Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Eine Bekanntmachung

»Die mir am 25.1.1932 in der russisch orthodoxen Kirche in Teheran angetraute Katharina Kraitner geborene Petronova ist am 4.1.1313 datum iran zum mohammedanischen Glauben übergetreten, und hiermit ist unsere Ehe nach Iranischem Gesetz automatisch geschieden, auch das österreichische Konsulat steht dieser Tatsache machtlos gegenüber. Ferner gebe ich bekannt dass durch eine Blutprobe festgestellt wurde, dass das, nach 7 Monaten und 20 Tagen in unserer Ehe zur Welt gekommene Kind nicht von mir stammt, und warne jeden ihr auf meinen Namen Kredit zu geben.

Rudolph Kraitner, Teheran.«            

Katharina Kraitner legte die Zeitung weg und sah zu ihrem Mann hinüber. Er sass in einem der hohen, unbequemen Sessel mit steiler Rückenlehne, die in Persien nach schlechten europäischen Vorbildern gemacht wurden.

»Hör mal«, sagte Katharina, »hast du das in die Zeitung gesetzt?«

»Allerdings«, sagte er, »wer denn wohl sonst?«

Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Richtig, wer denn sonst. Ich hätte mir gleich sagen können, 162 dass niemand ausser dir fähig ist, so etwas zu tun.«

»Was meinst du damit?« fragte er. »Meinst du damit, dass ich kein Recht hatte, diese Bekanntmachung in die Zeitung zu setzen? Meinst du etwa, dass ich dir irgendeine Rücksicht schuldig bin?«

»Ich meine nur, dass niemand ausser dir so etwas tun könnte.«

»Na«, sagte er, »ich bin dir ja Gott sei Dank keine Rechenschaft schuldig!«

Sie antwortete nicht. Sie nahm das Blatt noch einmal in die Hand und las die Bekanntmachung aufmerksam durch. »Warum hast du Namen Kredit kursiv drucken lassen?« fragte sie. Er sass mit steifem Nacken in seinem Stuhl und rauchte. Den Aschenbecher hatte er auf einen kleinen, hochbeinigen Ziertisch neben sich gestellt. »Habe ich jemals auf deinen Namen Schulden gemacht?« fuhr sie fort.

»Natürlich nicht«, sagte Kraitner. »Ich habe dir, denke ich, immer genug Geld gegeben. Aber damit ist es jetzt vorbei.«

Sie stand hastig auf und durchquerte das Zimmer. »Könntest du mir eine Zigarette geben?« fragte sie. Er griff in die Tasche und reichte ihr das Etui. Sie zündete sich eine Zigarette an, setzte ihre Wanderung durch das Zimmer fort.

»Bitte«, sagte er, »wenn es dir möglich ist, schnipp die Asche nicht auf meine Teppiche. Hier ist ein Aschenbecher.«

Sie ging zu ihrem Stuhl zurück und schlug mit 163 der flachen Hand auf das Zeitungsblatt. »Und dieses Deutsch!« sagte sie. »Was heisst denn, nachdem du von dem Kind und der Blutprobe sprichst, ›und warne jeden ihr Kredit zu geben‹?«

»Vielleicht regst du dich über etwas anderes auf«, sagte er. »Die Leute werden schon verstehen, wer und was gemeint ist!«

»Dass du dich nicht vor den Leuten schämst«, sagte Katharina.

»Ich?« fragte er. Dann beugte er sich ein wenig vor und sagte: »Ich habe mich genug deinetwegen geschämt, wahrhaftig genug! Als ich dich vor drei Jahren heiratete, haben mich meine Freunde vor dir gewarnt.«

»Deine Freunde!« sagte sie, »wer waren denn deine Freunde!«

»Unterbrich mich bitte nicht die ganze Zeit! Aber ich dachte damals, ich würde mit dir fertig werden. Ich glaubte an deine guten Seiten und glaubte, dass du dich schon darauf besinnen würdest, wenn du erst mit mir verheiratet sein und in eine anständige Umgebung kommen würdest.«

»Ja«, sagte sie, »du hast dir grosse Mühe gegeben, mich zu erziehen.«

»Du brauchst dich nicht darüber lustig zu machen«, sagte Kraitner.

