Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Vans Verlobung

An unserem Garten führte die Karawanenstrasse vorbei. Sie überschritt die Furt unten beim Tor und folgte dann dem kleinen Fluss und unserer langen, gelben Gartenmauer aus Lehm und gehacktem Stroh. Während der warmen Jahreszeit und bis tief in den Herbst hinein waren die Karawanen des Nachts unterwegs. Sie brachen aus den Khans von Teheran auf, wenn es dunkel wurde, und eine Stunde später langten sie bei der Furt an und wandten sich dann südwärts, auf Veramin zu. Man hörte ihre Glocken von weither, es gab helle darunter, die nicht viel Eindruck machten: das waren die kleinen – und es gab dunkle, dröhnende, die anders klangen als alle anderen Glocken auf der Welt: das waren die grossen, die an den Satteltaschen der Kamele, an ihren Flanken hingen und schwer hin- und herschlugen. Man hörte sie die ganze Nacht.

Ich schlief im kleinen Haus des Direktors. Es lag am Ende des Gartens, und seine Aussenmauer war in die Gartenmauer hineingebaut. Man hörte die Glocken und das unzufriedene Schreien der Kamele, und die heiseren Rufe der Treiber, die die Tiere in das Wasser trieben. Man hörte auch das gelbe Flusswasser vorbeifliessen, und von drüben, vom 142 Tschaikhane am anderen Ufer, vernahm man manchmal Gesang. Die Perser sassen dort auf Teppichen, im Kreis um eine Laterne, die von einem grossen, weitverzweigten, fächerförmigen Baum herabhing. Sie hatten vor sich stehen ein Kohlenbecken, einen grossen Samowar und grüne Schalen voll saurer Milch. Sie rauchten Tabak aus langen Holzpfeifen und zähes Opium, welches sie mit kleinen glühenden Kohlestücken erwärmten und an geschlossene Pfeifenköpfe aus blauweissem Porzellan klebten. Durch eine winzige Öffnung des Pfeifenkopfs sogen sie den süsslichen Opiumrauch. Dies alles konnte man beobachten, wenn man auf dem Dach des Hauses lag, auf dem flachen gestampften Lehm, der nun, wie ein Kachelofen, die während des Tages angesammelte Wärme angenehm zurückgab. Man sah die Perser im rötlichen Schein der Laterne auf ihren Teppichen sitzen, und sah sie den Rauch aus ihren Pfeifen ziehen und langsam ausstossen. Der Samowar blitzte, und oben war das Geäst des Baumes dunkel wie ein Zeltdach unter dem hellgelben Himmel. Der Himmel schien niemals erlöschen zu wollen. Von der Stadt her kamen die Karawanen, in weisse Staubwolken gehüllt, und ihre Glocken dröhnten.

War man erst vom Dach in den Garten herabgestiegen, so sah man nichts mehr. Die Mauer war einerseits zu hoch, doch hätten andererseits auch die Granatapfelbäume jede Aussicht unmöglich gemacht. Sie füllten den Garten wie ein Wald; man 143 ging durch eine lange, schattige Allee zwischen ihren ordentlichen Reihen zu beiden Seiten bis zum Expeditionshaus hinunter. Dort wohnten die Assistenten: George Gordon und Van, der Architekt, und der Russe mit seinen photographischen Apparaten. Dort lag auch das Museum mit seinen Zeichentischen, den Schreibmaschinen, dem Mikroskop und den langen Brettergestellen, auf denen man die Fundgegenstände, nach Nummern geordnet, aufbaute. Von diesen Gestellen hatte der Raum seinen Namen »Museum« bezogen, obwohl er ein gewöhnlicher, nüchterner Arbeitsraum war.

