Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.

Der Versuch einer Liebe.

Eines Morgens erwachte ich und fand mich nicht mehr allein. Das Fieber hatte sich gelegt und die Magie, die mich die ganze Nacht wach gehalten und am Rand weisser Abgründe entlang geführt hatte, zog jetzt ihre Hand zurück und überliess mich meiner vernichtenden Erschöpfung. Das Zimmer war dunkel. Das Gebüsch vor dem niedrigen Fenster sog das schattige Baumlicht auf wie das mollige Gefieder grosser Eulen –, den Himmel brauchte ich nicht zu sehen, er begann erst jenseits der Gartenmauer. Am Schirm meiner Lampe hafteten die zarten Flügel der Falter, die sich blind zum Sterben gedrängt hatten und jetzt allein noch an die vergangenen Stunden erinnerten. Ein Diener kam und brachte einen Glaskrug mit rotem Granatapfelsaft: ein Geschenk von Dir. Ich trank und war schon wieder in besinnungslosen Schlaf gesunken. – Man muss vergessen –, dachte ich noch –, vergessen um jeden Preis. Nie wieder die Ebene betreten, wo 170 das weisse Licht sich mit dem weissen Staub vermählt und die Hitze einhergeht im Nonnengewand. Nie wieder auf dem Feldweg ins Dörfchen Dezachub den geknechteten Kreaturen begegnen, den vom Fieber geplagten Bauern, die sich zum Bad schleichen auf geheizten Steinen, dem trottenden Eselritt schwarzverschleierter Frauen, die ihr Elend an die eingesunkene Brust pressen wie einen weinenden Säugling, den ermatteten Soldaten, die sich durch den fusstiefen Sand schleppen, ein schmutziges Tuch um die Stirn gebunden, den schweren Helm in der Hand. Das Vieh drängt sich lechzend in den Schattenstreifen einer brütenden Lehmmauer, die Dächer bersten, im Basar kauern die Männer neben ihren Wasserpfeifen und warten auf den Abend wie auf ein Erdbeben. – Nie wieder das Gartentor verlassen! – Hier herrscht die dumpfe Geborgenheit des Fiebers, und ich werde in einen dreitägigen Schlaf fallen.

Dieser Ort ist gut gewählt, er ist abseits. Weit vom Granatapfelgarten, wo die Scherben in ihren Beeten glänzen und nachts die Lampen klirren in der Stille der 171 Arbeitstische. Weit von der Hauptstadt, weit von den Gärten von Schimran, weit von den Säulen von Persepolis, durch einen Wall von Hitze getrennt von allen trauernden Erhabenheiten Persiens. Hier bin ich keiner meiner alten Begierden mehr ausgeliefert, ich erschöpfe mich nicht mehr auf dämmernden Wegen des Entzückens, ich verlange nicht mehr nach gekrönten Stierhäuptern und Wasserlilien, ich sattle kein Pferd und sende keine segelnden Falken mehr aus. Die Magie, derer sich meine trunkene Müdigkeit einst bediente, hat sich als ein starkes Gift erwiesen: kein Bienenspiel gaukelnd über blauem Korn, keine Fächerkühle, kein Zaubertrank und gekräuselter Rauch –, auf die tödlich süsse Erleichterung, die mir diese Welt in einem blassen Licht zeigt und mein unbeschwertes Herz ihre Vergänglichkeit kosten lässt, folgt ein ungesegneter, bleierner Schlaf. Ich brauche lang, um wach und meiner Sinne wieder mächtig zu werden, dann erst gewahre ich das Schrecknis, dem Leben noch anzugehören, heimatlos, gnadenlos, preisgegeben diesem Land, seinen Weiten unter dem Mond, seinen 172 Küsten, wo die Schiffe gestrandet sind, seinen Einöden, seinen windstillen Gärten. Ich ersticke in ihren Mauern, die Wohltat des Fiebers verzehrt mich. Nach Atem ringend, gleite ich in das eisige Dunkel des Teiches, taste mich zu verdorrten Beeten, krümme mich weinend auf dem Teppich. Kein Zeuge, ich kann Klagerufe ausstossen, ohne sie zum Gebet zu formen. Niemand versteht. Niemand vermisst sich zu helfen. Ich lebe von Gift, jeden Abend eine Prise. Und ich bin dankbar, ich begehre nichts anderes. Die Glieder lösen sich.

