Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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V.

Ich sass an jenem Abschiedsmorgen lange auf der Anhöhe von Rihanie. Ich sah den Kameraden nach, die das Haus verliessen und den gewohnten Weg zum Chatal Hüyük einschlugen. Ich sah ihnen noch immer nach, als sie längst in der Hügelmulde verschwunden waren. – Jetzt vernimmt man aus der Ferne den Widerhall von Pickel und Schaufel. Jetzt gehen die Korbträger-Knaben über das Feld. Die Sonne steht schon hoch. Sie bleiben einen Augenblick bei der grossen Urne stehen, um eine Handvoll Wasser zu schöpfen und ihren Durst zu löschen. Dann gehen sie mit den leeren Körben zurück und lassen sie aufs neue mit Erde füllen. Eine Kette von Knaben bewegt sich langsam dem Hügelrand entlang, eine andere Kette kommt ihnen entgegen. Ihre weissen Kopftücher leuchten . . .

In weiter Ferne. Ich erkenne den Chatal Hüyük nicht mehr, er ist einer unter den hundert Scherbenhügeln dieser Ebene. Korbträger-Knaben, ich habe vergessen, bei welchen Namen man euch rief!

97 Denn ich bin kein Ausgräber. Ich habe keinen Beruf. Ich hätte alle Berufe ausüben können. In allen Städten wohnen. In allen Ländern beheimatet sein. Aber ich handle nicht mit mir: Der Preis für »Das Gute Leben« war zu hoch.

Ich erinnere mich an alle Warnungen, die man mir zukommen liess, und an alle Ratschläge. Aber ihr habt eine Sprache verwendet, die ich nicht mehr verstand. Man hat auch Anklage gegen mich erhoben, wegen Fahnenflucht, Reislaufens und Freibeuterei. Aber man vergass, mir zu sagen, wer der Richter sein würde.

Ihr warft mir vor, dass ich mich mutwillig in Gefahr begebe, dass mir jedes Abenteuer recht sei, um meine Kräfte daran zu verschwenden, und jede Aufgabe eines »normalen Lebens« zu schlecht, um sie daran zu erproben. – Was ist, in eurer Vorstellung, das Abenteuer?

Dieses Wort sagt mir nichts. – Die Karawanenspur jenseits der Gartenmauer? Wollt ihr die Erde in Kohlfelder aufteilen? Und sie dann verlosen lassen zu niedrigen Preisen. – Jedem seine Chance? – Ich bin kein Glücksspieler.

98 Und ich könnte meine Kräfte nicht verschwenden: denn die Anstrengung ist ununterbrochen.

Ihr fragt: »Auf welches Ziel gerichtet?«

Ich berichtige: ich habe kein Ziel, das ich mit Jagdfalken und Bluthunden verfolgen könnte.

Und ich ergänze: ich bin nur ausgezogen, das Fürchten zu lernen. Da warnt ihr mich: »Du entfremdest dich unseren Sitten und Gewohnheiten. Besinne dich: der Mensch braucht einen Halt, deshalb wurde die Moral erfunden und die Autorität zum Priester geweiht. Besinne dich: nicht ungestraft . . . Es geht um dein Glück.«

– Richtig, Das Glück hat das letzte Wort. Und man soll es nicht ungestraft verachten. Verstehe ich die einfachsten Dinge nicht mehr? Das Glück: Zufriedenheit, Harmonie, Gleichgewicht, Frieden der Seele? Dein Kohlfeld bebauen! –

Aber die Erde zittert. Im Westen lodern Brände. Die Kirchen stürzen ein. Eure Felder sind verwüstet. Eure Kinder werden unter den Mauern eures eigenen Hauses erschlagen. Soll das Glück an einen so faulen Frieden gebunden sein? – Es ist 99 ertränkt in Tränen, erstickt in den Klagen um vergeblich Gestorbene. – Arme Seelen! – Aber ihr wollt nicht hören. Ihr wollt nicht sehen. Die Angst hat euch gepackt, ihr wollt euch nur noch verteidigen. – Wenn der Wall eurer Sitten und Gewohnheiten nicht mehr standhält? – Eure Masse und Ziele nicht mehr gelten?