Van, mehr als die anderen dort beschäftigt, hatte seinen Zeichentisch neben der Tür, unter dem grossen Fenster. Manchmal blieb er den ganzen Tag im Museum, über einen seiner Pläne gebeugt. Er sang während der Arbeit, er heulte vielmehr, plötzlich tief Atem holend, mit unmenschlich lauter Stimme. Ich glaube, es waren Negerlieder. Er verstummte ebenso plötzlich wieder. Es kam vor, dass er sich selbst hörte, dann drehte er sich erschrocken um und sagte: »Entschuldigt bitte«, aber meistens hörte er sich nicht und setzte nach einem solchen Ausbruch ein gemässigtes Summen und Pfeifen fort, bis es ihn wieder packte.

Er stammte aus Arkansas. New York war für ihn eine Legende, Arkansas war die Wirklichkeit, war Amerika, war Jugend und Heimweh-Land. Van redete von den Negern wie von einer anderen Spezies Mensch, was ihn nicht hinderte, sie 144 einzubeziehen in »Arkansas«, ja sogar für sie zu schwärmen. Die Neger zu lieben war eine Sucht wie Jazz und Whisky: fast schon ein Laster. Vans Eltern waren keine Katholiken, sie waren etwas Strenges, Puritanisches – Presbyterianer oder Methodisten. Van war ihr wohlgeratener und dankbarer Sohn. Ich denke mir, dass es in Arkansas viele solche Söhne geben muss, und auch Töchter. Sie sind fromm, dankbar, anhänglich. Sie werden eines Tages ihre Kinder so erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, und sie halten es für richtig. Sie verachten den Nigger und glauben an viele Tugenden. Sie glauben an die Notwendigkeit dieser Tugenden.

Aber dieser Nigger, dieser Zeitungsjunge auf der Strasse, der sie, wenn sie von der Schule nach Hause gingen, unwiderstehlich anzog, dessen sanfte Wildheit sie entzückte und mit dem sie Freundschaft schlossen, um von ihm in geheimnisvolle Lebensbezirke eingeführt zu werden: Drugstores mit schlechtem Whisky, Gratisfahren im Omnibus, die Niggerstadt unten am Fluss – dieser Negerjunge war nachher da und spielte Mandoline, hackte auf eine Reihe von Gläsern, blies in Trichter, schlug sich auf den Mund, geigte hinreissend auf schwingenden Sägen, spielte Klavier, indem er mit seinen langen, hellen Fingerspitzen weich die Tasten berührte – und sang. Er tanzte, den Oberkörper nach hinten gebeugt, den Kopf mit blassroten Lippen und verzückten Augen zurückgeworfen – und er sang. Er war Schauspieler und redete und 145 sang, und er war ein junger Boxer, der zwischen den Seilen hing, und er war Student und trug einen hellen Filzhut – und da sang er wieder, zärtlich-schmerzvoll.

Van war mit Negern befreundet. Er war erwachsen, seine Eltern gaben ihm Taschengeld und waren der Meinung, man müsse den jungen Leuten ein bisschen Freiheit gönnen. Und die jungen Leute zerschlugen das Mobiliar der Tanzlokale von Arkansas und liessen sich in den Strassen von der Polizei festnehmen – hingerissen von einer Kreolenbande, einem Niggersänger und dem jungen Boxer, den ein weisser Gegner, ein tierischer Hüne, unter dem tierischen Beifall der Zuschauer knockout geschlagen und zwischen die Seile geworfen hatte. Während der Nigger angezählt wurde, stand sein Manager neben ihm und neigte sich beschwörend über sein ohnmächtiges Gesicht. Dann hob er ihn sorgfältig auf ...

Van war kein Trinker. Sein schwacher Magen hinderte ihn daran. Aber wenn er von Arkansas erzählte, schien es uns, als habe er sich dort in ständiger Trunkenheit befunden. Man sah ihn, blass, mit geröteten Augen und klebrig wirrem Haar, im Fordwagen auf der Landstrasse, lange, weisse, gerade Landstrasse von dreissig, vierzig, sechzig Meilen Länge, Landstrasse, die sinnlos gerade die Landschaft durchschnitt, ohne Rücksicht auf Hügel und Tal, Dörfer vergessend und einsame Gehöfte beiseite lassend – Gespensterlandstrasse des 146 geschichtslosen Landes, blind, eilend, von einem Punkt zu einem anderen, und blind, eilend, sie entlangstürmend Van, dem die Nachtluft die Stirn kühlt.