»Aber nein«, sagte sie.

Er zerdrückte den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher und beugte sich noch weiter vor, wie um seine Frau im Auge zu behalten. »Ich hätte 164 wissen müssen, dass man keine Russin heiratet«, sagte er. Sie starrte ihn schweigend an. Er sah ihr schweigendes Gesicht, den grossen, leicht geschlossenen Mund, die breiten Backenknochen, auf denen sich alle Blässe zu sammeln schien, die weit auseinanderstrebenden Augen, die bäurische Stirn unter dem bäurisch glatten, flachsblonden Haar. Den Triumph über dieses schöne, allzu vertraute Gesicht auskostend, sagte er: »Ihr seid eben alle gleich. Emigranten oder Kommunisten, ich würde nicht die Hand umdrehen.« Sie sah ihn aus Augen an, die durch ihn hindurch gingen und vor denen er sich immer gefürchtet hatte. Sie konnte seinen Blick aushalten, und er war sicher, dass sie ebenso jeden Anblick der Welt aushalten könne. Es waren Schlafwandler-Augen.

»Warum haben wir eigentlich geheiratet?« fragte sie.

»Ich habe es dir soeben erklärt«, sagte er, »ich glaubte, ich würde dich auf den rechten Weg bringen können.«

»Ach«, sagte sie, »und ich dachte, du habest mich vielleicht geliebt!«

Ihre Augen wichen nicht von der Stelle. Er fühlte seine Position schwächer werden. Er hatte ihr furchtbare Dinge gesagt und hatte sich im Recht geglaubt, für einmal. Bisher war er immer der Schwache gewesen, weiss der Himmel weshalb. Er hatte seit seiner Verheiratung versucht, das richtige Verhältnis herzustellen und seine Frau so von ihm 165 abhängig zu machen, wie es sich gehörte: Er hatte sie immer wieder fühlen lassen, dass es sein Haus war, in dem sie lebten, und dass es sein Geld war, von dem sie sich und das Kind kleidete. Aber es war ihm nie gelungen, sie zu demütigen. Jetzt war der Augenblick dafür gekommen. Sie hatte alles getan, um sich ins blutige Unrecht zu setzen. Sie hatte ihn betrogen, schon vor der Ehe, und hatte die Lüge die ganze Zeit zwischen ihnen ertragen. Es war ungeheuerlich!

»Katharina«, sagte er, »bevor wir uns für immer trennen, wirst du vielleicht die Güte haben, mir den Namen zu sagen ...«

»Wirst du dann eine neue Bekanntmachung in die Zeitung setzen?« fragte Katharina. »Wirst du schreiben: Ich gebe Ihnen bekannt, dass ich durch diesen und diesen Mann ...«

»Hör schon auf«, sagte er.

»Sie wissen nun doch alle, dass das Kind nicht von dir ist!«

»Schweig!« schrie er, »wenn du nicht genug Taktgefühl hast, um dich zu schonen, so schweig wenigstens mir zuliebe!«

»Du warst ja auch so ungemein taktvoll.«

»Nachdem du mich durch deinen absurden Übertritt lächerlich gemacht hattest«, schrie er, »war es das einzige, was mir übrigblieb. Der einzige Weg aus dieser lächerlichen Situation war, dich zu verleugnen. Verstehst du das nicht?«

Sie hob langsam die Augen, sah ihn an, stand auf 166 und ging bis zur Tür, ohne aufzuhören, ihn anzusehen.

»Dann hat es sich ja gelohnt«, sagte sie. »Ich bin froh, dass du so aufrichtig bist, Rudolph.«

»Wieso hat es sich gelohnt?«

»Dich einmal die Wahrheit sagen zu hören«, sagte sie. »Nicht die korrekte Wahrheit, mit der operierst du ja immer –, sondern die nackte Wahrheit, die Wahrheit deines Inneren. Ich habe dich in Gefahr gebracht, lächerlich zu erscheinen – und du hast mich daraufhin verleugnet, um der Lächerlichkeit zu entgehen.«

»Wie sollte ich mich denn gegen dich wehren?« sagte er, leiser.

