Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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II.

Diese Nächte sind endlos! Die Qual dieser Tage ist nicht mehr erträglich! Auf was habe ich, früher, gehofft, als ich die Morgendämmerung ungeduldig erwartete? – »Die Spannung – unseres Lebens eigentliches Element!« – Entrissen seiner Sphäre, entrissen unseren vertrauten Tröstungen, atmendem Antlitz, schlagendem Herzen, lieblich wechselvoller Landschaft, muss man sich endlich preisgeben den grossen Höhenwinden, die auch unsere letzten Hoffnungen in Fetzen reissen. Wohin sich wenden? Ringsum nur Kahlheit, basaltgraue Felsränge, lepragelbe Wüsten, tote Mondtäler, Kreidebäche und Silberströme, in denen die Fische gestorben abwärts treiben. Wohin? Oh, Ratlosigkeit, gelähmte Flügel! – Da dringt nicht einmal der Ablauf von Tag und Nacht in unser Bewusstsein, obwohl der Tag glanzvoll ist und schattenlos und die Nacht erleuchtet von kalten Gestirnen. – Wie das Unerträgliche beschreiben? Wie die Worte finden? Welche Krankheit hat mich befallen? – »Malaria-Fieber«, sagten sie in Teheran – 25 das ist viele Monate her. Die Anfälle wiederholten sich. Man gab mir Chinin und Atebrin. Man verbot mir, im eiskalten Teich im Garten von Farmanieh zu schwimmen. Längst hatte ich aufgehört, zu arbeiten, und hatte das Leben auf der Ausgrabung mit dem Leben der Gesandtschaft vertauscht – das wallende Staubmeer über unseren Ruinen, den kargen Granatapfelhain – mit den grossen, kühlen Gärten von Schimran. Man pflegte mich, man liess die Diener die alten Teiche von Farmanieh ausschöpfen, und man tötete die Moskitos mit Petroleum. Ich würde mich ganz erholen, sagte man mir. Ich hörte es, es sagte mir nicht viel. Viele Europäer in Teheran haben Malaria, man stirbt nicht daran. Die andere Krankheit bereitete sich vor, unsichtbar. Als ich mich nicht erholte, brachte man mich hier herauf, in das Lahr-Tal. Gute Freunde sind um mich. Die Luft ist frisch und stark, nur die Sonne tagsüber ist tödlich. Und es gibt keinen Schatten. Wir sind hoch über der Baumgrenze. Wir sind an der Grenze der Welt. Ach, unsere einsamen Zelte!

Was soll aus mir werden? –

26 Nein, in dieser Höhe hat man kein Malaria-Fieber. Es geht mir besser. Keine Abende mehr, eingekreist von der Krankheit, keine Ausrede, keine Erklärung. Nichts mehr zu bekämpfen: wie ich damals, in Farmanieh, die Furcht bekämpfte, die Kälte in den Gliedern, die peinigenden Schmerzen im Rücken. Wie der Frost mich anpackte und schüttelte. Wie ich mich in die Decke aus schwarzem, glattem Ziegenhaar hüllte, während vor dem niedrigen Fenster die Hitze schwer in den Büschen hing und draussen, ausserhalb der Gartenmauer, die Luft unbewegt über der weissen, versengten Ebene – kein Gewitter sammelte sich am stahlblauen Horizont. Ich lag und wartete auf das Fieber. Es löste die Kniekehlen und linderte die Schmerzen im Rücken, es hüllte mich ein und nahm mir den Atem, es hämmerte in den Schläfen, das Moskitonetz über meinem Bett löste sich auf, ich sah lichten Nebel und dann nichts mehr. Ich lebte nur noch, um mit Anstrengung die Wellen des Fiebers zu atmen. Es verwandelte sich, wenn ich ganz erschöpft war, in Schlaf.

