Annemarie Schwarzenbach
Bei diesem Regen
Annemarie Schwarzenbach

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Auf der Heimreise ...

Claude und ich sassen mit dem Hauptmann auf der Terrasse des Hotels Saint-Georges und assen zu Abend. Der Hauptmann hatte seinen Sommer-Urlaub in Zypern zugebracht, irgendwo im Innern der Insel, bei einem Freund, der sich um die Antiquitäten von Zypern kümmerte. Claude und ich waren zufällig nach Beirut gekommen. Wir waren seit vierzehn Tagen unterwegs, erst Persien, Urmia-See, Kurdistan, dann ein Stück irakische Wüste, und ein grösseres Stück syrische Wüste. Schliesslich hatten wir genug von der Wüste und fuhren nach Beirut, um uns ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Es war Ende September, und Beirut war wie ein Dampfbad. Der erträglichste Aufenthalt war das Hotel Saint-Georges, weil es neu war und eine kühle Halle und eine verdunkelte, kühle Bar hatte, und weil man den ganzen Tag im Wasser liegen konnte. Die Luft war so feucht, dass die Kleider im Schrank sich feucht anfühlten und die Schuhe dunkle Flecken bekamen. Und die ganze Zeit fühlte man sich wie ein Schwamm. Am Abend wurde es dann ein wenig kühler. Man ass auf der Terrasse, die wie ein Schiffsdeck über dem Meer hing, sah auf das dunkle, leicht bewegte Wasser 86 hinaus und spürte den Nachtwind. Die Kellner trugen weisse Jacken und servierten alle Getränke in Eis. Jeder Tisch hatte seinen Eiskübel, den eine deutsche Schaumwein-Fabrik gestiftet hatte und dessen versilberte Oberfläche sich von der Kälte beschlug und mit Feuchtigkeitsperlen bedeckte. Die Türen zum Speisesaal standen offen. Der Speisesaal war leer bis auf die Kapelle, die dort spielte.

»Ein zivilisierter Ort«, sagte der Hauptmann. »Man könnte ebensogut in Juan-les-Pins sein. – Wenn es bloss nicht so heiss wäre!«

»Wie war es in Zypern?« fragte Claude.

»Ein bisschen heiss«, sagte der Hauptmann, »sonst ganz hübsch, primitiv und idyllisch.«

»Wein und Liebe?«

»Viel Wein ohne Liebe.«

»Na«, sagte ich, »bei uns war es genauso: ein bisschen zu heiss. Das ist die Eigenheit eines Sommer-Urlaubs im Orient.«

Der Hauptmann erhob sein Glas und sagte: »Nichts gegen die Eigenheiten des Orients.«

Er war seit sechs Jahren Militärattaché in orientalischen Ländern und war während dieser ganzen Zeit nie nach Europa gefahren. Er hatte im ersten Jahr in Kabul seine Frau verloren, die er erst kurz vor seiner Abreise geheiratet hatte. Damals hatte man ihn auf seinen Wunsch versetzt, zuerst nach Bagdad, zwei Jahre später nach Persien. In Persien hatte er angefangen, Windhunde zu züchten. Das Reiten hatte er nach dem Krieg aufgeben müssen, 87 wegen eines Trachoms, welches er im letzten Kriegsjahr in der Türkei davongetragen hatte. Diese Augenkrankheit war gewöhnlich die Folge von Unterernährung und war in vielen Teilen des Orients verbreitet.

»Früher verging kein Tag, ohne dass ich mich auf einen Sattel gesetzt hätte«, sagte der Hauptmann, »ich hatte kein Geld, um eigene Pferde zu kaufen, aber ich trainierte die Pferde von irgendwelchen Grafen, die ihre Ställe draussen in St-Cloud hatten. Morgens um drei Uhr ging ich hinaus und galoppierte den ersten Gaul ab, bevor die Sonne aufging.«

Er hatte Vorkriegs- und Nachkriegserinnerungen. Die Nachkriegserinnerungen begannen erst nach dem Tode seiner Frau. Sie waren so, als ob das Frankreich von damals gar nicht mehr existierte. Nicht nur die Namen der reichen Rennstallbesitzer hatten gewechselt, sondern auch St-Cloud und die glatte, trockene Grasbahn und nach dem Reiten die Fahrt durch die frisch besprengten Strassen von Paris waren anders. Es gab keinen frühen Morgen von St-Cloud mehr.