»Natürlich«, nickte sie, »aber jetzt hat es sich ja gelohnt. Jetzt hast du dich fein gegen mich gewehrt!«

Sie schloss die Tür hinter sich, und war fort. Rudolph hörte sie durch das anstossende Zimmer gehen, und dann in den Hof hinaus, wo sie nach dem Diener Hassan rief. Und obwohl er genau verfolgen konnte, was sie machte, und obwohl sie nur ein paar Schritte von ihm entfernt, im Innenhof seines Hauses, war, hatte er das Gefühl, dass sie weit fort sei. Er hatte dieses Gefühl immer, seitdem er sich entschlossen hatte, sie preiszugeben und sich an ihr zu rächen. Es war, als sei sie in Wirklichkeit nie bei ihm gewesen, sondern immer nur durch die Kraft seiner Einbildung. Jetzt zeigte es sich. Er hätte Katharina, um diesem Gefühl zu entgehen, die 167 ganze Zeit unter seinen Augen haben müssen, aber auch das war qualvoll. Sie hatte ihn oft gebeten, sie freizugeben, und dann hatte sie gedroht, dass sie eines Tages fortlaufen werde, aber er hatte keinen Grund gehabt, ihre Drohung ernst zu nehmen. Was wollte sie denn allein mit dem Kind, in einem Land wie Persien? Er erinnerte sich, dass sie früher, bevor er sie geheiratet hatte, Russisch- und Französisch-Stunden gab. Hatte sie davon etwa leben können? Nein, er hatte sie aus dem Elend gezogen. Er hatte ihr sein Haus, sein sicheres Einkommen, seine bescheidene, aber solide Position geboten. Als das Kind geboren wurde, nach sieben Monaten und zwanzig Tagen, war er ihrer sicher. Die Verachtung, die sie ihm zuweilen zeigte, hatte ihn kalt gelassen, so sicher war er seines Besitzes. Meistens war sie ruhig und freundlich gewesen, eine gute Hausfrau. Drohung, Verachtung, eine Art von blindem Hass und Zorn, die manchmal in ihr wach wurden, hatten ihn nicht gestört. Trotzdem, dachte er, ist sie immer die Stärkere gewesen. Ich habe sie nie demütigen können. Ich wollte es gern, aber es ist mir nicht gelungen. Drei Jahre sind wir verheiratet, und jetzt zeigt sie ihre wahre Natur. Sie versucht, schonungslos, mich in den Augen der Leute lächerlich zu machen. Mag sie doch gehen, je eher, desto lieber. Mag sie doch. – Aber warum hat sie unter allen Mitteln dieses absurdeste gewählt, diesen absurden Übertritt zum Islam? Katharina! Liebte sie also einen Perser? War sein Sohn 168 Rupert ein Perser? Als er die »Bekanntmachung« auf die Redaktion gebracht hatte, wollten sie sie nicht drucken. Er hatte ihnen gesagt, dass er dafür jeden Preis zahle, und dass er das Recht habe, bekannt zu geben, was ihm Spass mache. Und damit basta. »Aber weshalb wollen Sie den Leuten unbedingt erzählen, dass das Kind nicht von Ihnen ist?« Warum? Er wollte es so. Er wollte seine Frau preisgeben.

Er hörte sie in das Nebenzimmer zurückkommen, welches ihnen als Schlafzimmer diente. Sie sprach mit dem Diener. »Also pass auf das Kind auf«, sagte sie. »Pass auf, dass es nichts in den Mund steckt, und dass es nicht auf die Strasse hinausläuft. Ich komme in einer Stunde wieder.« Sie wollte ausgehen. Wohin? Wohin ging seine Frau ohne ihn, jetzt, heute, nachdem alles in der Zeitung gestanden hatte? Hatte sie jetzt noch den Mut, auf die Strasse zu gehen?

»Katharina!« rief er. Er hielt den Atem an. Einen Augenblick war es nebenan still, dann verliess Katharina das Zimmer. Er lauschte angestrengt. Sie ging. Sie war fort.