Damit ich gesund werde, brachten sie 27 mich in dieses Tal. – Auch in diesem Land kann man leben – sagen sie mir. Und wir leben, gewiss, ich lebe noch. Am späten Nachmittag, wenn die Schatten den Fluss erreichen, gehen wir fischen. Kerim, ein alter Perser, begleitet mich. Von ihm lerne ich, wo die Forellen spielen und wo sie sich verborgen halten, im klaren und stillen Wasser, unter den Sandbänken in dämmeriger Kühle. Ich lerne die Schnur auswerfen und der bunten Fliege folgen, die langsam davongetragen wird, tanzend. Wenn die Schnur sich strafft, die Fliege in den Wellen untertaucht, möchte ich die Angel fahren lassen. Aber ich ziehe die Schnur ein, darauf bedacht, den Fisch zu halten, ohne dass meine Rute bricht. – Töten, denke ich – man muss ihn töten –, und warte angewidert, bis Kerim der Forelle die Kiefer geöffnet, das Genick gebrochen hat. Ringsum schon die Nachtstille, gurgelndes Wasser. Der Alte hockt neben mir am Uferrand, rollt Zigaretten, lässt in der hohlen Hand ein Streichholz aufflammen. Das leise Knistern, die winzige Glut wecken den Wunsch nach Wärme. Ich schaue auf und begegne dem Himmel, 28 einem Meer heller Wolken. Es ist spät geworden. Der Fluss strömt kalt, schwarz und schnell. Er scheint zu steigen und sich auszubreiten, die Hügel weichen zurück, die Uferbänke werden lautlos überflutet, und sanft treten in der Ferne Gipfel und Kämme hervor, Weltende-Kulissen. Ob die Steinböcke noch über die Geröllhalden fliehen, ob sie ruhen im Schutz der silbergrauen Felsen, hoch oben? – Ach, wunderbare Verwandlungen dieses Landes – das Spiel seiner Abendfarben mündet jetzt ein in die majestätische Gelassenheit der Nacht. Durch den weiten und stillen Talgrund rinnt der Fluss, der sich an keiner Böschung mehr stösst. – Weite, Weite, bis hinab zu den Ebenen, deren Hauch zu dieser Stunde nicht mehr erschreckt, und der drohende Leib des Demawend ist ein schwebendes Gestirn geworden. Die Weiten vermählen sich, Zugvögel schwanken schlafend im Wind über der Kaspi-See, über den Abstürzen des Persischen Golfes, über allen Wassern. Ringsum, in unserem Tal, rauchen die feuchten Wiesen. Und der Fluss, ehe unsere Zigaretten zischend versinken, wird einen Augenblick lang zu 29 einem Spiegel unermesslicher Tiefe. In der zurückgekehrten Stille schlägt mein Herz langsam. – Oeffnet die Erde ihren Schoss? Versinkt dieses Tal in ihrer Umarmung wie unter den Fluten eines Meeres, die sich wieder schliessen? – Wir sinken, sinken – oder sammelt sich nur in mir alle Trauer, die des vergangenen Tages, die von morgen, sinkt und füllt mich bis zum Rand? Oh, um eine gelassene Stunde!

Aber was nenne ich Trauer, was ist Gelassenheit?

Ich kann die Stille nicht mehr vom Rauschen des Flusses unterscheiden. Was sich in mir sammelt, ist Schweigen. Und ein eisiger Wind fährt durch die nassen Kleider – frierend, plötzlich erschöpft, folge ich Kerim durch das knietiefe, pfadlose Gras. Es ist noch weit bis zu unserem Lager; aber wir können es im Auge behalten: den roten Schein des Küchenfeuers, hinten, im Schutz der Felsen, und die Umrisse der Firste – die Lampen in den Zelten sind schon angezündet. Wir gehen schneller.

