Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Verklärtes Europa

Coco kam eines Abends unerwartet an und brachte die beiden mit. Wir waren noch im Museum beschäftigt, als der Wagen in den Hof fuhr. Er warf seinen gelben Lichtkegel voraus, wir liefen, um die Gäste zu begrüssen. Es war vor Weihnachten, eine schlechte Zeit, der Regen hatte eingesetzt, die Grabung stand unter Wasser, so dass wir die Arbeiten eingestellt hatten. Wir sassen im Expeditionshaus, im Museum, am Kaminfeuer, in unseren Stuben, wo Ölöfen brannten. Wir hatten Zeit, an Weihnachten zu denken und Heimweh zu bekommen. Wir tranken viel in diesen Tagen und redeten zusammen, und jeder steckte den anderen mit seinem Heimweh an. Besuch war selten, deshalb freuten wir uns, als Coco mit dem italienischen Ehepaar kam. Sie waren auf der Entenjagd gewesen, unten am Orontes, und hatten sich den ganzen Tag im Regen und Nebel herumgetrieben. Sie waren zum ersten Mal im Orient und wollten nicht die üblichen Touristenwege machen. Durchnässt und müde sassen sie im Wohnzimmer und erzählten. Vor vierzehn Tagen waren sie noch in Europa gewesen. Vor vierzehn Tagen ... Uns kam es manchmal so vor, als seien wir unendlich weit und seit unendlich 32 langer Zeit von unserem heimatlichen Erdteil getrennt, ja, ohne darüber zu sprechen, fürchteten wir, nie mehr dorthin zurückkehren zu können. Diese beiden jungen Menschen aber ... sorglos sahen sie aus, für sie war alles nur ein Spiel, der syrische Winter und die Entenjagd, die steinerne Zitadelle auf dem Hügel von Aleppo, und nun unser Haus, ein amerikanisches Expeditionshaus, und wir selbst in unseren Lederwesten.

»Du lieber Gott«, sagten sie, »was für ein aufregendes Leben hier draussen!«

»Und Europa?« drängten wir.

»Wir haben uns so gelangweilt«, sagte der Junge. Er sah dabei seine Frau an. Sie war jung und hübsch, und in ihn verliebt. Ihre länglichen, ungewöhnlich sanften Augen glänzten, wenn sie seinen Blick auffing. Sie lachte.

»Europa«, sagte sie, »ein armes, müdes Land. Man spricht von der Arbeitslosigkeit, bei uns in Italien vom Faschismus. Man spricht nur von unangenehmen Dingen, sogar vom nächsten Weltkrieg, obwohl es doch gar keinen Zweck hat.«

Einen Augenblick wurde es still. Ich sah Kade an, und dann Rubinson, der mit gesenkter Stirn am Feuer sass. Tobby, an den Kamin gelehnt, unterbrach die Stille. »Das beste Land ist Amerika«, sagte er, »dort hat man auch allerhand Schwierigkeiten, aber man hat auch Mut.«

»Und Palästina? Und Russland?« Rubinson fragte dies, man wusste nicht genau, was er damit meinte.

33 »Wir Italiener«, sagte nachlässig der Junge, »wir werden jetzt auch zu mutigen Leuten erzogen. Bei uns wird man Soldat, jeder ist Soldat, der Duce befiehlt es.«

Seine Frau bat: »Neno, fang nicht wieder davon an. Fang nicht an, vom Heldentum zu sprechen. Ich finde es viel mutiger, hier draussen zu leben, wie diese Herren. Und viel aufregender!« Sie fügte es schnell hinzu, mit schmalen Augen.

Er nickte. »Wissen Sie«, sagte er, »mir war es einfach zuviel geworden. Es hing mir einfach zum Hals heraus, deshalb kamen wir hierher. Jetzt steht mein Wagen in der Garage in Mailand, ein Lancia, ein Prachtstück von einem Wagen.«

»Hier draussen hätten Sie ihn doch nicht brauchen können, Sie sollten sich einen Ford kaufen«, sagte Tobby.

