Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Drei Tage Morgendämmerung

Die Ingenieure sassen alle um einen kleinen Tisch und verbrachten ihren letzten Urlaubsabend. Sie hatten Bärte und trugen enge Khakihosen und hohe, geschnürte Stiefel, und sie sahen ungewöhnlich und abenteuerlich aus. Alle anderen Gäste beobachteten sie, wie sie tranken und sich neuen Whisky bestellten und unzufrieden waren, weil es keinen Pernod gab, und wie sie dann ihren Whisky weitertranken, den die Armenierinnen selbst hinter der Bar hervorbrachten. Sie hofften, dass die Ingenieure sie einladen würden, und blieben länger als nötig neben ihrem Tisch stehen. Aber die Ingenieure waren ganz mit dem Trinken und mit ihren Diskussionen beschäftigt, und die Mädchen zogen sich verärgert wieder zurück und beobachteten hinter der Bar gelangweilt, wie sie tranken.

Rieti sass zwischen den Ingenieuren. Sie waren seine Landsleute, und er hatte drei Tage mit ihnen durchgehalten. Er hatte den Eindruck, als seien sie drei Tage lang in der Morgendämmerung vom »Pars« ins »Astoria« gegangen, verfolgt von fadem Whiskygeschmack. Sie hatten getrunken und bezahlt. Getrunken, bezahlt, aufgestanden, über die Strasse gegangen. Drei Tage Morgendämmerung. 126 Aber jetzt war es die letzte Urlaubsnacht. Alles hatte einmal ein Ende.

»Landsmann«, sagte der neben ihm, »also du wirst uns oben auf Firuskuh besuchen. Auf unserem Schloss zu Firuskuh.«

»Das ist ausgemacht«, sagte Rieti.

»Wir werden einen trinken«, sagte sein Nachbar. »Auf die Gesundheit des Duce, und auf die Gesundheit seiner Untertanen vom Firuskuh-Pass.«

»Es lebe der italienische Arbeiter von Firuskuh.«

»Von leben kann wohl keine Rede sein«, sagte ein junger Mann, der ihnen gegenüber sass. »Aber man stirbt gern fürs Vaterland. Pro Patria.« Er hob sein Glas hoch.

Rieti sagte: »Ist es wahr, dass im letzten Winter viele Leute da oben gestorben sind? Ist es wahr, dass die Arbeiter in Fieber-Baracken wohnen?«

Sein Nachbar beugte sich nach vorn und legte die Arme auf den Tisch. Er blinzelte Rieti an. »Kommst du uns auch mit den Fieber-Baracken?« fragte er. »Und mit den blauen Wanzen von Firuskuh? Sie beissen, und man stirbt daran. Man stirbt schneller von den blauen Wanzen als vom Malariafieber.«

Rieti sah, dass sich der Junge gegenüber ein wenig aufrichtete. Er hörte ihn sagen: »Bei uns ist noch kein Arbeiter wegen blauen Wanzen gestorben. Nicht solange ich beim Bahnbau bin. Aber viele an der Malaria.« Und Rieti erinnerte sich an 127 die frischen Gräber auf dem katholischen Friedhof von Teheran. Es war eine Reihe von Gräbern mit gleichen, einfachen Soldaten-Grabsteinen, auf denen etwas eingemeisselt war, was ein Fascio vorstellen sollte.

»Schweig«, sagte sein Nachbar. »Du bist ein grüner Junge und hast von blauen Wanzen keine Ahnung. Warst du schon einmal blau, drei Tage lang blau und nichts anderes?«

Er wandte sich an Rieti und stützte einen Ellbogen auf. »Dottore«, sagte er, »hören Sie nicht auf diesen total blauen Jungen. Hören Sie auf mich. Ich bin nicht so betrunken, wie ich aussehe, und wie jener blaue Junge dort drüben. Ich sage Ihnen im Guten: Lassen Sie sich nicht auf die Geschichten von den Fieber-Baracken ein.«

»Gut«, sagte Rieti. »Aber wie ist es mit den Tigern von Mazanderan?«

»Da hört ihr es«, sagte der Nachbar. »Er glaubt das Märchen von der Malaria, und das Märchen von der blauen Fieber-Wanze, und das Märchen vom grossen Tiger. Glaubst du, dass jede Nacht ein armer, unschuldiger, italienischer Arbeiter vom Tiger geholt wird? Glaubst du das?«

»Es sind Fälle vorgekommen.«

»Lasst doch«, sagte der Junge. »Macht euch doch nicht lächerlich mit eurem Viva-Viva-Patriotismus. Leugnet doch nicht, dass wir Arbeiter verlieren, weil sie schändlich schlecht untergebracht sind.«

128 Ein dritter meldete sich. Er hatte einen enormen, rötlichblonden Bart. Aus dem Bart kam seine Stimme, ganz heiser. »Warum redest du nur von den Arbeitern?« fragte er. »Sind wir etwa Schweine? Bekommen wir kein Malariafieber? Werden wir nicht dreckig, werden wir nicht ebenso von den Wanzen gebissen?«

»Ist es wahr, dass die italienischen Firmen alle anderen unterboten haben, und dass sie es an den Arbeitern wieder einsparen?« fragte Rieti.

