Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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VII.

Allein auf den neuen Fährten . . . wieviel erträgt ein Herz? Ich habe gelernt: es ist unverletzbar, und die Vögel des Himmels speisen es. Weil ich keine Gefahren mehr beim Namen nennen kann und alle Waffen abgelegt habe, gab ich dem Schutzengel auf den Waldwegen der Kindheit den Abschied. Jetzt würde er mich vielleicht nicht mehr wiedererkennen. Ich trage andere Kleider und solange der Sommer währt, brauche ich keinen Mantel. Komme ich in kältere Länder, so werde ich mir einen Schafpelz kaufen. Denn ich lebe mit den Hirten auf den Feldern, mit den Wildeseln, mit den Kranichen am Rand der Sümpfe. Auf meiner Faust sitzt ein Falke mit verbundenen Augen. Fauas Cha'alan, der Fürst der Ruallah-Beduinen, hat mir ein Pferd geschenkt, das in den Wüsten des Nedsch gross geworden ist. Er zählt seinen Reichtum in Gewehren und türkischen Goldmünzen. Seine Diener, schöne Beduinenknaben, tragen das mit Henne gefärbte Haar in Zöpfe geflochten und schminken ihre Augen mit Kohle. In 113 seinem Haus in Damaskus sah ich einen Negersklaven den Kaffee mit bitteren Gewürzen mischen. Und im Hof, zur Mittagsstunde, wurden hundert Männer gespeist. Der Fürst hinderte mich daran, die zum Mahl Versammelten zu photographieren. »Sie essen den Reis mit den Fingern«, sagte er –, »das ist in Frankreich nicht Sitte. Es könnte dort Anstoss erregen.« – »Was sind die grössten Tugenden Deines Stammes?« fragte ich ihn. Er antwortete, ohne zu zögern: »Mut und Schlauheit.« – Aber ich bin nicht unterwegs, um neue Tugenden und andere Sitten zu entdecken. Ich brauche keine bitteren Gewürze, keine fremden Gifte, keine Bezauberungen. Ich befreie mich von den Dolmetschern. Ich verlasse die Gärten von Damaskus, deren Brunnen Mondlicht trinken.

Jeden Abend nehme ich Abschied –, und am Morgen bin ich dem Unbekannten nahe. Vorbei, zu Ende die Abenteuer, aber tausend Wirklichkeiten sind zu bestehen. Ich greife an, ich werfe mich ihnen entgegen, ich liebe –, und ich vergesse nichts. Zedern bleiben zurück, Oelhaine, Gesänge –, Säulen, Segel, Zelte. Und die 115 Hufspuren berittener Völker auf dem Marsch. Mehr noch die Ferne, ach, die Ferne! – Wie ein scheuendes Pferd will meine Ungeduld ausbrechen, nach rechts, nach links –, und stürzt immer vorwärts. Es kostet mich weisse Nächte, sie einzuholen . . . die Wege sind wallend verhüllt wie Milchstrassen. Kälte, Hunger, Durst –, ich habe, was ich wollte, und nirgends, mein Haupt zu betten. Keine helfende Hand! – Würde ich jetzt, nach einer einzigen solchen Nacht, in Euren Gassen auftauchen, die Nachbarn würden mich nicht mehr kennen. Ich wäre nicht anders als die Blinden, Stummen und Bettler. Ich höre: »Wohl bekomm's« –, aber ich würde die Suppe verschmähen, die Euer Mitleid den Armen reicht. Der Hunger ist mein Freund. Alle Ermüdungen sind mir willkommen. Und ich liege an den Quellen . . . unfähig, meinen Durst zu löschen. Was tut es? Meine Ungeduld ist schon über alle Berge. – Und ich gehe, leichten Herzens. – So leicht ist es, so leer, dass alle Kräfte Eingang finden, alle Energien hineinströmen, würzige Nachtluft und salzige Meerwinde, und noch die treibenden Säfte der Pflanzen, 116 der lautlose Regen, der Atem des Geästes, der Tiere, der Schlafenden –, alle Pulsschläge. Von den Strömen steigt es auf, über den Feldern schwebt es wie Frühnebel, es gleitet über die Herden, es steigt von den Rebbergen hinab, es streift die Baumkronen und die Zeltfirste, es versammelt sich um die Feuer der Hirten –, fürchtet euch nicht –, und mir ist, als sehe ich auf beiden Seiten des Weges Scharen von Engeln und ich müsse Freudentränen weinen.

