Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Fast dasselbe Leiden

Die Halle war schon voller Leute. Die Gäste standen herum, einige gingen ins Rauchzimmer, welches eigentlich das Arbeitszimmer des Ministers war, und liessen sich in den tiefen, bequemen Bombaystühlen nieder. Der griechische Boy lief mit Zigaretten von einer Gruppe zur anderen. Er war dreizehn Jahre alt und hiess George, Madame hatte ihn aus Konstantinopel mitgebracht. Es war eine Laune von ihr gewesen, ein Anfall von Mütterlichkeit oder einfach der Wunsch, mit dem kleinen Jungen griechisch zu reden. Denn Griechisch war ihre Muttersprache. Sie war eine kleine, zarte Dame aus Konstantinopel, und sie hatte die gekräuselten Löckchen auf der Stirn und die hohen, grossen, runden, ratlosen Augen der byzantinischen Mosaike, die offenbar ihre Vorfahren darstellten. Heute gab sie ihr erstes Diner in diesem fremden Land.

Es war ein grosses Diner, man hatte über zwanzig Personen in dem schmalen Speisezimmer der Gesandtschaft plazieren müssen. Madame hatte sich den ganzen Tag nicht getraut, in das Speisezimmer zu gehen oder gar in die Küche, wo zwei Köche, deren Namen sie nicht kannte, die Vorbereitungen für das Essen trafen. Madame kannte 134 noch immer die Hinterräume ihres Hauses nicht. Sie wurde von ihrer Haushälterin tyrannisiert, einer grossen dicken Armenierin, die seit zehn Jahren in der Gesandtschaft war und sich stets auf eine Reihe von Vorgängern zu berufen wusste, die alles anders gemacht hatten, als Madame es hätte tun wollen. Anna klopfte Madame ein Stäubchen von der Schulter, wenn sie mit ihr sprach, und sie sprach immer mit lauter Stimme und so, als geriete sie vor Entrüstung ausser Atem. Madame schrumpfte vor ihr zusammen und gab nach, in allem. Es war nur George, der noch auf sie hörte. Ein Strassenjunge aus Stambul – sie wusste, dass die anderen Angestellten ihn so nannten. Aber sie waren ihr gleichgültig, die anderen Angestellten, die Alis, Mahmuts und Hadschi Babas. Mochte doch Anna sich mit ihnen ärgern! Anna, die immer alles so viel besser wusste!

Jetzt, um neun Uhr abends – alle Gäste waren schon da ausser seiner Hoheit, dem Protokollchef –, traute sich Madame bis unter die Tür ihres Speisezimmers und schaute hinein. Sie übersah die lange Tafel nicht ganz, aber sie sah Blumen, eine Dekoration aus geköpften Stiefmütterchen – natürlich, ihre Stiefmütterchen, die einzigen Blumen im Garten, die sie liebte! –, viel Glas, Kerzen, kleine Butterschälchen und Toast neben jedem Gedeck. Es schien alles in Ordnung. Sie hörte die Stimme Annas durch die offene Anrichte und zog sich leise zurück. Sie ging schnell, mit sehr kleinen 135 Schritten, durch die Halle und drückte sich mit gesenkten Augen an den Gruppen ihrer Gäste vorbei. Sie kam gerade auf mich zu.

»Ach, da sind Sie ja«, sagte sie. Sie fasste eifrig meine Hand. »Es sind zwei Amerikaner gekommen«, fuhr sie fort. »Ein Herr und eine Dame. Sie sind nicht verheiratet. Er ist Archäologe. Die Dame ist – ich glaube, sie ist Malerin. Oder sie ist einfach reich. Ich weiss nicht, was ich mit ihnen machen soll. Ich dachte, Sie könnten mir ein wenig helfen, vielleicht?«

Ich fand die Amerikaner im Rauchzimmer. Sie sahen alte Seidenstoffe an, einen Stoss kleiner Fetzen, die auf dem Kaminsims lagen.

»Guten Abend, Gordon«, sagte ich, »alter Knabe.«

Er drehte sich um, strahlend. »Auch schon hier?« fragte er. »Mrs. Batten, darf ich vorstellen: dies ist das Mädchen, welches die letzte Saison draussen mit uns gearbeitet hat.«

Sie streckte mir wie von weit her ihre Hand entgegen. Sie war gross und hatte leuchtende braune Augen.

»Wann bist du angekommen?« fragte ich Gordon. »Warum hast du den ganzen Winter keine Zeit gefunden, deinen Bart abschneiden zu lassen?«

»Wirklich«, sagte er, »ich habe absolut keine Zeit gehabt. Vier Monate waren herum wie nichts.«

136 Mrs. Batten sah uns gross und aufmerksam an.

»Sie sind zum zweiten Mal in Persien?« fragte sie mich.

»Und Sie,« fragte ich, »sind Sie zum Vergnügen hergekommen?«

»Das weiss ich noch nicht.«

»Mrs. Batten malt«, sagte Gordon.