Unwiderruflich, unwiderruflich! – Meine Einsamkeit ist vollkommen. – Du hast mein Zimmer betreten, Jalé, wie ein reiches Nachbarskind, unaufgefordert, in Seide gekleidet, Blumen im Haar. Deine Stirne war sehr weiss, Dein Mund war geschminkt, auf Deinen Wangen brannte die Krankheit, die Deine Augen unruhig machte, immer fragend, immer stumm, und ihr Glanz so zärtlich . . .

Wie wusstest Du mir zu antworten, wie hast Du mich beschwichtigt, welch sanften Trost mich gelehrt!

Ich darf jetzt Deinen Namen wieder 174 aussprechen, Dein Andenken ist tot, und ich zitiere das Hohe Lied, weil meine Liebe für Dich keine Worte mehr findet. Ich werde Dich nie wiedersehen! – Ich möchte die Feder weglegen, mein Herz begehrt auf . . .

»Erinnerst Du Dich unserer ungestörten Stunden –«

Viel später, im Zeltschatten des glücklichen Tals, wieder allein, so allein wie noch nie (da ich Dir begegnet war und Dich verlassen hatte), las ich die Zeilen Hölderlins und wusste nicht, warum ich in Tränen ausbrach. Ich meinte, es sei Dein Tod, der mich so erschütterte; aber es war der vergessene Klang des Lebens. Denn ich lebe, Scham peinigte mich, ich verstand Deine furchtbare Trauer nicht, ich liebte sie, gewann sie wie ein Versprechen, wandte mich ihr zu wie einer himmlischen Speise, und küsste Dich, küsste Dich . . . So umarmt man nur, was man schon verloren weiss! – Aber Du, Jalé, welchen Trost hast Du von mir erwartet, als Du mich an Deiner Schulter schlafen liessest? –

»Komm«, sagtest Du, »wir wollen Ball spielen mit meiner kleinen Schwester 175 Zadikka, sie ist anmutig wie Echnatons Töchter, sie ist zwölfjährig, ein Kind, und schöner als ich. – Komm, wir wollen diesen dunklen Garten mit den Wiesen meines Vaters vertauschen und unter seinen hohen Bäumen liegen –, komm, Du hast Hunger und Durst, ich werde dich pflegen, bis das Fieber vergeht –, komm, Du fürchtest Dich bei Deinen Nachtfaltern und Windhunden, komm, mein Liebling, bei mir wirst Du die Furcht vergessen . . .«

– Und wir lagen unter Bäumen –

Ich erwachte: Welch ein schöner Morgen! – Jalé, siehst Du die Zartheit des Azurs? Atmest Du? –

Und ich schüttelte die Magie ab, verscheuchte die bleiche Angst mit den Nachtfaltern, und, da ich Dich nicht neben mir fand, war ich schon unterwegs, stiess das Gartentor auf, badete in Lichtströmen, bot der Sonne die Stirn, stürzte mich in ihre frühe Hitze wie ein Schwimmer –, der Feldweg nach Dezaschub, die mausgrau einhertrabenden Esel, die Weidenden auf Aeckern, die noch ein wenig Erdkühle bewahren! – Der Staub flimmert auf dem runden weissen Platz von Schimran, ein 176 Gendarm dämmert schon der Mittagsstunde entgegen –, ich aber, Jalé, biege in Deinen Garten ein, und die blaue Hügelkette versinkt hinter der hohen Mauer, zur Linken ein Teich, da kauert Zadikka im leichten Sommerkleid und taucht das braune Händchen ins Wasser und winkt mir und senkt den Blick wieder, träumend, spielend. Die vorspringende Baumwurzel im Weg, ich kenne diesen Weg, Jalé, im Dunkeln und im Hellen, und finde Dich: wie Du soeben das Haus verlassen willst, stehenbleibst auf der Terrasse, mit braunen entblössten Schultern und einen Reif im Haar –, Du bist blass, Jalé –, viel zu blass, als seist Du schon von einem zu langen Tag erschöpft, Deine Schläfen sind durchsichtig und eingesunken, auf Deiner schönen Stirn, zwischen den dunklen Brauen, eine Falte, von Leiden geprägt. Komm, meine Finger glätten sie, meine Hände auf Deinen Wangen, um Deinen Nacken, sind noch kühl, und jetzt öffnest Du die Augen, sicher, nur meinen Augen zu begegnen, jetzt lächelst Du, jetzt atmest Du leicht an meiner Schulter, jetzt öffnest Du die Lippen und lässt Dich aufheben und sinkst in 177 das Gras zurück und streichelst mich, siehst mich schon nicht mehr, nur noch den Himmel im Laubwipfel . . .