Mein Diener Mahmut hat heisses Wasser gebracht und in die Wanne aus Segeltuch 30 gefüllt. Ich sitze auf dem Feldbett, reglos, mit gekrümmtem Rücken. Im Rücken sitzt die Erschöpfung und breitet sich aus. Ich sollte aufstehen, die nassen Kleider ablegen, mich waschen, mich warm anziehen. Ich sollte mich beeilen; sicher warten sie drüben im grossen Zelt auf mich. Ich sollte aufstehen, mich wehren. Kämpfen nach rechts und links! – Der Gedanke trifft mich: gegen was kämpfen? Ich krümme mich noch mehr zusammen, stütze den Kopf auf die Hände, balle die Hände zur Faust. Flau ist das, kraftlos. Die Hand fällt schwer auf die Knie. Ich kann die Faust nicht mehr ballen. Ich schaue in die kleine Flamme, die im Glaszylinder der Petroleumlampe flackert. Die Augen brennen. Ich habe den ganzen Tag nichts anderes getan, als in das Licht zu schauen. Die silbergrauen Felsen blendeten. Die Sonne war ein weisser Feind. Ihre Strahlen sammelten sich zu unbarmherzigen Pfeilbündeln. Unter ihnen zerbrach das Flusswasser, wurde zertrümmert wie eine Glasscheibe. Legte man sich ins Gras, um sich vor dem Licht ringsum zu schützen, so war die Erde trocken, und aus der Dunkelheit, 31 in die man das Gesicht presste, stiegen bunte Kugeln auf. Man lag eine Weile still und horchte. Da vernahm man weithin ein leises Rascheln von abertausend Füssen: die Heuschrecken. Gepeinigt warf man sich auf den Rücken: da begegnete man dem Himmel, man brauchte nicht einmal die Augen zu öffnen. Furchtbare Qual! Dieser Himmel ist nicht einmal feindlich, nur zu gross! Hoch und weiss in der Mittagsglut, ohne Wolken, ohne Vögel, ohne Wind. Eine goldene Kuppel, ein Bleidach. Man sage mir nicht, es gäbe nur einen Himmel, wie es nur einen Mond, eine Milchstrasse, ein Sternensystem gibt. Der Himmel dieses Landes, der persische Himmel hat nichts mehr gemein mit dem vertrauten Himmel meiner Kindheit. Der war freundlich über Hügel, Wiesen, Seen gebreitet, die seine Bläue tranken, er spielte mit dem Laub der Bäume, seine sanften Winde brachten Kühle und bewegten das Gezweig. In der Nacht hob man die Augen zu seinem majestätischen Zelt, da leuchteten Sterne und schwebten zarte Wolken voll tröstlicher Ahnungen. Aufatmen! Geborgenheit! Die Wälder rauschten . . .

32 Aber hier? Hier?

Man kann den Himmel nicht von der Erde trennen, die er versengt hat. Unten in der Ebene umarmen sie sich an einem Horizont von Staubgarben. Die Erde erstickt unter seinem Aufgebot an Flammenreitern, die dahinfegen, ein Meer von gelbem Sand vor sich her treibend. Gazellen bleiben auf der Strecke zurück, die schönen Augen gebrochen. Land ohne Gnade! – Ich bin in dieses Tal geflüchtet, es liegt am Ende aller Wege, es ist von der Welt getrennt durch hohe Gebirgszüge, es ist umgürtet, behütet, ein friedliches Hochtal, seine Nächte sind kalt. Der Demawend ist sein himmlischer Wächter. Schafherden weiden, sie haften wie Flaum an den Hängen. Kamele schreiten frei über Felsbänder, Fabeltieren ähnlich. Schwarze Ziegen mit strotzenden rosa Eutern trappeln durch den grasigen Talgrund. Am Abend fegen die Soldaten des Schahs über die Kiesbänke, jagen die Pferde auf, die sich, eine unermessliche Herde, Rücken an Rücken, in den Fluss stürzen. Das Tal widerhallt vom Rauschen des Wassers; über den gedrungenen, gebäumten Hälsen der 33 Pferde stehen die Mähnen wie Windfahnen. Die Pferde erreichen das andere Ufer, tauchen aus der Flut, packen mit den Hufen die Böschung an, stürmen in gewaltigen Sätzen hinauf, schütteln sich wiehernd, Silberregen umsprüht sie. – Ein glückliches Tal, reich an Gras, Wasser und Fischen, fern von den Städten, fern von den begangenen Strassen, fern von den Opiumhöllen. Das Fieber vergeht, verdünnt sich in den Adern, versickert. Man ist rings umgeben von der grossen Gelassenheit der Natur. – Nicht einmal feindlich, nur zu gross! – Und immer kein Friede? Neue Fieber, neue Unruhen, neue Erschöpfungen? Die Augen brennen, das Herz hämmert, ich kann die Hand nicht zur Faust ballen? Ein Tag ist überstanden –, und immer kein Ausruhen? Konnte ich die Lampe löschen! –