In Bagdad erreichte mich ein Brief: »Genug! – Wir wollen dich nicht an die persischen Hochebenen verlieren.«

Aber man kann nicht weit genug gehen, um die falschen Masse und Ziele zu vergessen. Ich musste dich enttäuschen, Freund! – Jahre vergingen, da schriebst du mir diesen anderen Brief:

»Wenn man dich, eines Tages, im Graben neben einer fremden Landstrasse auffinden wird –, wir werden nicht einmal den Mut haben, um dich zu trauern. Wir werden nur die Achseln zucken: du hast es nicht anders gewollt!«

– Aber was hätte ich anders gewollt?

Welche Todesart hattet ihr mir zugedacht?

– Denn bei euch, ich weiss, hat sogar der Tod seine Rangunterschiede, 100 Tröstungen und Sakramente. Bis zum letzten Atemzug, bis zur letzten Oelung ist vorgesorgt, dass der Mensch sich nicht preisgegeben fühle. Dass es ihm erspart bleibe, seinem Engel zu begegnen. – Denn solche Begegnungen vollziehen sich ausserhalb aller gewohnten Wege . . .

Hätte ich auf jenen Brief geantwortet: »Ihr irrt euch, ich habe mich keiner Willkür schuldig gemacht!« – hättet ihr mich freigesprochen –, hättet ihr mir auch nur geglaubt? – Ist man vor euren Gerichten unschuldig, weil man den Text der Gesetzbücher nicht gelesen hat?

Aber der Brief war von jener Sorte, auf die man keine Antwort erwartet. Warum also fordere ich euch heraus? – Will ich mich verteidigen, will ich Rechenschaft ablegen, Rede und Antwort stehen? – Wird sich dieses Herz nie befreien?

Aber ich will andere Anklagen hören!

Und ich werde Vernunft annehmen. Ich werde jedes Wort auf die Waagschale legen. Ich werde, noch einmal, versuchen, eure Sprache zu reden. Ich werde eure Richter anerkennen, ich werde eure Anwälte und eure Verteidiger hören. – Ich sehe euren 101 Gerichtssaal: Das Volk strömt schon herein. Alle Plätze sind verteilt. Die Platzanweiser versehen pflichtgetreu ihren Dienst. Jetzt treten die Geschworenen auf. Die Zeugen sind versammelt. Hinter ihnen verbirgt sich eine Frau in Witwenschleiern. Weint sie schon um ihren Sohn? – Ein paar Stunden zu früh . . . Und zuletzt wird der Angeklagte hereingeführt. Er hat eine eigene Bank.

Ich werde nicht mit der Wimper zucken, wenn ihr ein Todesurteil fällt!

»Dieser Bursche hat eine gute Erziehung genossen. Er hatte liebende Eltern, verständnisvolle Lehrer, einen gerechten Vorgesetzten. Er hat nicht Mangel gelitten. Und er ist erst zwanzig Jahre alt. Die Motive zur Tat bleiben ungeklärt. Mildernde Umstände? . . .«

Ich werde auch eure Aerzte hören. – »Sie sehen diesen Mann. Dreissig Jahre lang hat er seine Pflicht erfüllt. Er liess sich dreissig Jahre lang nichts zuschulden kommen. Er hatte ein glückliches Familienleben. Seine finanziellen Verhältnisse waren nicht zerrüttet. Erbliche Belastung liegt keine vor. Eines Tages verliert er den 102 Verstand: an diesem Tag geschah nichts Ungewöhnliches. Kein Erdbeben, kein Fliegerangriff, kein Todesfall, kein Börsensturz. – Nach dreissig glücklichen Jahren! – Welchem Gespenst ist er begegnet?« – Und ich werde eure Staatsmänner anhören, eure Diktatoren: »Wir haben leichtes Spiel.«