Man vernahm vom Spielplatz her das Aufprallen der Bälle, aus dem Haus, hinter Moskitogittern, Zadikkas brüchige und süsse Kinderstimme, frisches Wasser, mit Wein vermischt, perlte in den Gläsern. Die Hitze stieg den Gartenweg empor. Vom Glück ein wenig ermattet, still neben Dir, spürte ich sie in den Kniekehlen, im Hinterkopf und musste die Hand auf die brennenden Augen legen.

Angst! Wunsch nach Giften! Nach Betäubung müder Glieder! Rückkehr der Magie! – Des Teufels, diese bösartige Qual! – Jalé, geliebtes Antlitz, zärtliches Herz –, Jalé, meine Unschuld . . . aber Du schaust einer Wolke nach, Dein Mund träumt in den Halmen –, wie dürfte ich es wagen, Dir das magische Wort, meine Verzweiflung, anzuvertrauen? – Wie ich, kaum noch atmend, die Lippen öffne, wirfst Du Dich an meine Brust, Deine Finger gleiten durch mein Haar.

Und ich wehre mich, ich will nicht sterben, ich weine unter Küssen! –

178 »Sei nicht traurig«, lächelst Du, und wir führen Zwiegespräche, Stirn an Stirn.

– Wir werden zusammen fortgehen, Jalé –

– Eines Tages –

– In ein anderes Land, wo kein Fieber Dir etwas anhaben kann –

– Und Du –, Du, mein Liebling –

– Wo die Flüsse das ganze Jahr rauschen, auch im Sommer, und das Korn hoch steht und sich im wunderbaren Wind biegt, wo die Matten glänzen und die Täler in Frieden leben –

– Wie gut Du Dich erinnerst! –

– Und eine wohlbekannte Strasse dem See-Ufer entlang heimwärts führt –

Du hörst nicht mehr. Du denkst an etwas anderes, weit Entferntes.

– Jalé! –

– Mein Kind.–

– Jalé, kannst Du es Dir vorstellen? – In einem anderen Land –, nie voneinander getrennt –, Du wirst mich nie verlassen, sag? – Nein –, antwortest Du und schaust mich an, reglos. – Ach, Deine reglose Trauer! Ach, warum lügst Du so! – Du fragst, und ich werde nie die Sanftheit 179 Deiner Stimme vergessen –; Du brauchst Dich nicht zu fürchten. Du wirst gesund werden, ganz gesund. Eines Tages wirst Du diesem Land den Rücken kehren. Die Welt liebt Dich. Und glaube mir, sie vermag mehr als ich. Mein Liebling, mein Liebling. Denkst Du nicht an das Glück?

– Und Du? –

– Es ist ein Fluss, zuerst zwischen Schwarzklippen, dunkel, ein rauschender Abgrund. Dann sitzt ein Silberreiher am Ufer, und Schwärme von Wildenten erheben sich mit dem Abendwind. Das Wasser breitet sich aus und strömt still durch die schimmernde Ebene –

– Wo endet die Ebene, Jalé? –

Du siehst mich immer noch an. Und ziehst mich rasch an deine Schulter und verschliesst mir den Mund.

Ach, Wohltat, Deiner Stimme zu lauschen –, Wohltat der Erschöpfung in Deine Hände gebettet –, Wohltat des Schlafes am Nachmittag –, ach, Wohltat, Wohltat! Aber ich begehre auf: Meintest Du, an das Glück zu denken, Jalé, und erfindest sanfte Namen für Tod und Seligkeit? Du erschreckst mich furchtbar! – 180 Und murmelst: – Wir müssen uns jetzt trennen –, verstehst Du, was ich Dir sage? Heute noch! – Du darfst diesen Garten nie wieder betreten –, ich darf Dich nie wieder sehen –

– Jalé! –

– Schau mich nicht so fassungslos an –

– Jalé! Ich habe nichts verlangt, ich habe niemanden gekränkt, ich war allein, Jalé –, so allein! – Warum willst Du mir weh tun –, es mich vergelten lassen? –

Aber Du lächelst, Du scheinst fürchterlich unbeirrt. Ich höre Dich sagen:

Du begehrst auf, mein Liebling? Begehrst zu leben? – Kränke Dich deswegen nicht, uns steht so Verschiedenes bevor! – Morgen schon wirst Du unterwegs sein, auf einem Maultierpfad, und wirst in das glückliche Tal gelangen. Und wenn Du in Deiner Einsamkeit die Hände ringst und keinen einzigen Namen mehr anzurufen weisst, wenn Du Not leidest und mich längst vergessen hast –

Jalé! – Ich werde Dich nicht vergessen!

