Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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VIII.

Aber ich lerne furchtbare Ermüdungen kennen. Manchmal, wenn ich einen Hügel erklimme, muss ich atemlos Halt machen, meine Füsse tragen mich nicht mehr, und die Dunkelheit kommt zu früh. Dort, der gelbe Streifen am Horizont, am erkaltenden Himmel –, welche Landschaft empfängt seine letzten Flammen? – Noch ehe ich einen Blick tun konnte, wird sie versinken, für immer. Und die Schiffe auf dem Grund des Meeres, die begrabenen Städte, die Paläste unter dem Wüstensand –, meine Ohnmacht erstickt mich! – Und die Zeit verrinnt, ungenützt –, jede Stunde mit ihrer einzigen Erkenntnis, die ich versäumt habe. Verlorene Gesichte, verschwendete Hoffnungen, soviel vergebliche Qual –, und ich bäume mich auf: schneller! – die galoppierenden Pferde, die fliehenden Wolken einholen! – ach, in der Morgendämmerung die seligen Inseln, ihre Ufer gebadet in Licht! – Wo erwarten mich die grossen Tröstungen –, wo endlich?

Ich bin allen Demütigungen ausgesetzt. 122 Das kleinste Hindernis wird mich zu Fall bringen. War ich vermessen? – War es zu früh, die himmlischen Scharen zu begrüssen, die Vision der Zukunft? – Meine Erschöpfung kann kaum den Tag überstehen! Und ich mahne mich zur Vorsicht: »Dämpfe deinen Jubel. Lege deiner Ungeduld Zügel an. Beschwichtige dein Herz. Lass ruhen . . .« Aber was hilft mir alle Voraussicht? – Inzwischen hat der Schmerz die Dämme eingerissen und ist uferlos geworden.

Uferlos: die morgigen Wege überflutet. –

Ich muss lernen, auf dem Wasser zu gehen und mit unverletzten Füssen das Feuer zu durchschreiten. Ich lerne, an Wunder zu glauben: das Wunder ist mein tägliches Brot. So nur harre ich aus, so nur ertrage ich es, ohne Hoffnung und ohne Voraussicht zu sein. Der Tag hebt erst an: Entzückungen auf allen Fluren.

In diesen Ländern durchwandere ich alle Zeitläufe. Die Trennungen der Jahrhunderte sind aufgehoben, die alten Denkmäler werden zu Bildern des unaufhörlich Wiederkehrenden, und die flüchtigen Spuren der Stunde sind Zeichen einer ewigen 123 Uebereinkunft. Könnte man auf solche Weise die Gesetztafeln wiederfinden? – Welche Entdeckungen sind mir noch zugedacht? – Geduld! – Manchmal weiss ich nicht, ob ich einem Martyrium ausgeliefert wurde, oder einer namenlosen Freude. Die Fülle bestürzt mich, ich kann keine Auswahl mehr treffen, ich irre durstig in den Weinbergen und schlafe unter Dattelpalmen, die mich mit ihren Früchten überschütten. Ich berühre alles: Gras, Rinde, Schale und Kern, die rauhe Wolle der Schafe, den in der Sonne gebackenen Lehm, die Kühle des bauchigen Tonkruges, die flachen Brote, die ungesalzen und warm aus den runden Oefen kommen, das zischende Eisen, die Löwenhäupter aus Stein, die blauen Perlen, die Amulette –, alles mit ungeteilter Zärtlichkeit. Ich halte den Wind in den Büschen und neige mich über die dunkle Brunnentiefe. Keine Erinnerung knüpft Fäden, kein Name Bekanntschaften, und das Licht dieser gesegneten Tage ist so klar, dass sich kein Schatten zwischen mich und die Gegenstände schiebt: ich begegne ihnen unvermittelt. Die Schwere einer Felswand stürzt 124 auf mich –, sie ist zu hoch, mein Auge kann sie nicht ermessen. Ich gehe weiter, ein Tal öffnet sich, die Abhänge zur Linken sind von Terrassen gestreift, zur Rechten viereckige, ährengelbe Felder, eine zusammengedrängte Herde von Lehmhäusern, darüber eine weisse Moschee, gekrönt von einer blaugrünen Kuppel. Den Talausgang verschliesst eine weisse Bergwand. Der Himmel ist durchsichtige, zerfliessende Helle.