»Wissen Sie«, sagte er zu Claude, »man sollte sich Europa überhaupt aus dem Kopf schlagen. Dieses alte, traute, von Sentimentalitäten lebende Europa!«

»Ich mag einige seiner Sentimentalitäten gern«, sagte ich.

Der Hauptmann: »Aber man kann nicht davon 88 leben. In Europa weigert man sich, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen. All diese halb- und ganz konservativen Politiker möchten, dass Europa von ihren edlen Gefühlen lebt, von ihrer Pietät gegenüber der Vergangenheit, und von ihrem Glauben, dass Besitz, Klassenvorrechte und Erziehungsprivilegien ewig und unveränderlich seien.«

»Nein«, sagte Claude, »sie haben nur Angst vor einer Veränderung. Sie wissen, dass grosse Veränderungen Unordnung, Unglück und Elend mit sich bringen, und sie wollen die Verantwortung dafür nicht tragen.«

»Diese guten, wohlmeinenden Vogel Strausse«, sagte der Hauptmann.

»Heisst es nicht Vögel Strauss?« fragte ich.

»Galgenvögel«, sagte der Hauptmann.

»Kommen Sie«, sagte Claude, »trinken Sie noch ein Glas Weisswein. Finden Sie auch, dass dieses Palasthotel seine Annehmlichkeiten europäischer Sentimentalität verdankt? Wie waren die Weinschenken in Zypern?«

»Es gibt die Sentimentalität, und es gibt den Geschäftssinn«, sagte der Hauptmann. »Dieses Hotel ist ein Werk des levantinischen Geschäftssinns. Es kommt denen zugute, die es bezahlen können, und es wird so lange existieren wie seine Gäste.«

»Aber wie war es mit den Weinschenken in Zypern?« fragte Claude.

»Es gab zypriotischen Wein und griechischen Wein. Es gab Wein mit Wasser und Süsswein und 89 starken Wein, der den stärksten Trinker besiegte. Die Bauern waren mässige Trinker, die Fischer waren besser. Diese Schenken waren vorzüglich, und sie waren, im Gegensatz zum Palasthotel Saint-Georges, sozusagen ewige Einrichtungen. Mein Freund versicherte mir, dass man in der Bronzezeit den Wein in den gleichen Krügen gemischt habe wie heute. Und dann waren da noch die ewigen Öllampen.«

»Lauter orientalische Sentimentalität«, sagte Claude.

»Ein banales, weitverbreitetes Missverständnis«, sagte der Hauptmann. »Der Orient ist frei von Gefühlen. Man kann hier lieben und trinken ohne Gefühl. Man kann hier, unbelastet von Gefühlen gegenüber der Vergangenheit, der Zukunft entgegenleben.«

»Sind Sie der Meinung«, fragte ich, »dass dem Orient die Zukunft gehört?« – Man kann in unserer Zeit nicht von der Zukunft reden, ohne dass sich ein beklemmendes Schweigen einstellt. – »Leben Sie wirklich gern hier draussen?« fragte ich.

»Warum nicht?«

»Sind Sie wirklich aufrichtig, wenn Sie das sagen?«

»Sei nicht taktlos«, sagte Claude.

»Lasst uns den schönen Abend geniessen«, sagte ich, »wir wollen auf irgend etwas trinken.«

Der Kellner, der gerade vorbeikam, hielt an und nahm die Flasche aus dem Eiskübel. Er befühlte sie und wickelte seine Serviette darum.