Ich bin hungrig, denke ich. Und ich friere. Im grossen Zelt steht vielleicht schon das Abendessen auf dem Tisch. Das Wasser wird kalt. So denke ich, und meine Augen verlassen die klein gewordene Flamme und wandern im Zelt umher und haften an den vertrauten Gegenständen – es sind ihrer 34 nicht viele –, wie um sich zu vergewissern. Das Zelt ist geräumig, die senkrecht gespannten Wände sind sorgfältig mit dem Leinentuch verbunden, das den Fussboden bildet. Darüber sind zwei Teppiche und ein Kelim ausgebreitet. Den Kelim habe ich von Bakhtiari-Nomaden in der Nähe von Persepolis gekauft, er ist gelb mit roten und schwarzen Mustern und wirkt heiter. Auch die Wände sind gelb, in halber Höhe sind bunte Schnüre gespannt, daran hängen ordentlich aufgereiht meine Sachen: Reithose, ein paar grob gestrickte Pullover, wollene Hemden, Kniestrümpfe, daneben der Rucksack, eine Thermosflasche, ein Taschenmesser an langer Kette, Angelschnüre, ein Seil, eine Taschenlaterne. Neben dem Ausgang der Schlafrock aus grauem Flanell, der fleckige Kamelhaarmantel. Auf dem Feldbett liegt eine schwere Decke, schwarz und weiss gestreift, aus Ziegenfilz. Ausser dem Feldbett gibt es einen Stuhl und den Tisch, darauf die Lampe, Schreibzeug – die Tintenflasche ist halb geleert –, ein Stoss weisses Papier, ein paar Bücher. Genau gesagt, sind es fünf Bücher: ein dicker Band 35 »Cambridge Ancient History«, ein Büchlein mit rotem Deckel »Pottery of the Near East«, vom British Museum herausgegeben – die Briefe Diotimas an Hölderlin, Marcel Brions »La Résurrection DesVilles Mortes«, und ein englischer Roman, den ich nicht gelesen habe. Die Auswahl dieser Bücher ist nicht zufällig, sie verändert sich nicht von Tag zu Tag und wird nicht bereichert. Es sind immer die gleichen vier Bände, in denen ich blättere, und der fünfte Band, den ich liegen lasse. Vielleicht habe ich einmal, ganz am Anfang, als ich meine Siebensachen für die Reise zusammenpackte, diese Bücher zufällig zur Hand genommen und ausgewählt. Ich hatte keinen Platz zu verschwenden und beschränkte 36 mich daher auf fünf Bände. Uebrigens lese ich hier oben selten, die Auswahl hatte also keine grosse Bedeutung. Aber jetzt sind die Bücher da, in meinem Zelt – ich denke, die Bibel in einem Bauernhaus nimmt einen ähnlichen Rang ein –, und jede Seite ist mir unersetzlich wie das Hemd, das ich trage, wie die Tabakspfeife in meiner Tasche. Gegenstände haben in dieser Einsamkeit eine neue Bedeutung. Ihr Dasein bestätigt mir das meine, ich vergewissere mich ihrer, um sicher zu sein, dass ich noch da bin, ein isoliertes Lebewesen, ein Mensch, und dass ich einen Namen trage, eine Herkunft habe, auf irgendeinem Weg bis hierher gelangt bin.

Jetzt sehe ich meine Hände an, die auf meinen Knien ruhen: meine Hände (aber wie leblos, leblos . . .) –, jetzt möchte ich einen Spiegel haben: »Das bist Du, noch nicht entfremdet, nicht verloren« – breitet sich nicht Wohltat aus? – Ach, nur die Kühle der beginnenden Nacht. Die Pferde lagern im tiefen Ufergras, die Schafherden sind im Schlummer an die Halden gesunken, die Murmeltiere verkriechen sich in ihren Höhlen, Kamele lassen sich auf 37 die Knie nieder. – »Nur der Mensch . . .« aber auch die Nomaden schlafen längst in ihren schwarzen Zelten.