»Aber das ist unpatriotisch!«

»Bitte«, sagte das Mädchen, »bitte Neno, fang nicht wieder davon an!«

»Interessieren Sie sich für Politik?« fragte Rubinson.

»Nein«, antwortete Neno, »aber man kann ja dort nicht in Frieden leben. Wir waren im Sommer in Salzburg, Bianca lief den ganzen Tag in Dirndlkleidern herum, es stand ihr ausgezeichnet – und auch sonst war es sehr hübsch, obwohl es mitten während der Vorstellung des ›Jedermann‹ zu regnen anfing. Es regnete in Strömen, die Amerikanerinnen liefen, um ihre teuren Abendkleider zu 34 retten. Ja, es war dort sehr lustig, aber die Leute konnten es nicht lassen, den ganzen Tag von der Judenfrage zu sprechen. Als ob die ganze Welt sich um die Juden drehte!«

Kade und ich sahen Rubinson an, er hatte die gescheite Stirn erhoben.

»Dann«, sagte Neno, »fuhren wir durch Süddeutschland, und mit den Nazis war es gar nicht so schlimm. Wenn man nicht wollte, brauchte man sie gar nicht zu bemerken. Und wenn man wollte, kam man gut mit ihnen aus. Im Winter waren wir im Palace in St. Moritz, aber sogar dort wurde von den Arbeitslosen gesprochen.«

Bianca beobachtete uns, einen nach dem anderen. »Dort waren wir bis vor vierzehn Tagen«, sagte sie entschuldigend, »es gab Sonne und Pulverschnee, und ich wäre gern noch länger geblieben. Aber Neno ...«

»Hier ist es richtig«, sagte Neno. Er sagte es zu Coco, dem Sohn des Hotelbesitzers von Aleppo. »Mir ist Ihr Hotel in Aleppo lieber als das Palace in St. Moritz«, sagte er.

Wir waren alle still.

William bot Bianca ein Glas an. »Können Sie Raki schon vertragen?« fragte er. »Es ist das erste, was man hierzulande lernen muss!«

»Bianca«, sagte der Junge, »versuch es doch einmal, versuch es mir zuliebe!« Er nahm ein Glas und trank es in einem Zug aus. »Es schmeckt wie Anis, wie Hustenmedizin, die man dir gab, als du noch ein Baby warst.«

35 Das Mädchen sah unschlüssig auf die milchige Flüssigkeit. »Ich habe Hustenmedizin nie gemocht«, sagte sie.

»Hast du eigentlich Europa gemocht«, fragte ihr Mann, »hast du Mailand gern gehabt, bist du zu Hause ein braves kleines Mädchen gewesen? Hast du nachher gern mit mir zusammengelebt?« Er lächelte sie an, warf sein dunkles Haar zurück.

Sie sagte: »Es gab so viele Dinge dort, die ich gern hatte. Ich war gar nicht glücklich – du weisst, Neno, dass ich nicht sehr glücklich war –, aber ich wusste wenigstens Bescheid. Hier weiss ich gar nichts.«

Neno lachte. Er sah uns an und schüttelte den hübschen Kopf. »Ich weiss auch nichts«, sagte er, »aber dort habe ich mich gelangweilt. Alles war so gut organisiert, obwohl die Pessimisten behaupten, es sei eine faule Ordnung. Ich habe dort nur halb gelebt.«

»Und hier«, fragte Rubinson, »hier meinen Sie ...?«

»Hier ist es grossartig«, erklärte Neno, »allein die Entenjagd an eurem Regen-Fluss mit dem klassischen Namen, wir haben sogar nasse Füsse bekommen. Es war ein richtiges Abenteuer!«

»Für uns ist das sehr unangenehm«, sagte William, »weil nämlich die ganze Ausgrabung unter Wasser steht.«