Er war verlobt mit einem Mädchen in der Stadt Helena, aber als er eines Nachts von dort zurückfuhr, packte es ihn: nicht mehr anzuhalten, ihren Namen zu vergessen, seinen Namen dem Nachtwind preiszugeben, sich selbst den Stürmen, seine Brust den Stürmen – und in einem Augenblick fühlte er die Nichtigkeit von allem, was er getan hatte, von allen Zukunfts-Plänen, die sich rechtfertigen liessen bei nüchternem Verstand. Aber was galt ihm der nüchterne Verstand jetzt?

Van kam nach Persien. Er wurde der Architekt unserer Expedition. Er vergass die Villen, die er für die reichen und frommen Leute von Arkansas hätte bauen sollen, und die Fabriken, Hochhäuser, Riesenhotels. Er lernte etwas über Moscheen, Bäder und islamische Wohnhäuser, über Mongolentürme und Zitadellen. Der trockene Hochebenen-Wind dörrte seine Haut, und der gelbe Staub der Ruinenhügel entzündete seine schwachen Augen. Er stand um vier Uhr auf, fuhr den Lastwagen, machte täglich die gleichen Niveaumessungen. Er ass wenig, weil er das Essen nicht vertrug, und er brachte jeden Freitagabend eine Batterie Wodkaflaschen aus der Stadt. Er war ein angenehmes Mitglied des Expeditionsstabs, und wir mochten ihn alle gern.

147 Er hatte uns ebenfalls gern. Aber das war auch alles: Persien lag ihm nicht besonders, und die Arbeit auch nicht, die er zu tun hatte. Er hasste es, um vier Uhr geweckt zu werden, und sagte, er wisse selber am besten, wie er seine Sachen einteilen und damit fertig werden müsse. Natürlich half es ihm nichts, er wurde doch geweckt und musste sich an die Tageseinteilung halten. Er gab es bald auf, sich dagegen zu wehren.

(...)

Ich stelle mir vor, dass Van keine Ausnahme gemacht hat. Er war ganz der Typ des »Passionné«, des leidenschaftlichen Liebhabers, der auf etwas hofft und sich über seine Schwäche hinweghilft, über die Enttäuschung, die Wirklichkeit. Aber Van kannte keine Wirklichkeit von Persien. Er hielt sich an etwas anderes, an ein Traum-Persien, von dem er die Farben sah, die gewaltigen Gebirgsfalten, die leeren Flussbetten, die dünne, verwirrende Hochebenen-Luft. Und das Traum-Persien zehrte ihn langsam aus. Er war zuletzt wie ein Fieberkranker.

»Weisst du irgend etwas über Persien?« fragte er mich einmal.

Es war draussen auf der Grabung, wir sassen im Schatten des Zeltes und hatten das Land bis zum Demawend und darüber hinweg vor uns ausgebreitet.

»Ich bin ziemlich viel herumgereist«, antwortete ich.

148 »Das meine ich nicht«, sagte Van. »Ich meine, ob du etwas darüber aussagen könntest.«

»Man kann schon. Es ist Leuten, die es nicht gesehen haben, nicht leicht begreiflich zu machen. Aber man kann es.«

»Du willst sagen: wie jedes Land. Man kann es beschreiben?«

»Es hat einen Charakter, einen grossartigen und öden, den man deutlich machen kann.«

Van dachte nach.

»Persien ist aber doch für jeden etwas anderes. Es bedeutet jedem etwas.« Er suchte immer lange nach Worten.

»Magst du es?« fragte ich.