Da stehe ich endlich auf, vertausche meine nassen Kleider mit warmen und trockenen, blase die Flamme im Glaszylinder aus. Draussen muss ich achtgeben, um nicht über eingerammte Pflöcke und gespannte Seile zu stürzen. Durch die Spalten unseres Wohnzelts schimmert Licht, ein Teppich hängt vor dem Eingang. Ich kehre der Nacht den Rücken, Wärme empfängt mich, Behaglichkeit, ein Glas Whisky, Zigarettenduft. Ich trinke, ich sehe die Freunde an, in ihren bequemen Sesseln ausgestreckt, braun gebrannt, frisch rasiert. – »Wieviel Forellen heute?« – Einer, in brauner Sammetjacke, stopft seine Pfeife. Ein anderer füllt die Gläser. – »Und Du?« –

Und ich? »Wenn ihr so weitermacht«, sagt Marjorie, »dann haben wir in einer Woche keinen Gin mehr.« Sie lacht, ihre Stimme ist hell und freundlich. Blauer Rauch steigt auf: vom Mangalbecken, von unseren Zigaretten. Die Nachtkälte dringt nicht durch die gut verschlossene, doppelte 38 Zeltwand. Der Tisch ist gedeckt. Gleich wird Ahmed das Essen bringen. Suppe, gebratene Forellen. Es ist gut, Gewohnheiten zu haben, eine Tageseinteilung, ein warmes Haus. Nur die Grasbüschel, die man durch den Teppich hindurch unter den Füssen spürt, erinnern daran, dass unser Haus ein Zelt ist. Die Engländer verstehen es, sich überall einzurichten, überall ihr heisses Bad, ihren »ersten Tee« im Bett vor dem Frühstück und ihren Nachmittagstee um fünf Uhr zu haben. Am Abend zieht man sich um, sogar wenn man in einem Zelt lebt, zweitausendfünfhundertdreissig Meter über dem Kaspischen Meer. Im kleinen Hafen Bushire am Persischen Golf traf ich einmal, abends zwischen acht und neun Uhr, einen jungen Engländer, der ganz allein an der schmutzigen Theke des Hotels lehnte. Er trug ein tadelloses weisses Dinnerjacket. Wir waren die einzigen Europäer im Raum, er stellte sich vor: Angestellter der »Anglo-Iranian Oil Company« – und bot mir einen Wermut an. Es herrschte eine fürchterliche Hitze. »Und Sie sitzen hier, ganz allein?« fragte ich, ohne meinen Gedanken auszusprechen, dass es ein wenig 39 lächerlich sei, unter diesen Umständen, sich umzukleiden und die Cocktailstunde einzuhalten. »Es ist erträglich«, antwortete mir der junge Mann, »nur das Bier ist scheusslich, man bekommt kein sauberes Eis.«

Hier oben im Lahr-Tal brauchen wir kein Eis, das Wasser des Flusses tut denselben Dienst. Mit dem Gin müssen wir sparsam umgehen. Die Nomaden bringen uns Holzkohle, die in den Wäldern von Mazanderan gebrannt wird, ferner frische Schafmilch, manchmal ein Lamm. Ausserdem haben wir ja täglich Forellen. Wir leben gut, denke ich. Mir scheint, ich sehe dies alles heute abend zum erstenmal. Dieses Zelt, unser Haus. Die Teppiche, warm und weich über das Gras ausgebreitet, wurden von den Frauen der Bakhtiari, der Kaschgai, der Turkmenen geknüpft. Diese Gläser aus dem Basar von Teheran stammen sicher aus Japan. Der Gin wurde in England destilliert. Die Holzkohle glimmt und verbreitet Wärme. Maultiere trugen sie bis hier herauf, über abschüssige Gebirgspfade. Wenn wir keine Holzkohle mehr haben, werden wir 40 trockenen Mist brennen. Wir werden leben, leben – jeder, wie er es vermag. – Warum zittere ich? – Das Licht der Petrollampen ist angenehm, man gewöhnt sich daran. Unsere Stühle, zusammengefaltet, sind nicht grösser als ein Regenschirm, man kann sie leicht an den Seiten eines beladenen Maultieres festbinden, und doch sind sie bequem wie Klubsessel. – So gut haben wir uns eingerichtet! Ahmed bringt dampfende Schüsseln, gewärmte Teller. Du lieber Gott, wie hungrig ich bin!

