aus«, sagte der Beamte. »Jeden Tag haben wir solche Fälle. Er ist Jude, er will nach Palästina.«

Der Junge sah stumm und gespannt von einem zum anderen. Er verstand nicht. Man konnte sehen, wie er hoffte, dass es für ihn besser stehe.

»Wenn er nicht zurück will«, sagte der Beamte, »dann muss er eben transit nach Persien.«

»Er hat nicht einmal das irakische Durchgangsvisum.«

»Er bekommt es ohne weiteres. Die sind ebenso froh wie wir und wie die Türken, wenn sie das Gesindel nach Persien weitergeben können.«

Kade sah mich ratlos an. Der Junge hielt den Blick stumm auf uns gerichtet.

»Lassen Sie ihn in Aleppo aussteigen«, sagte ich.

»Kommt nicht in Frage.«

»Lassen Sie ihm die Chance! Er wird zum rumänischen Konsul gehen und das Geld bekommen, um nach Hause zu fahren.«

»Ich habe die Erlaubnis nicht«, sagte der Beamte.

»Gut. Wir werden es ihm sagen.«

27 Er ging. Der Junge senkte den Blick.

»Hören Sie«, sagte ich zu ihm, »man lässt Sie nicht aussteigen, oder Sie werden von der Polizei zurückbefördert. Bis Istanbul.«

Er fuhr entsetzt auf.

»Bitte nicht«, sagte er mit vor Angst rauher Stimme. »Auf keinen Fall zurück. Helfen Sie mir, damit ich in Aleppo aussteigen kann. Ich werde in einen Hafen gehen, auf ein Schiff. Irgend etwas –« Er verwirrte sich und sprach rumänisch weiter, ohne dass wir ihn verstehen konnten. Dann verstummte er plötzlich.

»Es geht nicht«, sagten wir.

Der Schaffner kam mit einem Offizier zurück. Sie verlangten den Pass des Jungen. »Hebreux«, sagte der Offizier.

»Es handelt sich um einen Irrtum«, begannen wir zu erklären. »Er hat die Transitvisen nach Persien, aber er will gar nicht nach Persien.«

»Das wird ihm wenig helfen«, sagte der Offizier. »Übrigens, warum verwenden Sie sich für ihn? Diese jüdischen Burschen sind alle Gauner. Wir haben genug Scherereien damit.«

»Sie wissen doch, dass er gar nicht nach Persien hineinkommt«, sagte ich. »Man muss Geld vorweisen, um einreisen zu dürfen. Und er hat nur zehn Pfund.«

»Das geht uns nichts an.«

»Er bekommt ein Transitvisum durch Irak und darf nicht aussteigen – und in Persien lässt man ihn 28 nicht herein, weil er kein Geld hat«, sagte ich.

Der Offizier blieb gleichmütig. »Dann werden ihn die Perser eben zurückbefördern«, sagte er.

»Aber das ist doch Wahnsinn!«

Kade fasste meinen Arm. »Lass doch«, sagte er, »es wird nichts dabei herauskommen.«

»Los«, sagte der Offizier abschliessend. »Der Bursche muss in sein Abteil zurück.«

Der Junge sass immer noch da, die Hände auf den Knien.

»Es geht nicht«, sagten wir zu ihm.

»Was wird man mit mir tun?« fragte er, ganz reglos.

»Man wird Sie zwingen, bis an die persische Grenze zu fahren, so wie es auf Ihrem Pass lautet.«

»Persien«, sagte er, »es ist sehr weit ...«

Er wollte ja gar nicht nach Persien. Es war eine Notlüge gewesen.

»Und von dort schickt man Sie vielleicht wieder zurück«, fügten wir hinzu. Wir wussten ihm auch keinen Rat. Wir gaben ihm Zigaretten und ein wenig Geld. Als wir ihm seinen Pass geben wollten, nahm ihn der Offizier uns ab. Der Junge erhob sich und nahm die Mütze, die er neben sich auf die Bank gelegt hatte. Er sah uns noch einmal mit seinem forschenden Blick an, ohne zu grüssen, und folgte den beiden Männern auf den Gang hinaus.

 

Es war dunkel, als wir auf der Station ankamen, wo die Züge nach Bagdad und Aleppo sich teilen.

29 Kade und ich stiegen aus.

»Wir wollen uns nach dem Hebreux umschauen«, sagten wir.

Wir gingen den Bahnsteig entlang zwischen den beiden Zügen. Wir sahen die Reisenden aussteigen und die Hamals mit Gepäckstücken hin- und herlaufen. Dann sahen wir, wie der Hebreux von einem Beamten über den Bahnsteig geführt wurde wie ein Gefangener. Der Junge hatte die Mütze auf dem Kopf und ein Paket unter dem Arm. Der Beamte liess ihn in einen der alten Wagen dritter Klasse einsteigen, die die Aufschrift »Baghdat« trugen, und schloss die Tür hinter ihm. Dann ging er nach vorne, zum Schlafwagen, der mit Offizieren besetzt war. Ein junger Offizier lehnte zum offenen Fenster hinaus. Der Beamte salutierte und reichte ihm den rumänischen Pass des Jungen hinauf.

»Er muss transit nach Persien«, rief er.

Der Offizier nickte mit lachendem Gesicht und steckte den Pass ein.

Die Wagen dritter Klasse waren nicht erleuchtet.

Wir suchten die dunkle Fensterreihe ab, ohne den Jungen zu sehen. 30

 


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