90 »Giessen Sie nicht ganz voll«, sagte Claude zu ihm, »füllen Sie mit Mineralwasser auf.« Und zu uns: »Es ist euch doch recht so? Auf was trinken wir?«

»Auf eine glückliche Rückreise nach Persien.«

»Auf dass es ein bisschen weniger heiss sei!«

Es war schon spät. Die Kapelle spielte jetzt auf der Seitenterrasse, wo getanzt wurde. Die Tische in unserer Nähe waren leer, die Kellner fingen an, die Horsd'œuvre-Schüsseln wegzutragen.

»Wollen Sie tanzen?« fragte mich der Hauptmann.

»Danke«, sagte ich, »wir wollen es wenn irgend möglich vermeiden.«

In diesem Augenblick kam der Major mit seiner Familie durch das dunkle Restaurant auf die Terrasse heraus. Er blieb stehen, sah die leeren Tische an und sah dann zu uns herüber. Claude grüsste. Der Hauptmann erhob sich.

»Das ist Lesconte«, sagte er, »ich denke, ich gehe besser einen Augenblick zu ihm hinüber.«

Major Lesconte hatte sich mit seiner Frau an einen Tisch gesetzt. An einem anderen Tisch, so weit von den Eltern entfernt, dass sie nicht mit ihnen sprechen konnten, sassen die beiden kleinen Jungen mit ihrer Bonne. Die Jungen sahen blass aus, wie Kinder, die einen Sommer in einem heissen Land zugebracht haben.

»Ich hätte ihn lieber nicht hier getroffen«, sagte Claude.

91 »Was ist mit ihm?«

»Oh, nichts Besonderes. Aber er hat viel Pech gehabt, und man konnte nichts für ihn tun. Er kam mit der Militärmission nach Teheran. Der Hauptmann sagte damals gleich, dass er nicht der richtige Mann sei ...«

»Es ist schwer, der richtige Mann für hier draussen zu sein«, sagte ich.

»Es gibt schon Leute«, sagte Claude. »Aber Lesconte war nicht der richtige.«

Ich sah zu dem anderen Tisch hinüber. Der Hauptmann unterhielt sich mit Lesconte. Die Frau las die Karte und gab sie dem wartenden Kellner zurück, wobei sie etwas zu ihrem Mann sagte. Lesconte hob den grauen Kopf und winkte dann mit der Hand ab. Ein zweiter Kellner brachte einen Eiskübel mit zwei Flaschen darin, die er am Hals hielt und drehte, um sie richtig in das Eis hineinzustossen.

Der Major hörte dem Hauptmann zu, und sah manchmal zerstreut auf das Meer hinaus.

»Es ging, wie es hier immer geht«, sagte Claude. »Sie empfingen ihn wie einen Propheten, er bekam eine persönliche Audienz und Vollmachten, so viele er haben wollte. Nachher nahmen sie nicht einen einzigen seiner Vorschläge an, und machten ihn für alles verantwortlich, was passierte.«

»Konnte man ihn nicht schützen?«

»Nein«, sagte Claude, »die Offiziere der Mission haben individuelle Kontrakte. Sie werden 92 nicht von ihrem Land geschickt, sondern melden sich freiwillig.«

»Was er sich wohl davon versprochen hat?«

»Sie werden gut bezahlt.«

»Was hat er jetzt davon ...«

»Ja«, sagte Claude, »sie haben ihn dazu gebracht, seine Demission einzureichen, und haben ihn einfach nach Hause geschickt. Und überdies hat er eines seiner Kinder verloren.«

Drüben brach die Musik ab. Man hörte die Leute schwatzend und lachend durch die Bar in die Hotelhalle gehen. Die Terrasse blieb leer zurück, die Lichter wurden ausgemacht.

»Ist der Hauptmann richtig für hier draussen?« fragte ich.

