Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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X.

Mir will jetzt, am Ende aller Wege, scheinen, dass ich mir Persien nicht ausgesucht habe –, ebensogut irgendein anderes Land. Man höre: Afghanistan, Aral-See, Buchara, Swanetien, Ormus, Pendjab, Kaschmir, Turfan – und Pamir (kirgisisch: »Einsamkeit«) –, das Dach der Welt. Ich redete mir ein, auch die wundervolle Hochebene Persiens sei das Dach der Welt –, warum nicht? – Aber ich kann mich irren. Hingegen ist der Name unwiderruflich, mit dem wir dieses Tal nun einmal getauft haben:

Das glückliche Tal.

Ich nehme an, ich fand hier ein Klima, das mir zusagt. Das Malariafieber musste ich allerdings in Kauf nehmen, sowie manches andere. Aber ich bin dreimal nach Persien zurückgekehrt. Also wollte ich es . . . Meine Freiheit . . . Ich habe jetzt dieses Wort begriffen und spreche es auch aus, obwohl es mir grosse Traurigkeit verursacht. Keine Sorge! In diesem Land gedeihen die Traurigkeiten wie 139 Granatapfelbäume. Und ich habe noch andere Worte zu gebrauchen gelernt. – Worte sind kostbar, sind Hilfsmittel der Magie. Ich weiss, was ich sage und denke nicht an die Schwarze Kunst, wie sie in Mazanderan, dem Teufelsland der Perser, geübt wird. (Ich erinnere mich: bleichende Tierschädel an Nebelhägen, spitze Strohpyramiden eines Dorfes aus Sümpfen auftauchend, Hütten auf Pfählen, rötliche Lampen im fahlen Dschungellicht, im Urwald, beim Köhlerfeuer, ein stummer turkmenischer Holzfäller mit krummem Messer, eine zwitschernde Schar von Frauen in langen 140 Hosen und bunt bedruckten bauschigen Röcken mit Kesseln voll saurer Zebumilch, Händler hinter Auberginenkörben und klebrigem Kaviar, auf Zehenspitzen wippende Wasserträger, matte, gelbe Fiebergesichter, ein von Dornen umhegter Viehkraal, räudige Hunde, ein kleiner gefangener Bär, und in den regengepeitschten Dünen der Kaspi-See ein regloser, sicherlich verzauberter Adler . . .)

Nein, die Magie, derer ich mich jetzt bediene, ist anderer Art und einwandfrei. Ich kannte sie schon ein wenig, als ich zum erstenmal in Persien war –, aber damals glaubte ich noch, sie einer Haschischpfeife zu verdanken. Nicht als ob ich mir davon einen leichten Genuss versprochen hätte, vom Geruch des Opiums in den Chauffeurkneipen wurde mir übel, die Bekanntschaft mit dem Laster war wie eine zweite, schon mit bitterer Reue genossene Vertreibung aus dem Paradies, ich schreckte zurück wie vor dem Schlangenbiss. Aber man ermisst nur einmal die Versuchung, man bereut nur einmal. Ich gewöhnte mich an ein Mittel, dessen furchtbar wachsende Macht ich nicht ahnte und das meiner lechzenden 141 Ungeduld die Linderung rascher Visionen bot. Die Wirklichkeit war mir unerträglich geworden –, diese unvermittelte Begegnung mit der Welt, die ich doch so leidenschaftlich gesucht, so leidenschaftlich geliebt hatte! – Die Wirklichkeit, die jede menschliche Rangordnung zurückweist, allen Berechnungen spottet, sich der Dürre unserer Systeme entzieht, deren Fülle wir doch immer vor Augen haben, deren Reichtum greifbar ist, deren liebende Umarmung wir ersehnen, hundertmal vergeblich, aber einmal, einmal doch berührt im Stand der Gnade! – Aber, freiwillig allen Schutzes beraubt, wehrlos, unermüdlich schauend, hatte ich mich verwirren lassen. Die Felsen kamen mir entgegen und erschlugen mich unversehens, die Flüsse lauerten auf mich mit der langsamen Wucht ihrer lehmgelben Wassermassen, graues Gestein, Basalt im Blau, war hoffnungslos schmerzhaft, die Ebenen waren nicht einmal feindlich, nur zu gross.