– Wenn Du am Ende deiner Kraft bist und zu sterben glaubst, dann wird Dir ein Engel begegnen –

181 Jalé löste sanft meine Hände von ihrem Gesicht. Sie war weit entfernt, sie war unerreichbar, ich sah es wohl und fühlte einen unerträglichen Schmerz und verstummte.

Sie sagte: Die Engel dieses Landes gehen auf unverletzten Füssen, sie tragen eine Wolke wie einen Mantel um die Schultern und sind stärker als alle Magie. – Weine nicht, mein Liebling –, ach, ich höre Dich weinen, dort oben im Zeltschatten –, weine nicht, weine nicht! –

Absage an die Magie.

Ich bin am Ende. Den Toten mein letztes Wort. – Es bleibt mir nicht viel Zeit, über Nacht ist Schnee gefallen und deckt den Talgrund zu, der Demawend strahlt in himmlischer Reinheit. Die Hirten brechen auf –, drüben am Afjé-Pass, im zitternden Morgenlicht, sammeln sich die Herden –, die Kamele, einen Sommer lang an Freiheit gewöhnt, sind erregt wie Zugvögel, sie recken die Hälse, reissen sich plötzlich vom Halfter los, traben schlenkernd davon, aber sie werden eingeholt, und wieder bei der Herde, rühren sie sich nicht mehr. 182 – Die Schafe sind geduldig –, die Pferde, mit gesträubten Mähnen und glänzendem Fell, bieten einen herrlichen Anblick und stampfen kriegerisch den Boden. »Nach Veramin! Nach Veramin!« – das Echo rollt über die Schutthalden, wie ein Schlachtruf, wie die Verheissung des Gelobten Landes. – Dort unten, in Veramin, werden wir bessere Futterplätze finden, wir werden dieses herbe Tal mit üppigen Scheunen, Kamelmärkten und blühenden Hainen vertauschen. Wir werden überwintern! Nach Veramin!

– Ich unternehme nicht einmal den Versuch, mich zu rechtfertigen. Jetzt, in meiner tiefsten Not . . . da ich mich an 183 Dich, geliebtes Antlitz, nicht mehr wenden darf.

Ich möchte Dich schonen. Ich möchte Dein müdes Haupt auf Kissen betten, Dein Gesicht in meinen Händen, und Dir mit meinen Fingern die Augen, die Lippen verschliessen. Zu spät. Ich möchte nie mehr vor Dir weinen, und schweigen, während Du schläfst, damit ich nie mehr vor Dir eine Lüge sagen muss. Dir hat jedes Wort weh getan, auch das sanfteste, ich war nie aufrichtig genug. Wir hätten sonst vom Tod gesprochen, geliebtes Herz, geliebtes Herz, und da Dir allein die letzten Dinge vorbehalten schienen, musste ich lügen. Du nahmst Abschied und fragtest mich: »Wirst Du mutig sein?«, und ich musste lügen. Du fragtest mich: »Habe ich Dir zu helfen vermocht? Habe ich ein wenig Macht über Dich? Wirst Du an mich denken, dort oben –, und nie wieder an die falschen Magien, die Dich erschöpfen, ohne Dir auch nur eine Minute Weges zu ersparen –, nie mehr an die Engel, die am Ende aller Wege warten, Wolkenmäntel um die Schultern, ihr makelloses Antlitz abgewendet, ihren Blick auf den Demawend 184 gerichtet, und darüber hinaus . . . Sag –, ach –, ich liebe Dich, drücke Dich an mein Herz –, sag, weisst Du es? Wirst Du mutig sein?«

Und ich musste lügen, musste lügen! – Warum hast Du mich solche Schmerzen gelehrt, und dann, sie zu verbergen . . . Während meine trostlosen Augen sich den Deinen näherten und Deiner Trauer begegneten, und die Unschuld von mir abfiel, die ich einmal so liebte, als ich sie noch von Deiner namenlosen Inbrunst empfing –, während ich so schuldig wurde, Ursache Deiner Trauer, und ihr nachging, wie man auf dem Sattel zusammengekrümmt in den gelben Nebel eines Wüstenpfades gleitet, blindlings, und alles andere vergisst –, während ich zu sterben glaubte an Deinem Mund und mich gewiss nicht davor fürchtete, fragtest Du:

»Wie heisst jenes Tal?« –

Das glückliche Tal«, antwortete ich.