Das Land zwischen der Stadt und dem Bereich unserer Ruinen war totes Land. Es war gelb von Staub, nichts konnte gedeihen ausser einem kurzen, dürren Steppengras. Die Karawanen-Kamele, wenn man ihnen die Lasten abgenommen hatte, weideten dort. Sonst gab es nur Friedhöfe und die rauchenden Türme von Ziegelbrennereien. Über der Stadt und über den kahlen, scharfkantigen, leuchtenden Höhenzügen schien noch die Sonne. Sie hatte die warme Farbe des Abends.

»Es ist schön«, sagte Van. »Natürlich ist es sehr, sehr schön ...«

»Aber?«

»Ich weiss nicht ...«

»Ich weiss, was du meinst.«

Der Vorarbeiter Baba kam aus der Grabung 149 herauf. »Es ist sechs Uhr«, sagte er, »man sollte läuten.« Van nickte. Baba läutete die Glocke, die im Zeltgiebel hing. Sofort tauchten auf den Grabungsstellen die Köpfe der Arbeiter auf, sie hatten es eilig wegzukommen. Sie verteilten sich auf dem Feld, die kleinen, künstlichen Wasseradern entlang, einige beteten, andere fingen an, sich zu waschen.

»Gehen wir essen«, sagte Van. Wir packten die Instrumente, die Fundlisten und Pläne zusammen. Van rief einen Jungen, der die Sachen hinter uns her bis zum Lastwagen trug und dann mit einem anderen Jungen zurückging, der den Wagen den Nachmittag über bewacht hatte. Wir fuhren auf der staubigen Landstrasse, an den Kamelen und Eselherden und schläfrigen Treibern vorbei, durch das Dorf, bogen an der Kreuzung nach rechts ab und fuhren durch das Tor aus alten Benzinkannen in unseren Hof.

Es läutete gerade zum Nachtessen.

 

Van bekam eines Nachts das Sandfliegen-Fieber. Es war anders als Malaria und dauerte nur ein paar Tage, aber nachher behielt man eine unangenehme Schwäche zurück wie nach einer schweren Krankheit. Van war der einzige von uns, der das Fieber bekam. Er wehrte sich den ganzen folgenden Tag dagegen, aber dann, gegen Abend, packte es ihn mit Schüttelfrost und fliegender Hitze, und er ging in sein Zimmer hinüber und kam nicht zum Essen.

Das Fieber stieg in der Nacht bis 40 Grad, sank 150 am Tag auf 38 und dauerte im ganzen fünf Tage. Van ass während dieser Zeit nichts, seine Nase wurde spitz und die Haut über seinen mageren Backen dünn und gespannt. Er bekam einen harten Bart, der grau aussah. Am Abend, bevor das Fieber anfing zu steigen, fühlte er sich besser und wollte aufstehen. Es war die Zeit, um die ich ihn zu besuchen pflegte. Er lag zugedeckt auf seinem Feldbett, die Lampe beschien sein mageres Gesicht, er sah abgespannt und friedlich aus. »Ich könnte ein bisschen aufstehen«, sagte er. »Ich könnte leicht aufstehen und ein bisschen im Garten umhergehen.«

Er wusste natürlich, dass wir es ihm nicht erlauben würden.

»Wieviel Fieber hast du?« fragte ich.

»Achtunddreissig«, sagte er. »Das ist gar nichts, beim Militär würde man mich für einen Simulanten halten.«

»Warte bis morgen.«

»Ich sollte lieber aufstehen und mir ein bisschen Bewegung machen.«

Er lag ganz ruhig, und man konnte auf seinem Gesicht beobachten, wie das Fieber zurückkam.

»Fühlst du dich wirklich besser?« fragte ich.

»Ausgezeichnet«, sagte er. Seine Stimme sank zusammen, weil das Fieber wieder anfing. Sie wurde matt, und die Lippen wurden trocken und schmal.