Und ich schaue –, Versunkenheit, schmerzlose Stille –, und höre die Sphären kreisen. Wunderbares Ineinander von Lichtstreifen, die mit dem Abend geboren wurden und durch das unbefleckte Gewölbe geistern, unschuldig wie junge Tiere, unheimlich anmutig wie Nebeltänze am Waldsaum, schnell und sprühend wie Feuerkugeln. Die Bergwand ist ein eherner Schild geworden, auf seinen Rand prasseln die Blitze der Einsamkeit. Meine ermüdeten Augen kehren in die versammelte Talnähe zurück, da sind die Abhänge in Dunkelheit getaucht, die Terrassen erloschen, die Felder in Schlaf gesunken –, die weisse Moschee –, eine blasse 125 Mondsichel –, der Nachtfrieden ist sanft wie Tau.

In einer frühen Stunde vernehme ich den Gesang der Noriahs und begegne den Ersten Menschen. – Ich komme aus der Steinwüste, aus einer langen Dämmerung –, die Sonne war eine Larve und lag unbeweglich an der Scheide zwischen Tag und Nacht. Kälte und kraftloses Licht hielten die Ebene in bleierner Umarmung. Steinwüste: das ist armes Land, worin welke Grasbüschel beständig nach Atem ringen und ihre Samen in den Wind streuen wie durstige Rufe . . . Zuletzt wand sich mein Weg über nackte Felsplatten, die den Rücken von Schildkröten glichen. Im Osten, wo noch immer der Sonnenball leblos verharrte, wusste ich die Welt ungeboren, unter Sandfluten. – So lange dauerte die Reise im Zwielicht –, mir wollte der Mut sinken. – Da hörte ich von weit her, aber deutlich und unmissverständlich das Singen grosser Wasserräder: ein Balken, der sich mühsam um seine Achse dreht, das Knarren hölzerner Speichen –, und gurgelnde Flut, aus der Flusströmung gefangen und in klappernde 126 Schaufeln geschöpft, emporgetragen im Schwung des mächtig kreisenden Rades, ausgeschüttet und in geglätteten Holzrinnen den Kanälen zugeführt, den Feldern, den wartenden Gärten. Ein ganzes Netz von Kanälen verteilt sich über die grünende Erde, da erklingt die Musik des Wassers wie liebliches Saitenspiel!

Und die serene Heiterkeit des Morgens . . . Lämmer tummeln sich auf einem Wiesenstreifen, wollige Schäferhunde umkreisen die Herde, die langsam zu den Hügeln zieht. Die Hirten in grossen Mänteln aus steifem Filz und die Bauern hinter dem Stachelpflug, der, von einem Ochsenpaar gezogen, einen dünnen Saum schäumender Schollen wirft. Zum Flussufer steigen unverschleierte Frauen hinab, den Nacken gebeugt unter dem federnden, von zwei Eimern beschwerten Joch. Andere, den Tonkrug auf dem Haupt, eine Hand in die Hüfte gestützt, wandeln auf den Pfaden zwischen Bananenblättern. Und überall das Gespinst silbriger Adern, so weit der Blick reicht –, auf einem entfernten Acker geht ein Mann in weissem Tarbusch und treibt mit rauhen Rufen seine Esel an. Der breite 127 Schatten der Noriahs bewegt sich langsam über die Felder wie der Zeiger einer Sonnenuhr. Schon nähert sich die Erschlaffung der Mittagsstunde, die sieben Aehrengarben ruhen unter einem staubigen Feigenbaum. Jenseits des Flusses, auf den Hügelstufen, liegt, von kobaltenem Licht umflossen, die weisse Stadt.