– »Und jenes andere Land?« –

– Ich weiss es nicht. Sei ehrlich, schrie ich mich an, Du wirst die Pfade wiederfinden, Morgen- und Abendstern werden Dir die Bahn weisen, die Losungen werden 185 ausgerufen werden, das Leben wird anheben wie ein gewaltiger Heerzug, schonungslos, seine Toten zurücklassend und die zerstampften Felder, und Du, kleines Kind, wirst nach Deiner Mutter weinen, wirst Deine Wunden verbinden lassen, wirst Lorbeer pflücken und in tiefen Schlaf fallen, und –, sei ehrlich, sei ehrlich! – in der frühesten Dämmerung wird Dein ungebrochener Trotz auf nacktem Feld knien und Ausschau halten nach der Botschaft der Hirten!

Vor was fürchtete ich mich so?

Ich neigte mich zu Dir. Ich murmelte: »Nie habe ich den Trost gekannt. Ich fürchte mich. Ich fürchte mich vor der Einsamkeit.«

Und riss mich von dir los. Mir schien, mein Schmerz dürfe Dich nicht berühren.

In den Strassen schrie ich: Heilsbotschaft, Heilsbotschaft, und überholte die Droschken und die verschleierten Frauen und die Mullahs auf weissen Eseln. Mein gutes Pferd Bacht trug mich, noch einmal, vor die Stadtmauer, ich schrie nicht mehr, aber ich wickelte sein langes Mähnenhaar um meine Handgelenke und legte mein 186 Gesicht auf seinen Hals, »mein gutes Pferd Bacht, mein schnelles, mein schönes Pferd . . .« –, mitten durch die einherwallenden Schafherden drängte ich mich, sie teilten sich wie ein Meer, ich roch heisse Wolle, Blöken, staubigen Filz und den sonderbaren sich stauenden Tieratem, zum Totenturm lief ich und zum Salzsee, ich sah vom Rand des Turmes in die Ebene hinab, alles meinen Augen Vertraute aufzählend: dort die Zitadelle, dort die dünnen Reihen der Granatapfelbäume, dort die Geier, die Karawanenspur, die Furt, den silbergrauen Oelbaum, dort Gulistan, den Rosenhag, und auf der Anhöhe die blinden Fenster von Nirawan. Dort Deine Hufspuren, und dort, dort am Teich, Deine Träume im Schatten . . . Sonnenuntergänge, erinnerst Du Dich? – und die Dämmerung farblos wie der Lehm. Im milden Herbstwetter lag ich auf der nackten Erde und verbarg meine Stirn unter Steinen. Ich schrie »Heilsbotschaft, Gottes gnadenreiche Hand«, bis der Atem mir ausging und der Ingrimm meine Stimme lähmte, ich schüttelte mich, stemmte die Fäuste in den Gürtel, fand den Gartenweg wieder, und langte an, 187 schweissüberströmt. Da dehnte ich mich aus auf dem roten Teppich zwischen den Beeten und rief die weissgekleideten Diener. Sie liefen, um mir auf einem köstlich eingelegten Tablett Fruchtsäfte zu bringen, und das Gift, nach dem ich verlangte. – Habe ich es Schwarze Magie genannt? – Es ist nicht besser als die Haschischpfeife –, auch nicht schlechter, verachte es nicht, das Gift: Mohnharz, gaukelnde Blütenpracht, Windgluten und Augentrost, das Herz wird kalt und gleitet wie ein Delphinschatten über die geölten Wogen, von Insel zu Insel, bis zu den Polen, und hebt und senkt sich still, im Hafen, zwischen den Moosriffen und Perlmuscheln. – Ach, einmal wird mir doch geholfen werden! –

Aber mir war, als hätte ich meinen Schatten verloren, und gepeinigt, in ohnmächtiger Angst, vor Schwäche wankend, lief ich zu Dir.

Um mich nicht zu erinnern, dass Du von mir Abschied genommen hattest, wiederholte ich wie ein Gebet die nichtigen Worte: »Mein letzter Versuch . . .«

Es war schon dunkel. Im Dunkeln sass ich neben Dir und hörte Dich atmen. 188 Verzeih. Verzeih. Du musst mir verzeihen. Ich kann nicht weiterleben, wenn Du mir nicht verzeihst.