»Es ist wahr«, sagte der Junge. »Aber man soll sich hüten, davon zu sprechen. Man soll den Minister, der etwas dagegen tun könnte, nicht davon überzeugen, dass er für die italienischen Arbeiter verantwortlich ist.«

»Hör schon mit deinen Arbeitern auf!«

»Man soll, im Gegenteil, den Minister beruhigen. Er soll glauben, dass alles in Ordnung ist.«

»Hör auf, hör doch um Himmels willen endlich auf. Hör auf, von Sachen zu reden, die du nicht verstehst!«

Sie wandten sich an Rieti.

»Die Arbeiter haben sich freiwillig in Italien engagieren lassen. Sie haben Einzelverträge, für die man niemand verantwortlich machen kann«, sagte sein Nachbar. »Sie sind auf eigenes Risiko nach Persien gekommen. Wir auch. Es ist wahr, dass die Firmen unterboten haben, aber das ist lange her. Jetzt haben die Belgier um zwanzig Prozent 129 unterboten. Um zwanzig Prozent.« Er sagte das zu dem Jungen.

Der Junge hörte nicht mehr zu. Der andere sammelte sich und sah Rieti an. »Alle Firmen machen ihre billigen Angebote auf Kosten der Arbeiter. In der ganzen Welt ist das so. Die Belgier machen es ein bisschen weniger, weil sie Angst vor ihren Sozialisten haben, und weil sie es sich leisten konnten. Sie sind erst spät nachgerückt, als die Arbeitsbedingungen hier schon bekannt waren. Sie haben von unserer Erfahrung profitiert, um uns um zwanzig Prozent zu unterbieten.«

»Ein schlechtes Geschäft für die italienischen Firmen«, sagte Rieti.

Der mit dem roten Bart redete aus dem Bartgestrüpp heraus, es klang orakelhaft: »Kein Mitleid mit den Firmen«, sagte er. »Sie werden es einsparen. Sie werden zwanzig Prozent an den Arbeitern und an uns einsparen. Wir werden Wanzen essen und die Malaria kriegen. Dieser Junge hat die Malaria gehabt. Er sollte lieber nach Hause fahren. Aber er kann nicht, er hat seit drei Monaten kein Gehalt bekommen. Junger Mensch, du solltest den Minister dafür verantwortlich machen.«

»Nichts gegen den Minister«, sagte der neben Rieti. »Er hat getan, was er konnte. Er hat nach Rom telegraphiert.«

»Ja, er hat sich's was kosten lassen«, sagte der Junge, der wieder aufgewacht war und mit 130 zurückgeworfenem Gesicht den Glasleuchter über ihm anstarrte.

»Hätte er sich für uns hängen lassen sollen?« fragte Rietis Nachbar. »Er hat dies und jenes getan. Er hat einen Arzt geschickt, der uns gesagt hat, wir sollten die blauen Wanzen fressen, um gegen sie immun zu werden.«

Die anderen lachten. Der Junge starrte immer noch die Lampe an.

»Sag selbst: Würdest du dich für mich hängen lassen?« fragte ihn sein Nachbar.

»Nein«, sagte der Junge. »Und übrigens kann man niemand dafür verantwortlich machen. Es ist auf der ganzen Welt so. Es ist, weil man niemand dafür verantwortlich machen kann ...«

 

In Mazanderan blieb während des Sommers alles ruhig. Aber im Süden, an der Baustrecke des dritten Loses, welches ein Italiener gekauft hatte, traten fünfzig libanesische Arbeiter in Streik. Man hatte ihnen keinen Lohn ausbezahlt und ihnen nichts zu essen gegeben. Es hiess auch, dass die Hitze da unten einfach unerträglich sei. Die Libanesen standen unter französischem Schutz und waren von einem italienischen Unternehmer angestellt worden. Es kam zu Verhandlungen zwischen den beiden Legationen.

Inzwischen kamen aus dem Süden alarmierende Telegramme. Die streikenden Libanesen waren mit den Italienern des Nachbarloses 131 aneinandergeraten. Die Hitze, die Entbehrungen und der Hunger machten die Leute verrückt, und man befürchtete, dass der Streik sich ausbreiten und dass es zu wirklichen Kämpfen kommen werde.

Man konnte nichts anderes tun, als die persische Polizei davon zu benachrichtigen. 132

 


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