»Ich werde dir Tee holen«, sagte ich. Ich nahm Vans Taschenlampe und ging über den Hof zur 151 Küche. Der Diener Hassan sass auf der Schwelle im Dunkeln. Er wollte aufstehen, als ich kam, und griff nach seinen Ghives. Seine Füsse waren geschwollen – während der letzten Tage, die sehr heiss gewesen waren, hatten sich offene Wunden gebildet. Er konnte beinahe nicht mehr gehen, und jetzt, nachdem das Nachtessen vorbei war, hatte er seine Schuhe ausgezogen, um die Füsse abzukühlen.

»Bleib sitzen!« sagte ich. Ich fand den Samowar, füllte eine Teekanne mit heissem Wasser und ging damit über den Hof zurück.

Als ich in Vans Zimmer kam, sass er aufrecht, auf die Hände gestützt, in seinem Bett. »Sieh dir das einmal an«, sagte er und machte mit dem Kopf ein Zeichen zur Lampe hinüber. Wir hatten einen weissen Schirm über die Lampe gestülpt, um Vans Augen zu schonen. Jetzt war der ganze Schirm mit Nachtfaltern bedeckt. Es waren grosse, schwarze Nachtfalter, einige von ihnen schwirrten innen um das Lampenglas und machten einen Höllenlärm, aber die meisten hatten sich auf dem Schirm festgesetzt, sowohl innen wie aussen, und krochen langsam, doch mit ekelhaft eilfertigen Bewegungen über die durchsichtige, hellerleuchtete Fläche.

Van starrte mit schwarzen Fieberaugen auf die Lampe. »Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich halte das nicht mehr aus. Es ist zu scheusslich.«

Ich nahm die Lampe und stellte sie neben das Fenster auf den Fussboden. Das Licht würde alle 152 Falter, die im Zimmer waren, um sich versammeln und von Vans Bett wegziehen.

Er goss sich hastig Tee ein, langte dann nach einer Zigarette, zündete sie an, und legte sich auf sein Kissen zurück. »Es war scheusslich«, sagte er, »sie kamen aus allen Ecken und schossen in mein Gesicht und krochen meinen Armen entlang. Ich machte die Lampe aus, aber es wurde nur noch ärger. Sie schienen mein Gesicht gern zu haben.«

»Es war wegen der Zigarette«, sagte ich. »Als die Lampe aus war, sahen sie kein anderes Licht mehr und versuchten, in die Asche von deiner Zigarette hineinzufliegen.«

»Es sind lasterhafte Tiere«, sagte Van. »Sie haben das Licht-Laster, sie können sich absolut nicht beherrschen.«

Wir hörten die Falter durch das Zimmer schnurren und sich in den Lichtkreis der Lampe stürzen. Sie prallten gegen den Schirm und schwirrten zwischen Schirm und Lampenglas herum. Es waren sicher fünfzig Falter, und es knisterte und schnurrte und flatterte wie ein Holzfeuer, und dann wieder, wie wenn Wind an nasser Wäsche zerrt. Manchmal fiel ein Falter, von der heissen Luft angezogen, in die Röhre und verbrannte: das verursachte jedes Mal einen prasselnden Aufruhr.

»Opfer ihrer unglücklichen Neigungen«, sagte Van. Er rauchte, den Kopf zurückgelegt, seine Hand zitterte dabei. Es sah aus, als habe er nicht mehr die Kraft, die Zigarette zwischen den Fingern 153 zu halten. »Jede Nacht ist es so«, sagte er, »wenn ich die Lampe ausmache, stürzen sie sich auf mein Gesicht. Nicht dass ich Angst vor ihnen hätte – aber sie sind so ekelhaft. Wenn ich den Kopf drehe, zerdrücke ich sie auf dem Kissen. Und sie kriechen meinen Fingern und meinen Armen entlang.« Es schüttelte ihn plötzlich.

»Du solltest das Rauchen aufgeben«, schlug ich vor. »Wenigstens des Nachts.«

»Aber es wirkt auf mich wie ein Schlafmittel«, sagte er.