Das Gift verrann, als hätte man mir die Adern geöffnet. Ich verstummte und lernte die Reue kennen. Man bereut nur einmal, und es ist vergeblich.

Tränen. Nie werde ich es aussprechen dürfen! – Du warst immer so furchtbar still. Ich schlief an Deiner Schulter ein. Du liessest mich schlafen. Im Morgengrauen noch. – Nicht wahr? – Nicht wahr, es ist unmöglich, dass du mich verlässest?

Ich fand mich wieder, am Ende eines Maultierpfades, verdurstend in der Hitze Persiens, und erblickte unter seinen erbarmungslosen Strahlen die weissen Zelte des glücklichen Tals.

Der Engel.

Eines Nachts betrat der Engel mein Zelt. Ich sah ihn vom Fluss heraufkommen, durch das hohe und niedere Ufergras, seine Füsse wurden nicht nass. Er trug kein Diadem; aber seine Stirne leuchtete im 189 Mondlicht, seine Gestalt war umflossen von der gleichen sanft wallenden Reinheit wie der Demawend, um seine Schultern lag eine Wolke, sein Blick, hinter durchscheinenden Lidern, war gelassen. Obwohl er gross war, trat er ein, ohne sich zu bücken und ohne dass die schweren Teppiche sich bewegten. Er blieb stehen, nicht weit von mir entfernt, doch so, dass meine Hand ihn nicht berühren konnte. Uebrigens versuchte ich nicht einmal, die Hand auszustrecken, oder mich aufzurichten, um ihn zu begrüssen.

Er schaute sich im Zelt um und sah alles, meine Kleider, Satteltaschen, Angelschnur und meine waffenlosen Gürtel, die an bunten Seilen hingen.

– Du hast dich häuslich eingerichtet – bemerkte er. Als ich nicht antwortete und keine Miene machte, ihn höflich zu empfangen, fuhr er freundlich fort:

– Du hast Schmerzen, vielleicht einen Sonnenstich, Fieber? Das kommt vor, hierzulande, die meisten Fremden vertragen unser Klima schlecht. Kluge reisen rechtzeitig nach Hause –, andere, um zu vergessen, ergeben sich dem Trunk und sterben am Herzschlag. Die Schwachen jagen 190 zuerst den Versuchungen nach wie Windhunde, dann suchen sie sich zu retten, und schaffen sich mit allerhand Giften ihre Erleichterungen. Manchmal ist es nur der trockene Höhenwind, der sie in Fetzen reisst, oft leiden sie an Heimweh, sie finden immer einen Grund; das ist nur menschlich. Offenen Auges stürzen sie sich ins Verderben und sind immer erstaunt, ja fassungslos, und wähnen sich immer unschuldig. Und du scheinst mir der Schwächsten Einer. –

Er sah mich nachdenklich an.

– Ich hätte gern geantwortet; aber ich hatte keine Stimme. Ich wartete, alle Sinne gespannt, und war doch blicklos, gehörlos, stumm.

– Du verstehst nicht – sagte der Engel –, natürlich nicht, wie solltest Du verstehen! – Du kommst von den Tummelplätzen der Tugenden und Untugenden und meinst, mit ein wenig Busse, Reue und Reinigung Freudenfeuer der Erkenntnis entzünden zu können. –

Ich fühlte etwas wie bittere Empörung und raffte mich flüsternd auf.

– Ich habe seit meiner Kindheit keine 191 Freudenfeuer entzündet. – Ach, damals leuchteten sie in der Heimat, auf den Augusthöhen! – Gewiss, schon gut – sagte der Engel beschwichtigend. – Ich kenne Deine milden Landschaften nicht, die Du Heimat nennst. Und ich will Dir glauben, dass Du seither, in seltenen Augenblicken, am Weltrand die Flammenmeere gesehen hast, die euch Sterblichen die Füsse verbrennen. Deine Furcht ist begreiflich. Aber sag, wer hat Dich bis hier herauf geführt, in dieses Tal? – Es ist ein weiter Weg, über Meeresarme, hohe Gebirge und durch sengende Wüsten. Mir scheint, hier herrscht eine unbekömmliche Einsamkeit, eine menschenlose Einöde . . .

Ich zitterte –, ja, und brach bei seinen letzten Worten in verzweifelte Tränen aus. Der Engel liess mich weinen. Dann, so schien es mir, streifte er mich mit einem Blick flüchtigen Erbarmens.