»Das ist Nebensache, Gordon. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass Sie davon nicht sprechen sollen. Dieses Land hat Farben –« Sie wandte sich an mich: »Würden Sie den Mut haben, hier zu malen?«

»Nein«, sagte ich, »weil ich nicht malen kann. Ich photographiere ...«

Sie blieb ganz sanft. »Gordon sagt mir aber, dass Sie schreiben.«

»Manchmal, nebensächlich.«

»Ich möchte mit Ihnen über Persien reden«, sagte sie. »Gordon, lassen Sie uns allein.«

Gordon ging. Wir liessen uns in zwei mit Chintz überzogenen Lehnsesseln nieder. Mrs. Batten setzte sich so, dass sie mir ins Gesicht sehen konnte. »Sie sind so jung«, sagte sie. »Ich kann nicht begreifen, dass Sie den Mut gehabt haben, nach Persien zurückzukommen. Nachdem Sie es einmal kannten.«

»Es gab hier dies und jenes, wofür ich mich interessierte.«

»Die Archäologie?«

»Beispielsweise.«

137 »Ich gebe zu, dass man sich dafür passionieren kann. Es ist ein Schatzgräber-Instinkt.«

»Sie vergessen die wissenschaftliche Neugier.«

»Nein«, sagte sie, »ich habe daran gedacht. Mein Mann ist Forscher, Arzt drüben in den Staaten. Er ist Krebsforscher.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das dürfen Sie nicht vergleichen«, sagte ich, »was er tut, kommt nicht der Wissenschaft zugute, sondern den Menschen.«

»Er fühlt sich aber nicht so. Er fühlt sich nicht als Wohltäter, sondern als Forscher.«

»Während dies hier einer Flucht gleicht ...«

»Oh, also doch«, sagte sie froh. »Jetzt kommen wir der Sache doch näher.«

»Nein. Es hat keinen Zweck, darüber zu reden.«

»Es ist Ihnen unangenehm? Aber warum sind Sie dann zurückgekommen? Wenn Sie das alles spüren? Die Gefahr, weil das Land zu gross ist, und weil die Natur einen tötet?«

»Ich habe nichts von Gefahr gesagt.«

»Nun gut«, sagte sie, »dann werde ich es Ihnen sagen. Die Natur ist hier so stark, dass sie einen tötet. Man müsste aufhören, ein Mensch zu sein, an die menschlichen Bedingungen gebunden. Man müsste ein Stück Wüste und ein Stück Gebirge werden können, und ein Streifen Abendhimmel. Man müsste sich dem Land anvertrauen und darin aufgehen. Dagegen zu leben ist ein solches Wagnis, dass man vor Angst umkommt.«

»Man hört von selbst auf, dagegen zu leben, wenn man eine Weile hier ist.«

138 »Das ist das Gefährliche«, sagte sie. Sie sah mich mit ihren leuchtenden Augen an.

»Man muss etwas tun«, sagte ich, »Aktivität hilft darüber hinweg.«

»Wie wollen Sie an das glauben, was Sie tun«, sagte sie. »Wie wollen Sie in diesem entsetzlichen Land an den Sinn von etwas glauben?«

»Man muss.«

»Die Leute, die hier geboren sind, tun nichts. Es ist rührend, sie an einem Bachufer oder unter einem Baum sitzen zu sehen, auf einem Teppich, den Samowar neben sich aufgestellt – ganz wie auf den alten Miniaturen, aber erloschen.«

»Sie vergessen, dass die Leute Opium rauchen.«

»Auch in China raucht man Opium.« Sie sah mich wieder an. »Aber dort ist es etwas anderes. Die Menschen haben dort das Land gemacht, die Menschen beherrschen die Kunst des Leidens, deshalb sind Armut und Leiden weniger schrecklich als hier. Mein Mann hat mir erlaubt, in Persien zu bleiben. Um zu lernen, zu malen, zu reisen. Ich wollte die Farben dieses Landes sehen, und auch seine Städte und seine Gärten. Aber ich weiss jetzt, dass ich nicht bleiben kann. Oh, ich werde mich hüten. Ich werde es mit China versuchen. Hier ist es hoffnungslos.«

»Und es ist doch ein schönes und grossartiges Land«, sagte ich.

Sie beugte sich vor, mit leuchtenden Augen, und legte mir die Hand auf die Schulter. »Man soll sich 139 nicht in Versuchung führen«, sagte sie, »nicht zu sehr, und nicht, wenn man jung ist.«

In diesem Augenblick kam mein Freund Gordon mit der Ministerin zurück. »Sie unterhalten sich sicher über die Schönheit Persiens«, sagte er.

Die kleine Ministerin machte eine verzweifelte Gebärde. »Immer die Schönheit Persiens, immer seine Vorzüge!« sagte sie und, fast erschrocken, setzte sie entschuldigend hinzu: »Sie, Mrs. Batten, sind nur zu Besuch hier. Das ist ganz etwas anderes.«

Mrs. Batten lächelte höflich. »Wir sind so viel Grossartigkeit nicht gewöhnt«, sagte sie.

Die Ministerin seufzte. »Drei Jahre, in einer Stadt wie Teheran – oder noch viel länger –, man fühlt sich so verloren!«

Wir standen auf, um in das Esszimmer zu gehen. Es war zehn Uhr. Der Stambuler Strassenjunge stand in seiner neuen Uniform an der offenen Flügeltür.

Madame ging mit Gordon voraus.

Mrs. Batten folgte neben mir, sie ging gross, schön und sicher durch die Halle. »Also, junge Freundin«, sagte sie, »hüten Sie sich. Nehmen Sie nicht den Kampf auf gegen die rasenden Windmühlen dieses Hochlandes. Hüten Sie Ihren Mut.«

Ich schwieg. Sie sagte mir, was ich längst wusste. Auch Gordon wusste es.

Mrs. Batten fuhr fort: »In diesen Kreisen ahnt man natürlich nichts, das eigentliche Land, das Geheimnis bleibt ihnen verschlossen.«

140 Ich sah die Ministerin durch die Flügeltür schlüpfen, sie lächelte dabei George an, es wirkte kummervoll, und er grüsste aus seinem bleichen, frechen Knabengesicht zurück.

»Vielleicht täuschen wir uns«, sagte ich zu Mrs. Batten, »das, worauf es ankommt, ist fast dasselbe Leiden.« 141

 


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