Bestürzt sah ich die gleissende Pracht goldener Moscheen über den Palmen von Schah Abdul Azim, den Dächern von Kum aufsteigen, die weisse Oede der Salzwüste 142 Kewir machte mich taumeln, ein einsames Kamel, gefolgt von seinem Fohlen, ging dem Horizont entgegen und stapfte geduldig runde Spuren in den Sand. Es zog den rieselnden Pfad hinter sich her wie ein Schiff seine milchige Wasserbahn. Dann ermattete mich der schwindelnde Anstieg von Schalus, die kühnen Kurven, die tief in Schluchten griffen, um in jäher Wendung eine entblösste, von der Sonne gemeisselte Steilhalde zu durchkreuzen. Und die schaumige Leichtigkeit der Höhenluft, die ich jetzt zu atmen gewöhnt bin, machte mich zittern. Ich vertauschte sie mit den Fieberdünsten von Mazanderan, ich lernte eine vernichtende Schwermut kennen, genährt von der Feuchtigkeit des Dschungels. Nach Teheran zurückgekehrt, fand ich die engen Gassen von Hitze gesättigt wie Backöfen. Abends verliess ich das Tor und ritt rings um die zerfallenden Stadtmauern. Ich sah die Geier mit schweren Flügelschlägen über der Friedhofebene flattern, ich sah viele Karawanen, unterwegs nach Veramin, ich hörte ihre Glocken dröhnen. Und immer das eintönige Klagegeschrei der Esel. Unter dem 143 buntgekachelten Torbogen von Veramin würfelten Soldaten auf einem ausgebreiteten Mantel. – Ich kannte schon das unerhörte Farbenspiel der untergehenden Sonne, die sich aufzulösen, die zu sterben schien, wie sie dem staubigen Atem der grossen Ebene entgegensank. Ich ritt schnell. Mein Pferd hiess Bacht. – Endlich konnte ich nicht mehr.