Wundere ich mich, dass meine Augen manchmal blind werden möchten und Einkehr halten in ein regloses Mondtal? – Aber bald jage ich Schakale in den Wüsten Mesopotamiens, wo die alten Kanäle versanden, die alten Dämme eingestürzt sind, die Flüsse ihren Lauf verändert haben und die Städte, die sie einst an ihren Ufern 128 speisten, in Staub zerfielen und versanken. Ich schiesse Wildenten in den Sümpfen von Birs Nimrod, ich ruhe im Schatten des Babylonischen Turmes, und am Morgen betrete ich die erstorbenen Gassen, steige auf den zerfetzten Hügel, wo einst Burg und Tempel thronten, und halte vergeblich Ausschau nach den hängenden Gärten. Da ist die mit Gold gepflasterte Strasse der Prozessionen: Gras überwuchert die Fliesen, darauf schläft ein Hirtenknabe, der Kopf ruht auf dem Rücken seines Lammes. Knabe Daniel, schau auf –, dass ich der Unschuld deiner Augen begegne! – Ich bin schon zu lange in diesem Ort geblieben, der die sieben Wunder der Welt versammelte und die Pracht der Sünde. Einst ging der Held Gilgamesch über die Rossweiden, die Schenkel mit Erz umkleidet, und die Menschen wohnten in geflochtenen Hütten aus Stroh und Schilf. Abel hütete die Herden seines Vaters und zündete sein Opferfeuer an. Und bärtige Engel wachten an den Löwengruben. Aber seitdem der junge Abel erschlagen wurde, brennt das Mal des Bruderverrates auf unseren Stirnen. Unauslöschliches Vermächtnis! 129 Jakob hinterging Esau, die Elf verkauften Josef, die Heimtücke geht um im Schutz der Nacht und malt die Türpfosten rot. Sucht die Schuldigen! Soldaten, schwärmt aus und erwürgt die Kindlein von Bethlehem! Richtet die Kreuze auf, und dass ihr mir Keinen verschont . . . Im Namen der Gerechtigkeit, im Geiste des Erbarmens, denn wir sind alle schuldig voreinander, Hörige des ersten Sündenfalls. Fragt eure Pharisäer, eure Priester, Richter, Schriftgelehrten: so nur erklären sich alle Frevel. Und die ungesühnten Heerscharen unserer erschlagenen Brüder ziehen vorüber . . .

Welches Entsetzen breitet sich aus? – Pharisäer, welche Versöhnung bietet ihr, mit welchem Gott, um welchen Preis? – Ich hatte vergessen, vergessen die furchtbare Handelseinigkeit der Welt! Knabe Daniel, schau auf –, du und ich, wir wollen uns nicht fürchten. Der König von Babylon hat sein Recht verloren, der Stein Hammurrabis liegt in Trümmern, Gras wuchert in Tempelhöfen, die Prinzessinnen schlafen neben den Schuldknechten, die Tore der Gefängnisse stehen offen, und du stiegst unverletzt aus der Grube. Fürchten 130 wir uns nicht, fürchten wir uns nicht! Ach, die Verwirrung der Sprachen, die Pracht der Sünde! – David, Deine Stimme vermag das Herz des Königs nicht mehr zu rühren . . .

Auf was lausche ich noch? – Ueber diesen Ruinen herrscht eine unmenschliche Stille, und draussen weht der Wüstenwind, beständig wie Flut und Ebbe, den gelben Sand über die letzten Wälle. Ich muss den Staub von den Füssen schütteln, mich hat Furcht angerührt –, welche Furcht? – Vor einer längst verdorbenen, längst in Asche gesunkenen Welt? Was kümmert mich der Flammenpfuhl von Babel. Ich trete die Reise nach Süden an, dort harren Königsfriedhöfe, Gräber, bis zum Rande gefüllt mit herrenlosen Reichtümern. Es wird eine Lust sein, im Gold zu wühlen, das die Diebe genarrt hat, und die Edelsteine, Perlen, Halsbänder, Arm- und Stirnreifen, die Schlangenhäupter kostbarer Spangen durch die Hände gleiten zu lassen. Die Kette aus Lapis Lazuli, für die bleiche Schönheit einer Prinzessin bestimmt –, unnütz wie ein Rosenkranz, und das diamantene Diadem, das keine 131 gekräuselten Locken mehr schmückt: ich werde mich berauschen an der Vergänglichkeit der Herrscherhäuser, ich werde den Weihrauchduft verwehter Asche atmen. Und endlich werde ich in das tote Flussbett hinuntersteigen, zu den raschelnden Eidechsen und werde des Nachts die Schakale bellen hören. Im Schatt-el-Arab wird die Reise enden, in den Fiebersümpfen von Bassorah. Dort stossen im Mondschein die Fähren ab, und die Perlenfischer von Koweit entfalten die Segel ihrer gebrechlichen Boote. Ja, diese Reise wird einmal ein Ende nehmen, eines Tages werde ich den Strand des Meeres erreichen, die Küste des Golfes von Persien, und meine Augen werden nichts mehr sehen als den runden Horizont. Dort steigen, zwischen Himmel und Wasserspiegel, schräge, mit gedämpftem Licht gesättigte Strahlen auf und nieder, Leitern der letzten Vermählung. Ich werde ruhen auf den Dächern von Koweit und die Fische des Sultans essen. An seinem Hof, in seiner Stadt soll ein buntes Leben herrschen. Die geschmeidigen Söhne schwarzer Sklaven vermischen sich mit arabischen Buhlknaben, und die 132 Familienväter verkaufen ihre Kinder an ungeschlachte Würdenträger. Nicht der Not gehorchend –, nur den alten Gesetzen der Freude. Denn in der Stadt herrscht Ueberfluss, das Meer trägt Perlen und schillernde Nahrung an den Strand, mühelos ziehen die Fischer ihre schweren Netze ein, und im Basar häufen sich die Schätze Arabiens, Trägheit und Flötenspiel paaren sich im Schatten der Häuser, Gastfreundschaft empfängt den Fremden. – Meerblaues Koweit! – Ich werde meinen Durst mit Eselmilch löschen und meinen Hunger mit unbekannten Gewürzen reizen. Ich erwarte die Glut Deiner Winde, die Erfrischungen Deiner bemalten Fächer –, eine bleiche Ohnmacht erwartet mich –