– Es verschlägt mir die Sprache. Und ich bin mit meiner Vernunft zu Ende. Eure Anklagen brausen noch in meinen Ohren: »Ausserhalb des Gesetzes, verschwendetes Leben, unnützer Tod –, Verächter des Glückes, fahrender Geselle, die Fasten nicht eingehalten, die Verbottafeln nicht gesehen, die Hausordnung nicht gelesen –, hat der Kerl überhaupt lesen gelernt?« – Ein Arsenal von Worten – ein Museum, worin die Fahnen ruhmreicher Regimenter verblassen und die Degen rosten. Merkt ihr es nicht? Eure Waffen sind stumpf geworden. Und eure Worte sind abgenützt. Eure Anklagen sind dürr wie Herbstlaub. – Regt sich draussen kein Wind? – Ach, atmen, freier atmen! – Aber ihr habt alle Fenster verschlossen. Ihr wollt in Frieden leben, und die Schlachtfelder der neuen 103 Kriege sind zu nah: sie grenzen schon an eure Gärten . . .

Aber was spreche ich von Schlachtfeldern? – Mitten im Frieden kann die Heimsuchung kommen! – Ein Heuschreckenschwarm genügt, um euren Garten zu verwüsten, in euren Stall kann sich eine Seuche einschleichen, die unsichtbaren Heerscharen der Morgenröte können eure Aecker einstampfen! An euren Türen rüttelt der Nachtwind. Und nach der namenlosen Heimsuchung sind eure Häuser verödet, eure Strassen leer, so dass ihr, was euch am vertrautesten war, nicht mehr wiedererkennt! – Einer wacht auf mitten in der Nacht, und noch ehe er Zeit gefunden hat, die Lampe anzuzünden, auf den Zeiger der Uhr zu schauen, sein Herz zu wappnen, fährt ihm der Schrecken in die Glieder: »Von was habe ich geträumt? Wer hat mich aus dem Schlaf geweckt? Was ist das für eine Stunde? – Die Zeit steht still. Ich habe das Fürchten gelernt . . .« – Die Ordnung der Dinge, die er im Halbdunkel wahrnimmt, hat sich verändert. Das Feuer im Ofen ist erloschen. Die Hand kann das Wasserglas auf dem Nachttisch nicht mehr 104 erreichen. Die Vorhänge bewegen sich wie die Flügel von Nebelkrähen. Die Wände –, die vier Wände fügen sich nicht mehr rechtwinklig ineinander: was ihn umgibt, ist rund, und ohne Grenzen, ohne Oben und Unten –, er gleitet, er fällt –, kein Halten? Da macht er Licht und neigt sich über seine Frau, die neben ihm schläft wie immer. Die zärtliche Wange auf das Kissen gebettet, tief atmend, friedlich. Er forscht in diesem Gesicht, er möchte diese Lippen beschwören: »Oeffnet euch –, sprecht ein Wort, das ich vernehmen, verstehen kann!« – Er möchte, dass ihre Augen ihn ansehen. Aber er wagt nicht, sie zu wecken –, er wagt es nicht, er wagt es nicht. Wie immer? frägt er sich –, seit wie lange? – Ich werde ihre Stimme nie mehr hören, ich habe sie nie gehört –, ihre Augen werden mich nie mehr ansehen, sie hat mich nie gesehen. – Er erkennt seine Frau nicht wieder, er wendet sich ab. Und in der fürchterlichen Stille, die ihn jetzt umgibt, hört er zum erstenmal die Erde sich bewegen . . .

– Es ist genug! – Ich habe vergessen, wer der Ankläger war, wer der Angeklagte. 105 Ich habe die Todesurteile vernommen, ich habe Mütter weinen sehen. Ein Knabe sprang von der Bank auf, die ihr ihm zugewiesen hattet, und schrie: »Ich bin unschuldig, ich bin unschuldig!« – lodernd vor Zorn, seine Augen waren schon starr von Angst, das Entsetzen krümmte ihm die Glieder. Ein anderer senkte nur den Kopf. Bekannte er sich schuldig?

Vor Gott und den Menschen? – Grausamer Missbrauch der Worte! Mit ihren tönernen Schellen füllt ihr diese Erde und bringt die Nachtigallen zum Schweigen. Aber in seltenen Stunden vernehme ich wieder ihren Gesang, und er rührt an mein Herz. Nicht genug mit den Tränen der Rührung! – Es gibt Fanfaren! – 106

 


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