Ich merkte wohl, dass ich im Begriff war, sehen zu lernen –, dass die furchtbare Entblössung, die mich der Unzahl der Bilder preisgab wie tätlichen Angriffen, eben der magischen Gabe gleichkam, eine wirkliche Beziehung zu diesen Bildern herzustellen, gleichzeitig ihre Farben, Formen und Masse in mich aufzunehmen, gleichzeitig ihre Bewegtheit oder Unbewegtheit, gleichzeitig ihren Gehalt an Freude oder Trauer, gleichzeitig ihre Stummheit, ihre Sprache, ihren Gesang, ihre erdrückende Nähe, ihre unberührbare Entferntheit, und die Erinnerungen, die sie wecken, die Ahnungen, die sie vermitteln konnten. Ich wusste, dass mir im Zustand dieser Empfänglichkeit kein Vogelschrei über der Kaspi-See entgehen und dass seine heisere 144 Wildheit, seine ansteigende Klage, seine Verlorenheit im Wind mir die verlorene, windgepeitschte Schwermut jener Küste zurückrufen würde. Ich wusste, dass der in rauschenden Farben vollzogene Sonnenuntergang über der blassen, in staubiger Hitze erstickten Ebene von Teheran für mich fortan immer die Vermählung von Himmel und Erde bedeuten würde, mit allem, was sie birgt an stummer Erwartung, Pracht und Augenglanz des Geliebten, schmerzvoll verharrender Zärtlichkeit, Auflehnung, tödlicher Süsse, weinender Verschmelzung, Schlaf Herz an Herz gepresst im nächtlichen Zelt. Ich hörte die einsame Knabenstimme auf der Brücke von Isfahan, schwebend über dem Wasser, und ich hörte den schwebenden, sinkenden, steigenden, wie auf Vogelschwingen segelnden Ruf der Mullahs, die sich zur Mittagsstunde, in weissem Turban und weissem Gewand, über die Brüstung schlanker Minaretts beugten, von Tauben umflattert, während der leuchtende Himmel und die azurnen Kuppeln ihre in der Hitze zitternden Pfeile aufeinander absandten. – Ja, ich wusste, dass ich nicht nur Bilder sah, 145 Klänge vernahm und sie sammelte und auslegte nach meinem Belieben, sondern dass mir dies alles ungeteilt gehörte, dass zwischen mir und der sichtbaren, vernehmbaren, spürbaren, greifbaren Welt kein Hindernis mehr bestand. Aber ich wusste mich auch nicht mehr gegen sie zu schützen –, die Ströme flossen durch mich hindurch und berührten mein Herz. Das war der Anfang der Magie, die Einkehr in die Wirklichkeit –, bereit, eine geoffenbarte Wahrheit zu empfangen (wie man die Klänge, die Bilder empfangen hatte), spürte man schon die Schauer ihrer grossen Nähe. Aber obwohl ich mich nicht hätte einsam fühlen sollen –, da ich umgeben, umwittert war von den verborgenen Energien der Erde –, fand ich mich manchmal, aus tiefer Versunkenheit zurückkehrend, allein am Rand der belebten Stadt. Während ich anfing, geheime Inschriften zu entziffern, Spuren zu lesen und meinen Entdeckungen neue Namen zu geben, schien mir gleichzeitig das Verständnis der menschlichen Sprache abhanden zu kommen. Ich glaubte mich reich, teilhaftig der Fülle, aber ein Eselschrei, ein fallender 146 Stein machte mich aufschrecken, als sei ich nicht in der Welt gewesen, sondern ausserhalb, auf Abwegen –, und würde jetzt erst gezwungen, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen, die Aufmerksamkeit meiner Sinne dem Eselschrei, dem fallenden Stein zuzuwenden. Ich hatte, um meine Freiheit zu erlangen, alle Gewohnheiten abgelegt, alle Erinnerungen vergessen, allen Höflichkeiten und Uebereinkünften abgesagt –, jetzt konnte mich ein Strassenhändler überrennen, das Rollen einer Droschke in Schrecken versetzen, und eine harmlose Unterhaltung unter den Gästen eines möblierten Salons brachte mich um den Verstand: denn ich konnte, was ich jetzt um mich vernahm, nicht vereinbaren mit jener anderen Anschauung der Welt, wie sie mir eben noch gegenwärtig gewesen war, und die ich für unverfälscht hielt. Aber um diese Gegenwart zurückzugewinnen, um mich ihrer wieder zu versichern, musste ich immer aufs neue jene absolute, von keinem fallenden Stein gestörte Stille um mich versammeln und in jener einsamen Entblössung verharren, die mir manchmal unerträglich schien –, 147 obwohl gerade dann mein nüchternes und leeres Herz empfänglich wurde, Raum hatte für bisher ungeahnte Kräfte und ich gerade dann –, nur dann –, von einem Gefühl ergriffen wurde, das von Freude oder Schmerz gleich verschieden, dem Erstaunen der Liebe verwandt, nur noch einen Schritt entfernt schien von einer wahrhaft seeligen Erfüllung. – Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich sie nie erreichen würde. Dass der Zustand intensiven, unablässig erneuerten Wartens einer närrischen Besessenheit glich. Dass ich es verschmähte, mein tägliches Brot zu verdienen mit der Ausrede, es gebe Wichtigeres zu tun. Und dass die Erschöpfung nicht ausbleiben würde. Was dann? – Die Erinnerung an die barmherzigen Samariter versetzte mich in ohnmächtigen Zorn! – Habe ich Angst? – fragte ich mich –, habe ich etwa Angst? So sucht man im geliebten Antlitz, in den geliebten Augen, und erwartet keine Antwort.

Und ich frage dich jetzt –, ich muss fragen, solange mir deine Gegenwart noch sicher, solange noch nicht alles verloren ist: Lautet so der letzte Trost? Ist das die 148 letzte Wegzehrung –, so herben Geschmackes? Reifen die Aengste der Liebe und die Angst vor den äussersten Dingen unter dem gleichen Himmel? – Die Erschöpfung, die furchtbare Nachhaltigkeit des Entzückens, das du mir schenkst, das Schweigen, das mir deine Sanftheit auferlegt und die Trauer immer auf der Schwelle –. Ich werde dich nie verlassen! – warum weine ich also, warum ist dieser Schrei so verzweifelt? – Wir sind doch allein in diesem Zimmer, die Wände schweben, nichts stört die Stille, nichts verhaftet uns mit der schweren Erde. Und doch sendet sie ihre Jäger aus, und die Hörner erschallen, und die Meute wartet, und die Bogensehnen spannen sich und die Fackeln flammen, und der Hirsch bäumt sich auf, und die unstillbare Zärtlichkeit wird zusammenbrechen, lautlos? – Ach, ich leide Mangel! Ich will die Beschwichtigung deiner Hände! – Antworte nicht, antworte nicht! 149

 


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