Habe ich einmal Mangel gelitten? Verlangten meine ermüdeten Augen nach neuen Horizonten? – Wie mich entsinnen: die Farben waren stumpf geworden, die Wolken spiegelten sich nicht mehr, die Segel hingen schlaff über bleiernem Wasser. Am Abend war kein Glanz auf den Hügeln, und die Bäume standen still im Schnee, ohne Schatten zu werfen. Wie lauschte man –, gab es noch Lieder? – und fand die Geigen ohne Süsse. Gebetmühlen, leere Seufzer, nichtige Klagen. Man ging vor das Haus, man wollte Peitschenknallen und Räderrollen, eine Staubwolke auf der Landstrasse, eine 117 unerwartete Begegnung. Aber die Ankömmlinge waren fürchterlich gleichgültig. Man tat gut, das Gesicht in blühenden Hecken zu vergraben und sich einzureden: »Wie die Blumen duften! Die Knospen springen! Die Früchte reifen!« und vergeblich umarmte man einen Baumstamm und betastete mit den Händen die rauhe Rinde. Vor dem nächsten Bauernhaus redete man ein Kind an. Die alte Frau am Brunnen war offenbar taub. Kalte Panik! – Und am Abend, untröstlich, spielte man auf dem Teppich mit seinem Hund. Er war zärtlich, er hatte bernsteinfarbene Augen.

Aber ich war satt, damals! Mein Verstand war ein abgerichteter Knecht. Als guter Förster wusste er im Wald die Stämme auszuwählen, die gefällt werden mussten, und zeichnete sie mit einem wohlgezielten Axthieb. Er verirrte sich nie. Wohin ich auch gehen mochte, immer fand er eine gerade Strasse für den Heimweg. Und alle Dinge konnte er mir beim Namen nennen. Er unterschied eine Fabriksirene von den Nebelhörnern der Dampfer, das Licht eines einsamen Gehöftes vom einsamen Licht der Sterne. Und er hatte 118 einen hochentwickelten Gerechtigkeitssinn. Nichts konnte ihn täuschen oder verführen.

Jetzt scheint mir, ich hatte mir einen faulen Knecht herangezogen. Dieser Schutz, den er mir angedeihen liess, war tödlich. Und die sorgfältige Auswahl der Wege! Und die praktische Ordnung der Dinge! – Soviel peinliche Meisterschaft . . .

Jetzt hat sie mich endlich im Stich gelassen. Wie sollten mir nicht die Augen übergehen, angesichts der Unschuld der neuen Erde? – Dieses ist namenlos –. Glück? Erfüllung? Vision der Wahrheit? Musik der Sphären? Himmlische und irdische Liebe? Vermählung, Jubel, Marter? Oh, marternde Angst! Mein aufgerissenes Herz, und ich finde kein Wort der Erlösung. Ich bin der Sprache nicht mehr mächtig. Erbarmen!

Ich habe mich rufen hören: »Warum hast du mich nicht mit Blindheit und Taubheit geschlagen!« – und doch habe ich noch nicht gelernt, zu sehen, zu hören –, und doch ist es nie genug, nie genug. – Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich in tiefen Schlaf falle. Es ist der Schlaf der Tiere. Keine Bilder, keine 119 Träume, keine Stimmen, keine Halluzinationen. Kein Abendgebet, kein Morgenstern. An die Brust der schweigenden Erde gesunken. Denn ich finde zurück –, wie weit ich auch fliehen mag –, und berge mein Gesicht in den Händen, die mir die Wunden schlugen. Einzige Wohltat . . . Schon bedroht vom Erwachen, beruhige ich mich: »du wirst nie wieder wach werden«, und versichere mich der schweren Süsse des Schlafes. Aber ein Trunk frischen Wassers genügt. Und noch einmal bereitet mein Herz allen Leidenschaften eine Stätte. Ich grüsse die Quellen, die Oelbäume, die Bläue der fernsten Hügel. Ich werde euch erreichen, noch bevor es Abend wird! Die fruchtbaren Götter Coelesyriens bleiben zurück. Gibt es andere Götter? Ischtar, Mutter der Aschenhügel, Jungfrau der Steinwüsten, die zwölf Passionen am Wege. Wer erwidert meinen Gruss und nimmt meine Gebete auf? Kuppeln, Medressen, Grabstätten, Tempel, euer Allerheiligstes ist mir verschlossen. Welcher Formeln soll ich mich bedienen? – Ich stammle –, und es ist gut, dass mich keiner hört.

Ich beginne zu begreifen –, ja, für die 120 Dauer eines Augenblickes begreife ich, dass meine Sprache nicht verstanden werden darf! – Ich will kein Gehör finden, meine Lieder sollen verhallen, keine Orakel sollen mir antworten, keine eleusischen Mysterien mir enthüllt werden, der Rauch meiner Opfer soll nicht aufsteigen. Keine Opfer mehr, keine Altäre, keine Hymnen –, ich nähere mich der Stummheit der Kreatur . . . Denn der Menschensohn ist noch nicht geboren. Weinende Engel verkündigen ihn –, und wir lauschen schweigend. 121

 


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