Wir dachten an Salzburg. Es gab dort Konzerte, Bruno Walter dirigierte, es gab eine anmutig milde 36 Sonne im Mirabellgarten, und die gebäumten Pferdeleiber der grossen, steinernen Brunnen. Früher waren Lieblinge und Reitknechte der Bischöfe dort in die Schwemme geritten, unter dem italienischen Himmel lagen kühle Gebirgsseen, Wind rauschte durch hochstehende Wiesen, und auf dem Schlossberg standen Knaben und riefen auf den Domplatz hinab: »Jedermann, Jedermann.« Dort unten sass der Tod an einer langen Tafel, und der schöne Jüngling neigte sich über das Mädchen, dessen dunkles Haar, mit Blumen bekränzt, sein weisses, inbrünstig blasses Gesicht umrahmte. Wir sahen glatte Autostrassen, die Nacht rief uns, eine festliche Nacht, und wir lauschten auf sie, verwundert, hingerissen.

»Es ist immer das gleiche«, sagte Neno, »die gleichen Hotels in St. Moritz und am Lido, es ist öde, langweilig, und nicht einmal ungefährlich. Die meisten Leute dort sind Pessimisten. Sie sagen, man weiss nicht, wie lange es noch dauert ...«

Wir überhörten den letzten Satz. Wir hörten, wie in Konzertsälen Instrumente gestimmt wurden. Eine Seilbahn führte uns, die wir unsere Skier festhielten, aus dunklem Tunnel ins Freie; zwischen gleissenden Schneefeldern, unter blauem Himmel schwebten wir aufwärts.

»Einmal möchte ich diesen Winter die Corviglia fahren!« sagte Kade.

»Ketzer«, rief William vom Tisch her, wo er die Rakigläser füllte.

37 Kade wiederholte: »Ein einziges Mal. Eine einzige, richtige Abfahrt ...«

»Natürlich!« Neno lachte plötzlich. »Wenn man hier im sicheren Orient sitzt, nimmt sich das alles wunderhübsch aus. Winterfreuden und Sommernachtsträume.«

Ich sah die süddeutsche Landschaft, Hügel, Kloster und See, im lauen Abend ausgebreitet, und wieder die Landstrasse, einen kleinen Platz in einer alten Stadt, ein buntes Gasthofsschild. Und steinerne Heilige an Brücken, grau über grauen Flüssen.

»Ihr seid ja weit genug vom Schuss«, sagte Neno.

Bianca sah ihn aus ihren sanften Augen bittend an.

»Weit genug«, sagte Rubinson, »um alles zu vergessen. Alles.« Seine Stirn rötete sich in plötzlichem Zorn. Nun sahen wir ihn alle an, wie Bianca den jungen Neno.

»Wir werden alle einmal zurückfahren«, sagte Kade mutig.

»Ohne mich.« Rubinson forderte uns heraus.

Was wollten wir? Lido und Palace, Strassen am Abend, die Seilbahn, die steil in den blauen Winterhimmel stieg? Sommernachtstraum und Heimweh? Oh Heimweh, oh Europa!

Rubinson wollte von anderen, härteren Dingen sprechen. William kam mit den Rakigläsern. »Wir wollen lieber trinken«, sagte er und gab Tobby ein Glas.

38 Die beiden Amerikaner tranken, im Nebenzimmer hörte man Achmed, der mit dem Taubstummen stritt. Achmed hatte nie begreifen können, dass ein Taubstummer nicht hört, wenn man mit ihm streitet.

»Was wollt ihr eigentlich«, sagte William, »wir stehen im Dienst eines amerikanischen Museums. Wir haben etwas Vernünftiges zu tun. Was würde aus den Archäologen ohne die reichen Witwen in den Vereinigten Staaten? Was würde aus euch?«

Aber wir wussten nicht, was aus uns werden würde, später, zu Hause. Wir wollten – Heckenrosen rankten sich um den gekrümmten Leib eines steinernen Märtyrers, irgendwo ... 39

 


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