Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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VI.

Und ich breche auf. – Befreiung! Befreiung! – Einzige Freiheit, die uns geblieben ist! – Ich habe keinen Namen hinterlassen und weiss nicht, wo ich die nächste Nacht zubringen werde. Eure Mahnungen, Bussen, Steuerzettel werden mich nicht erreichen. Behaltet eure Ratschläge, ich werde sie nicht befolgen können. Und ich lerne eine neue Sprache. Habe ich den Verstand verloren? – Wer nicht dreissig Jahre hinter Schloss und Riegel zubringen will, tut gut daran, sich rechtzeitig davonzumachen: es gibt neue Erden, neue Sprachen, andere Völker, die nicht in festen Häusern wohnen. Sie schlafen neben ihren Pferden, unter freiem Himmel, das Gesicht an den nackten Boden ihrer Jagdgründe gepresst.

Aber ich muss noch vergessen, dass ich mich befreien wollte. Dass ich eure Kirchen verliess, eure Gerichtssäle, eure Spitäler. Dass ich mich auflehnte gegen eine irdische Gewalt, Busse tat vor einer himmlischen, und Rede und Antwort stand. Ich muss die Katheder und Kanzleien vergessen, und 107 den Geruch der Apotheken, den Staub der Museen, die heilkräftige Luft der Sanatorien. Die Druckereien der Zeitungen, des Nachts hell erleuchtet, mit ihren rastlos stampfenden Maschinen. Die Zensoren in ihren gläsernen Zellen. Die Wärme der Treibhäuser, der Brutapparate, der Hotelzimmer in amerikanischen Städten. Ich muss die schattigen Alleen vergessen, die Pappeln Napoleons, die gepflegten Pfade der Nationalparks, die Kindheitswege. Und noch viel mehr. Wie lang brauchte ich, wie lang blieb ich auf der Anhöhe von Rihanie, wie lang lag ich am Strand von Byblos? – Bis die Glocken verhallten und die leise steigende Flut den Sand bis zu meinen Füssen trug. Die Stille strömte in mich ein, erreichte mein leergewordenes Herz, wurde schwer, sank, und füllte es bis zum Rand. Da erst stand ich auf und fand meine Augen und mein Gehör verändert: sie waren übermässig geschärft. Ich hatte doch kein Gift getrunken! – Es war doch keine satanische Hand, die mich auf das Dach des Hauses führte und die Herrlichkeiten der Welt vor mir ausbreitete! – Diese Erde, dieser wunderbare, von einer 108 einzigen, unteilbaren Liebe bewegte Schauplatz, ich erkannte sie wieder! –

Oh, Inbrunst der ersten Begegnung! – Ich ging, ich lief, taumelte –, Du fingst mich auf. Ich war ratlos vor Zärtlichkeit, ich zitterte, ich wollte mich Deinen Händen entziehen, aber Du hieltest mich fest und bargst meinen Kopf an deiner Brust. Als ich mich aufbäumte gegen Deine unerträglichen Liebkosungen, da neigtest Du Dich zu mir – »Sei ruhig! Sei ruhig, mein Schmerz –« – Ach, Deine Stimme, allein in der Nacht! – Meine Schläfen pochend gegen die Umklammerung Deiner Fingerspitzen, mein Gesicht von Deinen Händen gehalten, umarmte mich die abgrundtiefe Trauer Deines Blickes, der erstarrt war, als seien die Quellen Deiner Tränen für immer versiegt –, als sähest Du nur noch mich, und mich schon nicht mehr . . . Furchtbare Unschuld der Liebe! – Alle Verträge erloschen, alle Verpflichtungen aufgehoben, alle Bindungen gelöst –, keine Feinde mehr, kein Freund –, und diese Nacht ist still und weiss wie die Wintererde. An ihrem Rand ruhen unbeweglich die Tiere der Zukunft, Stierleiber, Steinböcke und 109 Skorpione. Mögen sie sich nie bewegen! Dass sie mir nicht nahe kommen! – Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich möchte schreien: »Du wirst mich nie verlassen!« Aber Deine Lippen verschliessen mir den Mund. Beschwichtigung, Qual, unaufhörliche Liebkosung –, ich werde furchtbare Verwundungen davontragen, furchtbare Schmerzen bereiten sich vor. Aber wehrlos, mit ausgetrockneten Lippen, die Augen erblindet, stürze ich noch in Deinen Schoss, presse ich noch die Stirn in Deine Hände. Du hältst die Tröstungen, Du allein öffnest die Wunden! – Und im Morgengrauen begegne ich Deinem Blick, der unverändert auf mir ruht. Erschöpft, still, noch ungläubig und tief verwundert frage ich: »Du also wirst mich aus Deinen Händen entlassen? – Du wirst die Stunde bestimmen? – Du wirst mir die Verletzungen zufügen und mich den wartenden Tieren ausliefern? – Du, geliebtes Herz –, Du also wirst es sein?« – Statt aller Antwort neigst Du ein wenig Dein Haupt. – Ich wusste es! Keine Antwort, keine Erlösung, kein Trost! – Aber wie Du so, kaum merklich, die Stirn beugst, steigen Springbrunnen des 110 Erbarmens, strömen Tränen der Reue –, wer muss denn hier getröstet werden . . .?

Oh, Inbrunst! Unschuld!

 

Wir haben die Lügen zum Verstummen gebracht. Wir verlernten den Gebrauch der Worte. Wir verzichteten darauf, einander auf den nächsten Tag zu vertrösten. Wir errichteten keine Pforten der kommenden Freude. Und doch hast Du mich die Heimsuchung des Wartens gelehrt. Auf was wartete ich? An was für ärgerlichen Gewohnheiten hing mein Herz? Wurde es noch von Träumen vergiftet, sah ich noch Luftspiegelungen verkehrt am Horizont hängen, Kronen von Palmen als Glockenschlegel und im goldenen Torbogen des Nadelöhrs mit Weihrauch und Bernstein beladene Karawanen? Hatte ich mich nicht leergeweint und den Heiligenbildern abgeschworen? Ich war nüchtern bis zur Ohnmacht. Ich hatte keine Zukunft. Ich konnte die Dauer eines Tages und einer Nacht nicht einmal mehr ermessen. Ich wartete, wartete . . . wartete.

Es ist nicht Geduld, was Du mir zugemutet hast. Ich verbrenne in einem 111 kalten Feuer. Meine Ungeduld übt sich nicht mehr, misst keine Strecken, berechnet keine Zeiten, kennt keinen Ablauf. Und ich habe Durst! Ich kann nicht mehr, wie lang habe ich vergessen zu trinken, ich habe Durst! In der Dunkelheit blind nach einem Becher greifen und ihn zum Mund führen! Rufen! Deinen Namen rufen! Ich ersticke.

»Sei ruhig . . .« Die Geste Deines Erbarmens macht mich stumm. Noch einmal, bis morgen –, immer wieder. Dann wird nichts verändert sein, kein Sternbild aus seiner Bahn geraten, Ochs und Esel an ihrer Krippe, die Stirnen der Magier makellos und unverrückbar der Schatten des grossen Baumes. Nichts erwartet mich dort. Ich weiss, Du lehrst mich keinen Verzicht. Ich weiss, noch die Qualen der Ungeduld . . .

Deine Gegenwart versammelt die letzten Dinge. 112

 


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