Draussen reisst der Nachtwind an den Seilen unserer Zelte.

Dann der aussichtslose Schrecken der Nachtstunden! Wieder allein, beginne ich mit meinen Schritten das Zelt auszufüllen, vom Feldbett zum Tisch, der Wand entlang bis in die Ecke, da kann man das Gesicht verbergen. Den Eingang vermeide ich lieber, ich habe ihn fest zugeschnürt, den Wind ausgesperrt. Jetzt klatscht er gegen die Wände, sie wölben sich stöhnend wie Segel. Der Wind pfeift und sammelt seine Scharen. Hierher! Das Zelt wankt, der Boden wankt. Der Talgrund ist ein Schiff, Möwen kreischen um die Maste. Ich 41 lausche. Dann gehe ich wieder, zwei Schritte bis zum Tisch, drei der Wand entlang, und je länger ich gehe, um so leichter, um so befriedigender wird es – bald werde ich laufen, bald mich wie ein Kreisel drehen, mir wird nicht schwindlig. Hinstürzen wie ein Baum! Oder erschlagen werden, zugedeckt von Zweigen . . .

Man hat mich einmal eingesperrt. Gitter vor dem Fenster, die Türe fiel ins Schloss und hatte keine Klinke. Aber da wartete ich darauf, wieder befreit zu werden. Da malte ich es mir aus: frei über Wiesen und Hügel gehen. Meine Ungeduld hörte draussen die Welt atmen, die Wälder rauschen, tausend Segel sich blähen, und alles war mein, gehörte meiner Hoffnung. – Einmal war ich krank. Ich hatte Fieber und war durstig. Da träumte ich eine überströmende Traubenpresse. Ich trank, trank, und war unersättlich, und schlief der Genesung entgegen. Habe ich nie einen Menschen geliebt? Kann ich mich an keinen Namen erinnern, kann ich kein Gesicht beschwören? Oh, ich kannte die meerweite, meergleiche Täuschung, ich habe mich festgehalten an den geliebten Schultern, ich habe 42 die geliebten Hände unter meinem Nacken gefühlt, auf meinen Augen den geliebten Mund. Umschlungen sind wir hinabgestürzt bis auf den Grund der Einsamkeit, und jubelnd stiegen wir wieder auf. Als Kind, in den Sommernächten, konnte ich nicht schlafen vor Ungeduld. Ich schlich mich hinaus, da war schon Morgen, und was für ein heller, wundersam taufrischer Morgen über den Wiesen! Im Kirchturm schwangen die Glocken . . . Ich habe damals meiner Sehnsucht ragende Ziele gesetzt, ich habe meinen Schmerzen Namen gegeben und Lieder gesungen. Meine Liebe war wie eine Glocke in der Dämmerung, und wenn ich hasste, traf ich den Feind aus ungeteiltem Herzen. Für meine Zweifel hatte ich Fragen bereit, meine Angst begegnete einer geflügelten Tapferkeit. Ich wurde nie müde.

Was soll sich, seither, verändert haben? Bin ich nicht derselbe, ich, ungeteilt, die Welt mir gegenüber?