– Ich habe Dich beobachtet – erzählte er –, auf den Scherbenhügeln. Wie hast Du die Hände gerungen! Und nach einem englischen Feind Ausschau gehalten, nach Himmelsleitern! – Die Abendschatten haben Dich getröstet, der Schlaf Dich 192 übermannt. Zuweilen scheinst Du erschreckt von der irdischen Vergänglichkeit, Du hast die Arbeit von gestern verachtet, die aufgerichteten Säulen, die morgen von makedonischen Soldaten in Trümmer gelegt werden. Und die Liebe schien Dir gering, die mit eurer Einsamkeit Spott treibt und euch in Tränen badet –, begreiflich, begreiflich! –

Und Du bist aufrichtig. Auf diese Weise könntest Du es zum Menschenverächter bringen und Dein Herz zu einem Kieselstein verhärten. – Was gedenkst Du jetzt zu tun? –

– Hilf mir! Was soll ich tun? –

Hätte ich wenigstens die Hand ausstrecken, sein Kleid berühren können! –

Der Engel schwieg eine Weile. Er bewegte sich, ging bis zum Tisch, auf dem ein Stoss weissen Papiers und ein paar beschriebene Seiten lagen, und schraubte die Lampe ein wenig höher.

– Immer der gleiche Schrei! – sagte er –, das Ende Eurer Gebete, Eurer Liebesgespräche, Eurer Weisheit. –

Er schien ermüdet und fragte, wie um mich abzulenken:

193 – Du schreibst? Immer fleissig? –

Beschämt antwortete ich: – Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, ich werde schwächer, und was ich schreibe, wird täglich weniger. Eigentlich ist es meine grösste Sorge –, ja, die einzige Furcht, die noch zählt, dass ich nicht mehr alles aufzeichnen könnte . . .

– Was willst Du denn aufzeichnen? Hast Du Erfahrungen gesammelt, köstliche Erkenntnisse gewonnen, gar einen Blick in das Gelobte Land getan? – Oder willst Du Deine Schmerzen mitteilen, um das Herz der Menschen zu rühren und ein milderes Urteil zu erwirken? –

Ich zitterte, zitterte –

Ach, noch einmal das Herz der Menschen berühren! Den glücklichen Atem der Welt spüren! Ach, noch einmal leben! –

– Ich fürchte, sagte der Engel sachlich –, Deine Leiden werden im Buch der Erde nicht aufgezählt werden, das mag ungerecht sein –, aber es gibt Felder, auf denen sich tödliche Kämpfe abspielen, und die doch dem Auge der Menschen entgehen. Und über das gerechte Ende entscheiden wir allein. –

194 Ich habe nie nach Gerechtigkeit verlangt –

– Aber nach wirklichen Schmerzen?

Ich schrie auf.

– Behaupte nicht, Du habest die Frage nicht gestellt: »Zu welchem Ende?« –

Und wieder, als sei er leicht ermüdet, fügte er diesen furchtbaren Worten hinzu:

– Ich bin nicht Dein Hüter, ich bin nur ein Engel dieses Landes. Glaube nicht, dass ich Dir einen Vorwurf mache . . . Aber welche Ungeduld! Welch unversöhnliche, heillose Ungeduld! –

Er näherte sich mir, er sah mich an. – Denkst Du zuweilen an Deine Toten? – fragte er.

Jan Bibenski: gestorben an den Glocken von Kiew. Warum hast Du seine Pfeife nicht zerbrochen, den Plunder seiner Uniform verbrannt und das Haschisch in alle Winde zerstreut? – Die Glocken von Kiew! – Lässt man seinen Kameraden an solchen Giften sterben? –

– Er war gegen Gifte nicht gefeit. Und bis zuletzt verlangte er, die Glocken zu hören. Ich konnte ihm nicht einmal seinen letzten Wunsch erfüllen . . .