»Was weiss ich«, sagte Claude, »er glaubt es jedenfalls.«

»Er macht sich nicht viel Illusionen darüber.«

»Das ist es eben. Der Major hatte eine Menge Illusionen. Er kam aus einer langweiligen, kleinen Provinzgarnison und war dort grau geworden vor Langeweile. Nun glaubte er, er könne etwas nachholen. Er glaubte, es sei seine grosse Chance, und kam mit den Ideen eines europäischen Offiziers und mit einem Haufen Energie, Tatkraft, gutem Willen – wie du es nennen willst.«

»War hier natürlich alles ganz unbrauchbar.«

»Natürlich«, sagte Claude, »aber er wollte es nicht einsehen. Bis zuletzt. Ich glaube, er sieht es immer noch nicht ein.«

93 »Scheusslich für ihn«, sagte ich. »Aber jetzt kann er wenigstens nach Hause fahren.«

»Trotzdem scheusslich. Er hat ein Kind eingebüsst. Und sicher hat er Geld zugesetzt.«

»Haben sie ihn schlecht behandelt?«

»Und ob«, sagte Claude. »Einfach niederträchtig. Und Militärs sind doch so empfindlich!«

»Es kehrt sich eben alles um«, sagte ich.

»Wie meinst du das?«

»Wir haben so lange die Orientalen gedemütigt. Jetzt machen sie es ebenso mit unseren Leuten.«

»Ja, jetzt können sie sich's leisten.«

»Man muss sich richtig dazu einstellen. Dir und mir zum Beispiel können sie nichts tun.«

»Bist du sicher?«

»Schau dir doch die beiden an!« sagte ich. »Der Hauptmann leidet wegen Europa, und der Major wegen Asien. Fühlst du dich nicht jung, wenn du sie ansiehst?«

»Jung und glücklich«, sagte Claude.

Drüben erhob sich der Hauptmann. Madame Lesconte reichte ihm die Hand über den Tisch hinweg, und er kam zu uns zurück.

»Haben Sie ihm ein bisschen Mut zugesprochen?« fragte Claude.

»So ein armer Kerl«, sagte der Hauptmann.

»Freut er sich nicht auf die Heimreise?«

»Auf eine solche Heimreise?«

»Ich meine, wegen der Kinder. Und dann, weil er doch gründlich genug haben muss ...«

94 »Wissen Sie«, sagte der Hauptmann, »sein Kind starb an Typhus, gerade als er in Ungnade fiel. Es war sein Lieblingskind, ein kleines Mädchen. Und zum Begräbnis kam kein einziger von seinen Kameraden. Sie trauten sich alle nicht. Also gingen wir ganz allein hinter dem winzigen Sarg her, der Major, der ältere von den beiden Buben und ich. Es war eine teuflische Hitze.«

Wir sassen eine Weile schweigend.

»Wollen wir die Sitzung aufheben?« fragte ich.

Wir gingen am Tisch des Majors vorbei, und Claude blieb einen Augenblick stehen und wünschte ihm eine glückliche Heimreise. Ich sah, dass der Major wieder, an Claude vorüber, zerstreut auf das Meer hinaussah. In der Halle trennte sich der Hauptmann von uns.

»Ich glaube, was ich brauche, ist ein eisgekühlter Whisky Soda«, sagte er.

Wir sahen ihn in die Bar hinübergehen.

»Wir könnten noch ein paar Schritte den Strand entlang machen«, sagte Claude.

Wir gingen hinaus. Das Araberkaffee unter freiem Himmel war noch erleuchtet. Wir gingen bis zum Ende des Strands und wieder zurück, und setzten uns im Kaffee an einen Tisch an der Balustrade, so dass wir auf das Wasser hinuntersehen konnten, welches schwarz gegen die Felsen anlief und sie dann mit weichem, weissem Schaum bespülte.

Wir tranken türkischen Kaffee und ruhten uns 95 aus. Ein paar Tische weiter sass ein Junge im Fez, ein Mädchen lehnte an seiner Schulter.

»Fühlst du dich jung und glücklich?« fragte mich Claude.

»Und du?«

»Ich denke, ja –«

»Ich weiss nicht«, sagte ich. »Wir sollten nicht zu lang in diesem Erdteil bleiben!« 96

 


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