 

Katharina lief durch die enge, kleine Gasse, die ihr Haus mit der Lalezar verband. Sie lief zwischen den hohen, gelben Mauern hindurch, die noch jetzt, am Spätnachmittag, die Hitze der Junisonne ausströmten. Als sie die Lalezar erreicht hatte, blieb sie stehen und winkte eine Droschke heran. 169 Sie hatte ein Tuch um die Schultern gelegt und keinen Hut aufgesetzt. Sie war gross und hielt sich aufrecht, und die Leute starrten sie an. Mein Gott, dachte sie, ich laufe ohne Hut durch die Strassen, und ich bin Mohammedanerin! Auf einmal fühlte sie, wie lächerlich dies alles war. Sie war Mohammedanerin. Sie, Katharina Petronova, aus Kiew, der Stadt der vielen Klöster und der vielen Kirchen und der brausenden Glocken. Nein, die Glocken von Kiew waren tot, dachte sie, und sie brauchte sich deswegen nicht zu beunruhigen. Drei Jahre war sie verheiratet gewesen, zwölf Jahre in Persien. Als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, griff sie zu dem Ausweg, der sich ihr bot, und wurde Mohammedanerin. Das hörte sich sonderbar an. In Wirklichkeit hatte es ein paar Besuche bei einem Mullah gekostet, der im Bazarviertel wohnte, ein Greis im Turban, ein wohlmeinender Greis, der auf einem weissen Esel ritt. Es hatte eine kleine Zeremonie und etwas Geld gekostet. Nun war sie geschieden. Vor Gott und den Menschen? Als sie sich verheiratete, war es ähnlich gewesen: eine Zeremonie, und alles war vorüber. Rudolph Kraitner ihr Mann. Ein kleinlicher, pedantischer, eingebildeter, unsicherer Mann. Diese Annonce, dachte Katharina, ist es denn möglich, dass ein Mensch so etwas tut? Und was habe ich getan? Ihn betrogen? Ich bin ihm davongelaufen. Sie versuchte, während die Droschke die Lalezar hinauffuhr, sich klarzumachen, was dies alles bedeutete. 170 Heirat, Kirche, das Kind, ihr Verhältnis zu Rudolph, die dreijährige Gewohnheit, ihn neben sich zu sehen und mit ihm in demselben Zimmer zu schlafen. Die Bedeutung solcher Akte und Zeremonien, die einem einfachen Entschluss folgten und ihn unwiderruflich machten – was davon war Wirklichkeit? Lebte sie in der Wirklichkeit? Irgendwie, dachte Katharina, muss man den Kopf oben behalten, soviel ist doch gewiss. Die Droschke bog in die Stambuli ein. »Zur Garage Chevrolet«, rief sie dem Kutscher zu. Es war gut, ein Ziel zu haben.

Sie gab dem Kutscher zwei Kran und stieg aus. Im Hof fragte sie nach Iwan. Noch nicht da. Sie setzte sich in das »Wartezimmer«, auf die Frauenseite. Es war ein kleines Zimmer neben dem Eingang, für die Leute bestimmt, die Autoplätze nach Pehlevi, Isfahan oder Kermanschah gemietet hatten und nun auf die Abfahrt warteten. Katharina sass neben zwei persischen Frauen im Tschador, die unter dem schwarzen Tuch hinweg neugierig umhersahen. Sie unterhielten sich schnell, mit ihren hohen Stimmen, wie zwitschernde Vögel. Wenn doch Iwan zurückkäme!

Er kam um sieben Uhr und betrat das Wartezimmer, so wie er war: ganz verstaubt und voller Ölflecken. »Du bist es«, sagte er, »ich konnte mir gar nicht denken, was für eine Frau auf mich warten sollte!«

Katharina lächelte. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie.