195 Der Engel nickte. Und fuhr fort:

Carl Bergner –, starb auch er an Haschisch und Heimweh? – Er war Dein Freund, nicht wahr? – und kaum fünfundzwanzig! – Er hatte einen einträglichen Beruf. Befriedigte es ihn nicht mehr, die Säulen von Persepolis aufzurichten und in den Fundamenten achämenidischer Paläste goldene Stiftungsurkunden zu entdecken? – Er war ein begabter Maler –, freute es ihn nicht? – Konntest Du seinen Kindertrotz nicht beschwichtigen, ihn nicht warnen, den Schmerz seiner Einsamkeit nicht dämpfen? –

– Er blieb zu lang in diesem Land, dessen Gefahren gleich namenlos sind wie seine Seligkeiten. –

– Wie starb er? –

– Er war mein Freund. Ich warnte ihn, aber ich vermochte nichts. Ganz allein, in einem Garten von Isfahan, schoss er sich eine Kugel durch den Kopf. –

– Lauter Selbstmörder –, sagte der Engel, sehr deutlich. – Ich kann Dir nichts ersparen: auch Jalé ist tot. Sie war Tscherkessin, an Gehorsam gewöhnt und hatte einen zu harten Vater. Ausserdem glaubte 196 sie sich unheilbar krank –, sie stürzte sich auf das Strassenpflaster der Stadt, in der Du sie erst kürzlich verlassen hast. –

Zuerst starrte ich dem Engel in die verschlossenen Augen. Dann schnellte ich auf, schrie.

»Ein Maultier! – In sechs Stunden kann ich die Strasse erreichen, ich muss zu ihr, noch diese Nacht!« – und schrie und wankte und hielt mich an einem Zeltpfahl fest.

– Der Engel schwieg lange –

Dann erhob er sich, hob die makellose Stirn, die durchscheinenden Lider, sein Blick ruhte auf dem Demawend, er wandte sich zum Gehen, und sagte:

– In ihrer letzten Stunde wollte sie Dich sehen. Es ist zu spät. Hast Du Deine ganze Hoffnung auf die Dauer einer Nacht gerichtet und auf einen Maultierpfad? –

Ich sah den Engel am Flussufer sitzen, unbeweglich, seiner Wolke entkleidet. Endlich näherte ich mich ihm und sagte schüchtern: »Dein Mantel. Er ist davongeschwebt.«

Da lächelte er. Ich sah, dass er lächelte.

»Was kümmert Dich meine Wolke . . .«

197 In der grauen Dämmerung endlich erlosch sein mildes Licht. Der Engel sass abgewandt, immer reglos, die unverletzten Füsse im Gras, das kleine Haupt in die Hände gestützt; ich würde sagen: ein Bild aus Stein –, doch schlaflos. Um ihn die nüchterne Morgenstunde und die persische Blösse, ein riesiger Himmel ohne Ton und Farbe, raschelnde Tierweiden, verrinnende Oede, die unter Kamelhufen wankenden Wüsten, die von Fackelzügen und geisternden Antilopen erbebenden Felswände, in 198 halber Höhe die unerreichbaren königlichen Grabkammern, und talaufwärts und -abwärts lautloses Flügelschlagen.

Als die Sonne verheerend hervorbrach und die Pyramide des Demawend verging und dahinschmolz, als die Schatten in rasender Flucht den Nachtstrom erreichten, unseren Liebling, als überall Bewegung war und der irdische Tau aufstieg, Todesatem, Opferkeim, hauchzart, da seufzte der Engel, erhob sich sacht und ging, das Haar schüttelnd, leichten Schrittes. Er verschwand im Lichtschwall, am Talende –, und ich glaubte in einen langen Schlaf zu sinken. Auf meinen Schläfen brannten getrocknete Tränen, der Schmerz atmete, ich war wunschlos, ohne Gnade, sterblich ermüdet.

Aber es war die Stunde des Aufbruches.

Du wirst dich gewöhnen, du wirst schweigen, du wirst dich meiner unsterblichen Augen erinnern!

Hinter meinem Rücken hatte man die Zeltwände aufgerollt, die Pfähle ausgerissen, die beladenen Esel schrien, die Treiber, Mahmut und Ali Askar, hatten sich die Lenden mit bunten Streifen 199 umgürtet. Wir traten gegen Morgen unseren Weg an, immer geblendet, wir bogen um die Schwarzklippen und erinnerten uns an glückliche Fischzüge unter Uferbänken, wir verloren den Demawend aus den Augen. Und wir verliessen das Tal, eines unter tausend anderen Tälern in diesen asiatischen Höhen. Die Heuschrecken müssen dem Herbst erlegen sein, nichts störte die Stille.

Da beugte ich mich auf dem Sattel vor und lauschte. In weiter Ferne vernahm ich Karawanenglocken. Meine Augen suchten. – Freunde! – Freunde, seht! Ueber den rauchenden Elendshügeln, am Horizont, bewegen sich wunderbare Segel! –

 


 


 << zurück