Ich sah, dass die Zigarette ihm aus den Fingern fiel, ohne dass er es bemerkte. Ich hob sie auf, und dann sah ich, dass das Leintuch an verschiedenen Stellen verbrannt war, und dass die Strohmatte auf dem Fussboden lauter braune Flecken hatte. Er würde eines Nachts das Haus anzünden ...

Ich stand auf, ging zum Fenster und blies die Lampe aus. Es war unangenehm, zu fühlen, wie die Tiere, durch die plötzliche Dunkelheit aufgestört, sich erhoben und den Bannkreis der Lampe verliessen. Ich öffnete das Fenster, die kühle Nachtluft strömte herein. Als ich mich mit der Taschenlampe in der Hand noch einmal über Van beugte, schien er zu schlafen, und ich ging leise aus dem Zimmer.

 

Als Van wieder gesund war, machte ihm noch lange Zeit eine Art von Schwäche zu schaffen. Er konnte die Hitze nicht ertragen und war am Abend bleich wie ein Leintuch. Er hätte nichts 154 trinken sollen, das wäre sicher am besten für ihn gewesen, aber es war unmöglich, ihn davon abzubringen. Er trank, im Gegenteil, mehr als früher. Man hätte es ihm ausreden sollen, aber es gab keine Argumente. »Ich werde nicht so bald wieder krank«, sagte er. »Und für später ist es mir gleichgültig.«

Natürlich liess sich nichts dagegen machen.

Einmal blieb er den ganzen Tag über fort. Der Direktor fragte beim Frühstück nach ihm. Wir sagten, dass er vielleicht draussen auf der Grabung sei. »Er hat doch heute vormittag keinen Dienst«, sagte der Direktor. Wir sagten nichts. Van kam auch nicht zum Mittagessen. Den ganzen Nachmittag wartete ich draussen auf ihn, ich konnte vom Zelt aus das Feld bis zur Landstrasse überblicken, aber er kam nicht. Gordon sagte, dass er nach dem Essen in die Stadt fahren wolle, um nach Van zu suchen. Aber dann kam er.

Wir hörten ein Auto vor dem Hoftor anhalten. Wir sassen noch um den Tisch herum, im Freien. Van kam über den Hof und durch die Küche, deren Türen offen standen. Er trug den Hut noch auf dem Kopf. Er ging auf seinen Platz zu, stützte die Hände auf die Stuhllehne und sagte: »Ich bitte um Entschuldigung. Und ich habe euch eine Neuigkeit mitzuteilen, ich bin verlobt!«

»Sind Sie dessen sicher, Van?« fragte der Direktor.

Van wurde rot. »Ich dachte mir schon, dass Sie 155 erstaunt sein würden«, sagte er.

»Wann ist es denn passiert?« fragte Gordon. Es war ein bisschen plötzlich gekommen, Van hätte besser getan, erst zu essen und bis morgen zu warten. Aber er tat einem leid.

»Gestern nacht«, sagte er, stotternd.

»Na, ich gratuliere also«, sagte der Direktor. Er erhob sich und verschwand im Dunkeln.

Hassan kam mit dem aufgewärmten Essen und stellte die Platte vor Van auf den Tisch. Er begann, hastig zu essen.

»Ist es wirklich dein Ernst?« fragte Gordon. Ich hatte den Eindruck, dass es Van ernst damit sei, wenigstens im Augenblick.

»Welche Nationalität?« fragte ich.

»Sie ist aus Kolumbien«, sagte Van.

»Warum nicht eine Perserin? Was macht ein Mädchen aus Kolumbien in Persien?«

»Sie hat Verwandte besucht. Sie wollte nach Hause reisen, aber ich stoppte sie. Ich hielt sie davon ab.«

»Sehr nützliche Tat«, sagte Gordon. »Du bist der reine Menschenfreund, Van!«

Van ass hastig. »Wir heiraten in vierzehn Tagen«, sagte er.