171 »Nicht meine Schuld«, sagte Iwan. »Dein Mann macht ein Gesicht, wenn ich zu euch komme –«

»Ja«, sagte Katharina hastig, »er mag dich nicht. Er mag keine Russen.«

Die persischen Weiber sahen sie kichernd an. »Gehen wir weg«, sagte Iwan. »Die sind womöglich aus Rescht. Die verstehen sicher Russisch.«

»Gehst du nicht essen?« fragte sie.

Sie überquerten die Strasse und betraten eine Garküche, die sich im Erdgeschoss des Hotels »du Garage« befand. Katharina setzte sich Iwan gegenüber. Ein Mann in einer schmutzigen Schürze stellte eine Schüssel mit Reis und einen kleinen Teller mit Fleischstücken in einer gelben Sauce vor Iwan hin. »Und zu trinken«, sagte Iwan, »Raki oder Wodka, eine kleine Flasche, zwei Gläser.«

»Wir haben keinen Schnaps –«

»Dann lauf hinüber und hol welchen, in der russischen Handlung.«

Katharina fragte: »Wie geht es?«

»Wie es kann«, sagte Iwan, »nur zu müde –«

»Wann bist du weggefahren?«

»Vorgestern abend. Bis Kasvin. Drei Stunden Schlaf, dann durchgefahren bis Pehlevi. Wir waren um fünf Uhr in Pehlevi, es waren Leute da, die am Vormittag mit dem Dampfer von Baku gekommen waren. Natürlich wollten sie sofort losfahren, und wir fuhren wieder bis Kasvin. Dort schlief ich ein paar Stunden. Sie waren verdammt schlechter Laune deswegen, aber ich musste schlafen. Wir fuhren 172 nachmittags um drei wieder weg, hatten eine Panne, kamen soeben an.«

»Wie oft machst du das?«

»Zweimal die Woche. Auf jeden Dampfer.«

»Und verdienst gut?«

Er zuckte die Achseln. »Ich würde lieber einen Lastwagen fahren. Man ist dann freier –«

Er goss das Fleisch und die Sauce über den Reis und begann alles mit der Gabel zu mischen. Der Bursche kam mit einer Flasche Wodka zurück. »So ist's recht«, sagte Iwan, kauend. Und zu Katharina: »Du kannst doch noch trinken? Du kannst doch noch etwas vertragen?«

»Rudolph trinkt fast nie Alkohol«, sagte sie. Der Name ihres Mannes erinnerte sie plötzlich, weswegen sie hergekommen war. Es war schwer, jetzt daran zu denken.

»Du bist also drei Tage lang von Teheran weggewesen?« fragte sie.

»Ja«, sagte er, »was ist dabei?«

Immer, wenn sie mit Iwan zusammen war, fiel es ihr schwer, an etwas anderes zu denken. Es fiel ihr, beispielsweise, schwer, sich zu erinnern, dass sie mit einem Mann namens Rudolph Kraitner verheiratet war. Alles Fragwürdige und Ungewisse ihrer Existenz schien wie weggeblasen, wenn sie mit Iwan zusammen war, aber das Zusammensein mit ihm war einfache, fraglose Wirklichkeit.

»Dann hast du also drei Tage lang keine Zeitung gelesen?« fuhr sie fort.

173 »Natürlich nicht«, sagte er.

»Bitte«, sagte sie, »lies dies!« Sie zog aus ihrer Handtasche die »Bekanntmachung«, die sie aus der Zeitung geschnitten hatte. Er las, die Gabel in der Hand haltend.

»Hättest du damit nicht bis nach dem Essen warten können?« fragte er, »musstest du mir unbedingt das Essen verderben?«

»Iss nur«, sagte sie. »Wir können nachher darüber sprechen.«

Er schob den Teller weg. »Ich bin fertig«, sagte er. Der Bursche kam, nahm die beiden Teller und schenkte die Wodkagläser voll.

Iwan ergriff die Annonce und zerknüllte sie in der Hand. »Ist der Kerl verrückt geworden?« fragte er.

»Eigentlich war er immer so«, sagte Katharina.