Damalsgesternmorgen? –

Ja, gestern noch. Nach dem Frühstück nahm ich Papier und Feder und die halbgeleerte Tintenflasche, rückte den Tisch 43 unter das Sonnendach vor dem Zelt, begann zu schreiben. Der Wind, noch kräftig in der frühen Morgenfrische, stieg die Felswand hinab, ich musste das Papier mit einem Stein beschweren. Der Fluss, ein klares Gebirgswasser, munter über Steinen, voll tanzender Sonnenflecken. Gegen Mittag wurde die Sonne weiss, unerträglich. Ich zog mich aus, liess mich den Fluss hinabtreiben, hielt mich an der Böschung und an den glatten Kieselsteinen fest; es war ein lustiger Kampf. Nachher musste ich zurücklaufen durch das hohe, knisternde Ufergras. Harte Stauden schürften meine Haut auf. Die Sonne legte sich schwer auf den Nacken. Die Augen zu einem schmalen Schlitz geschlossen, immer noch geblendet, lief ich, stolperte ich, bis ich endlich den Zeltschatten erreichte. Aber die Luft im Zelt war dumpf, erstickend. Ich träumte nachmittags, auf dem Feldbett ausgestreckt. Ich träumte, ich könne die Augen nicht mehr öffnen, die Lippen nicht mehr bewegen, ich sei gelähmt. Als ich aufsprang, war es fünf Uhr. Während wir im grossen Zelt Tee tranken, wurde das Unbehagen teuflisch. Ich war froh, als Kerim mit der 44 Angelrute kam, um mich abzuholen. So wurde es Abend. Ja, laufen über Steine, die Hände in den Dornbüschen, den Nacken gegen die wuchtige Sonne gestemmt – die Felswand hinaufklettern auf den Spuren der Steinböcke, die Sohlen brennen, die Knie zittern, nirgends Schatten! Der Himmel ein weisses Feuer! Tief unter mir spielende Fohlen, hämmernde Hufe, brausendes Wasser, das über Klippen stürzt, sprühende Kühle aussendend. Zurück zu den Zelten, die fest verankert auf der grünen Uferbank stehen. Zurücktauchen ins Leben!

Das war noch gestern. Was soll sich seither verändert haben? Ich wurde nicht gefragt, ob ich den Ablauf des langsamen Tages überstehen wolle. Kein Engel begegnete mir auf dem versengten Talboden, kein Antlitz stand hinter dem Dornbusch. Es war Leiden, Einsamkeit, Fieber in den Adern, kalter Schauer des Gebirgswassers unter der Haut, es waren Pfeilbündel, was weiss ich! – Eine Legion von Feinden, ein Höllenkonzert ihre Angriffe. Und doch lebte ich! Ich musste mit bis zur letzten verrinnenden Minute, bis zum letzten 45 Herzschlag. Da lief ein Beben der Erschöpfung durch das Gras und bewegte die Halme. Ein Pferd erhob sich von den Knien, bog den Hals zurück und stiess ein Wiehern aus, das von den Felswänden aufgefangen wurde wie Trompetenstösse . . . Signal zum Aufbruch?

Aber es ist Nacht. Eine Sanduhr an der Wand. Liegen, den schmerzenden Rücken ausstrecken, die Decke bis unter das Kinn gezogen. Das hohle Knattern dieser glatten, steifen Decke aus schwarzem Ziegenhaar ist mir längst vertraut, es ist mir unentbehrlich geworden. Zum erstenmal hörte ich es in der türkischen Stadt Konya, in einer Winternacht. Im eisernen Ofen brannte ein Feuer, aber die Stube wurde nicht warm. Die Wände des Gasthofes waren so dünn, dass der Wind hindurchwehte und die seidigen Haare die Decke bewegte. Es sah aus, als glitten Schatten über das Bett. Konya, Stadt der zartfarbigen Moscheen und Medressen; Schnee lag auf den Kuppeln. Man müsste sich erinnern. Man müsste zurückgehen, Schritt für Schritt, dann würde man vielleicht den Anfang wieder finden. Man müsste Namen 46 beschwören, Gesichter anrufen, Städte aus dem Schlaf wecken. Man müsste Posaunenbläser aussenden, vor die Mauern und Tore von Bagdad, Jericho, Hama, Beyrouth, Aleppo, Lattakieh, Jerusalem, bis die Mauern zusammenstürzen. Zurückgehen bis zum Turm von Ur, der Zikkurat, der mächtigen Stufenpyramide, die ich bei Sonnenaufgang aus der Wüste emportauchen sah. – Warum schlafe ich nicht? – Aber ich liege reglos, das Gesicht lastet schwer auf dem Lederkissen. Sind es die Erinnerungen, träume ich, suche ich im Traum? – Welche Anstrengung, was für ein ungeheurer Aufwand an Kräften, auf eine Spur geworfen, die hineinführt in ein Meer von gelbem Staub!

Aber es ist nutzlos, sich aufzulehnen. Ich kann den Wind nicht zum Schweigen bringen und den Fluss nicht aufhalten, ich kann den Zeltwänden und diesem Tal nicht entgehen, ich kann mir keine einzige Stunde ersparen.

Ich warte.

Auf einen anderen Tag? 47

 


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