Gordon sah zu mir herüber.

»Schön und gut«, sagte ich. »Unsere herzlichsten Glückwünsche, Van. Aber du hättest uns vorher fragen können. Man fällt guten Freunden nicht so mit der Tür ins Haus ...«

156 Wir bekamen Vans Braut nie zu sehen. Er fuhr fast jeden Abend in die Stadt, und der Direktor erlaubte ihm, den Ford zu benützen. Er versuchte, sich die Papiere zu beschaffen, die für seine Verheiratung mit einem Mädchen aus Kolumbien notwendig waren. Sie war aus Kolumbien gekommen, aber sie war deutsche Staatsangehörige und hatte die letzten drei Jahre in Persien zugebracht. Das komplizierte natürlich die Dinge. Vierzehn Tage vergingen, ohne dass Van sich verheiraten konnte. Gordon und ich hofften, dass die Papiere nie eintreffen würden, und dass der persische Verwaltungsapparat so viele Schwierigkeiten wie gewöhnlich erfinden würde, um die Angelegenheit hinauszuzögern. Wir segneten die persischen Einrichtungen, die dazu gemacht sind, jede Aktivität zu verunmöglichen. Van fühlte, was wir über seine Verlobung dachten. Er sprach mit uns fast nie darüber. Er hielt uns von seiner Braut fern.

Nach etwa drei Wochen fragte er den Direktor, ob er drei Tage Urlaub bekommen könne, um nach Pehlevi zu fahren. Seine Braut reise nach Deutschland, und er wolle sie bis auf das Schiff bringen, das von Pehlevi nach Baku fährt. Der Direktor erlaubte es ihm.

»Dann ist sie wenigstens weg«, sagte er zu uns beim Nachtessen.

Gordon stimmte ihm zu. »Wenn sie erst einmal weg ist«, sagte er. »Van ist da so hineingerutscht. Wahrscheinlich weiss er, dass er eine Dummheit 157 gemacht hat, aber er kann es nicht zugeben. Wenn sie erst einmal weg ist, wird er sich besinnen.«

Ich war am nächsten Vormittag allein im Museum. Ich schrieb mit schwarzer Tusche Zahlen auf die Fundgegenstände und drückte die gleiche Zahl mit einem Stempel auf die ausgefüllten Katalogkarten. Ich nahm einen Gegenstand in die Hand und verglich ihn mit der Beschreibung auf der Karte, bevor ich die Nummer darauf schrieb. Es war eine langweilige Arbeit. Ich nahm den nächsten Gegenstand in die Hand, und Van kam durch die Tür herein und stellte sich neben mich, mit dem Rücken an den Zeichentisch gelehnt.

»Hallo, Van«, sagte ich. »Ich dachte, ihr rollt schon nach Pehlevi.«

»Wir fahren heute abend und die Nacht durch«, sagte er, »es ist weniger heiss.«

Er sah zu, wie ich die Nummer aufmalte.

»Ich wollte dir auf Wiedersehen sagen«, fing er an. »Ich bin nur hier herausgekommen, um dir auf Wiedersehen zu sagen.«

»Na«, sagte ich, »in drei Tagen –«

»Ich habe eine Dummheit gemacht.«

»Es wird schon wieder in Ordnung kommen.«

»Ich weiss nicht«, sagte Van. »Sie will absolut, dass ich sie heirate. Sie will nach Deutschland fahren und wieder zurückkommen, und ich soll inzwischen hier alles vorbereiten.«

»Habt ihr das zusammen so ausgemacht?«

»Ja«, sagte er, »wir haben ganz offen darüber 158 gesprochen. Aber ich möchte nicht, dass sie wieder zurückkommt.«

Ich legte die Feder weg und zündete mir eine Zigarette an.

»Es ist schade, dass du es dir nicht früher überlegt hast«, sagte ich.