»Und du?« fragte er, »was fällt denn dir ein? Warum bist du Mohammedanerin geworden? Wozu dieser ganze Skandal?«

»Es steht doch da«, sagte sie. »Wenn ich Mohammedanerin bin, ist meine Ehe automatisch geschieden.«

»So«, sagte er, »darum also dreht es sich? Konntest du das nicht auf andere Weise erreichen?«

»Sei doch nicht gleich wütend, es ging doch einfach nicht mehr!«

»Hast du ihn betrogen? Schliesslich, das mit dem Kind war doch vor der Heirat. Das war unsere ganz private Angelegenheit, nicht wahr? Das 174 konnte nicht plötzlich der Grund sein, nach drei Jahren ...«

»Betrogen?« fragte sie.

»Ich meine doch nur«, sagte Iwan, »irgend etwas muss doch der Grund sein!«

»Der Grund war«, sagte sie, »dass ich alles nicht mehr aushielt. Die Lüge mit dem Kind nicht, und dass er mich nicht liebte und wie ein Besitzstück behandelte, und dass ich ihn, weiss Gott, nicht liebte ...«

»War das nicht von Anfang an so?«

»Ja, von Anfang an.«

»Gab es denn keinen anderen Weg?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hielt den Blick über ihn hinweg auf die Wand gerichtet, oder auf ein Bild an der Wand.

»Du brauchst es nicht zu verstehen«, sagte sie. »Bitte, bitte, denk doch nicht, dass ich dir einen Vorwurf machen will, dass ich dazu hergekommen bin!«

Wie ich sie liebe, durchfuhr es ihn plötzlich, wie, in aller Welt, konnte ich vergessen, dass ich sie liebe!

Katharina, als wüsste sie seine Gedanken, sagte: »Es wäre ein furchtbarer Unsinn gewesen, wenn wir geheiratet hätten, damals. Das Kind war doch schon da! Man musste doch an das Kind denken!«

»Und jetzt?« fragte er.

»Und dann – du bist doch nicht fähig, zu heiraten. Ich weiss, dass du es nicht ausgehalten 175 hättest, Iwan!« Sie sprach ängstlich, wie um ihn zu überzeugen. »Du musst deine Freiheit haben, und ich ... ich musste irgendwie leben ...«

»Und jetzt?« fragte er.

Sie antwortete ihm nicht mehr. Er trank sein Glas aus.

»Und jetzt bist du also in Gottes Namen frei?« fragte er.

»Ja«, sagte sie, »ich und der Kleine. Ich werde wieder anfangen, Stunden zu geben. Die Hauptsache ist, dass ich wieder frei bin.«

»Die Hauptsache ist, dass ich dich wieder habe«, sagte er. »Du bist immer eine mutige Frau gewesen, Katharina. Bitte mach dir nichts daraus. Mach dir nichts aus dieser läppischen Bekanntmachung!«

»Natürlich nicht.«

»Er ist ein Rohling.«

»Das Schlimmste war, dass er nie etwas gemerkt hat«, sagte sie, das Haupt erhoben, »dass er nie gemerkt hat, dass ich einen anderen Mann liebte, und dass er eine Betrügerin neben sich hatte, und dass ich unglücklich war. Das war das Schlimmste –«

»Du bist keine Betrügerin«, sagte er. Er fühlte sich leicht betrunken und ungemein froh. »Hast du wirklich einen anderen Mann geliebt?« fragte er, sie anlächelnd. Sie wurde plötzlich rot.

»Du musst das verstehen«, sagte sie, und nun sah sie ihn an, und er fühlte sich plötzlich nüchtern, und ihre Blicke blieben aneinander hängen. »Ich verachtete ihn, weil er nichts merkte. Ich konnte einfach nicht anders.«

176 »Nein«, sagte er, »wir konnten einfach nicht anders. Und jetzt gehe ich, und sage ihm Bescheid, und bringe dir den Kleinen.« Er lächelte die ganze Zeit.

»Soll ich nicht lieber mitkommen?« fragte sie. Er erhob sich schnell, ihr Blick folgte ihm.

»Du hast doch keine Angst, hier allein zu warten?« sagte er, »ich werde schon mit ihm fertig. Und du brauchst dann erst gar nicht dorthin zurückzugehen.« 177

 


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