Und ich werde zum Hafen schlendern, abends wenn die Schiffe heimkehren. Mit flatternden weissen Segeln sehe ich sie einbiegen in die anmutige Bucht. Lichte Heiterkeit des Abends . . .

Ein Ziel erreicht, überstanden Mühsal und Gefahr. – Und was? – Verhallt das dumpfe Dröhnen der Karawanen? – Und ich werde entlöhnt wie ein Kameltreiber am Tor der Totenstadt? – Meine Spuren 133 im Sand verweht, meine Anstrengungen vom Wind weggetragen? – Viel Aufwand um die Fische des Sultans! – Herr, ich habe keinen Lohn verlangt, und es war von keinem Ziel die Rede. Welche Verfehlung habe ich also auf mich geladen? – Keinen Götzendienst getrieben, mir keine falschen Bilder gemacht –, ach, marternde Erschöpfung! Die Vögel des Himmels speisen mich nicht mehr –, und jetzt: Zuckerwerk und Flötenspiel? Welchen Bezauberungen soll ich mich zuwenden? – In jener Stadt soll es unerhörte Gifte geben, ich werde in einen nie gekannten Schlaf sinken –, Gelächter wird meine Träume schütteln, ich werde ein Seiltänzer sein in schwindelnder Höhe über dem Volk des Marktplatzes. In welchen Künsten werde ich mich üben, in welchen Freuden, in welcher Vergessenheit! – Gaukler, Magier, Feueranbeter, Schlangenbeschwörer, ich misstraue euren Kenntnissen nicht mehr, sie sind erlernbar –, ich nehme teil an den Mahlzeiten der Haschischesser und Opiumraucher, ich schmecke den Tod der irdischen Genüsse . . . ach, fürchterliche Linderung! – 134 Meine Schläfen zerspringen, ich muss die angesammelten Bilder, die gehäuften Qualen zerstreuen –, mich auf Hängebrücken wiegen –, baden in kühlen Schaumkronen. Seht den Schweif der Kometen und wie sie zischend verlöschen –, das Meer glättet sich und verlangt nach dem Mond –, ich spiele mit silberbärtigen Delphinen –, ich versinke, kein stechender Atem mehr, eine sanft rollende Flut trägt mich hinweg. – Und es ist noch nicht aller Tage Abend geworden? – Betrug, Ohnmacht, Angst –, was erwarte ich, welche Umarmungen sind noch für mich bereit? Fliehen, fliehen –, fliehen –, schweissüberströmt knie ich im Wind, wohin mich wenden?

– Mutter! – So lebt man nicht . . .

Die Samariter kamen des Weges und lasen mich auf. – »Dein Ziel, arme Seele?« – Ich musste lügen: Die Stadt Koweit, die glücklichen Küsten –, schlechter Trost! – Kein höhnisches Lächeln auf euren Lippen? – Warum waltet ihr nicht eures Amtes und übt Barmherzigkeit? – Einen Schluck Wasser für meine durstigen Augen! 135

 


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