»Ich möchte nicht unfair gegen sie sein«, sagte er. »Ich habe mich an jenem Abend schrecklich in sie verliebt!«

»Das ist doch wahrhaftig kein Grund, sie zu heiraten.«

»Sie wollte es so gern. Und nun möchte ich mich anständig gegen sie benehmen.«

»Glaubst du, dass du es irgendwie einrichten kannst?«

»Wenn sie erst einmal in Deutschland ist; aber dann sehe ich sie nicht mehr.«

»Sei froh, wenn du es irgendwie einrichten kannst«, sagte ich. »Ich an deiner Stelle wäre froh, dass sie wegfährt.«

Van stand auf. »Ich weiss schon«, sagte er, »aber ich liebe sie vielleicht. Es wäre schrecklich, wenn ich sie wirklich liebte. Es ist keine angenehme Situation.«

 

Es war an einem Mittwoch. Am Freitag, unserem Feiertag, konnte Van von Pehlevi zurück sein. Gordon und ich waren in der Stadt zum Abendessen eingeladen. Wir assen ziemlich spät, und gingen gegen elf Uhr noch ins »Astoria«, wo man 159 während der heissen Zeit im Freien sass. Man hatte rings um das Wasserbecken Teppiche ausgebreitet und Tische darauf gestellt, und die Kapelle spielte im Hintergrund des Gartens, in einer Laube aus hellgrünen Reben.

Wir blieben bis ein Uhr und waren von unserer Gesellschaft die ersten, die aufbrachen.

»Ich möchte wissen, ob dieser Van schon zu Hause ist«, sagte Gordon. »Es würde mich wundern –«

Wir fuhren durch die breite, lange Strasse, die vom grossen Platz in einem Bogen um den Bazar herum zum Kasvin-Tor führt. Am Rand der Strasse, neben dem Kanal mit seinem trüben, schmutzigen, langsam fliessenden Wasser, wuchsen kleine Bäume, die jetzt ganz mit Staub überzogen waren.

»Ich glaube, da ist er«, sagte ich.

An einem der Bäume lehnte ein Mann, einen europäischen Hut auf dem Kopf, und versuchte, durch die Finger zu pfeifen. Er lehnte mit einer Schulter am Baumstamm, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff den Mond an. Der Mond stand im ersten Viertel und war klein und unbedeutend.

»Ja, wahrhaftig, das ist Van«, sagte Gordon. Er fuhr an den Strassenrand und hielt.

Van schickte gerade einen langen, wohlgeratenen Pfiff zum Mondviertel empor. Wir riefen ihn an. Er löste sich vom Baum und kam langsam auf den Wagen zu. »Hallo, boys«, sagte er, ohne uns zu erkennen. Er war offenbar betrunken.

160 »Einer von uns ist aber eine Dame«, sagte Gordon.

»Noch besser«, sagte Van gutmütig. »Ich habe soeben meine Dame verabschiedet. Ich habe sie ins Kaspische Meer versenkt.« Er schwieg, neigte den Kopf zur Seite und sah wieder den kleinen Mond an.

Ich rief: »Van!« und er wandte sich um und nahm umständlich den Hut ab. »Van«, sagte ich, »fein, dass du wieder hier bist. Du brauchst dir wegen der Kaspisee keine Gedanken zu machen. Die Dame kommt sicher bis nach Deutschland.«

Gordon langte nach dem Wagenschlag. »Einsteigen!« sagte er.

Van gehorchte. Es fiel ihm schwer. »Hört«, begann er, »ich habe mich wie ein Schwein benommen. Ich habe sie einfach abgeschoben, über die Kaspisee.«

Gordon fuhr schon. Er sagte zu mir: »Ein Glück, dass wir ihn aufgelesen haben. Hoffentlich macht es dir nichts aus.«

»Nein«, sagte ich.

Als wir uns nach Van umwandten, lag er hinten im Polster und schlief. 161

 


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