Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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III.

. . . aber jeden Morgen, wenn ich mein Zelt verlasse, bin ich erstaunt über die wiedergeborene Schönheit dieses Tales. Noch herrscht Dämmerung, die Lampe der Nacht kaum erloschen, die Welt liegt in leichtem Höhenschlaf. Kein Wind regt sich. Die felsgekrönten Häupter der Berge berühren den Himmel. Die Tiere ruhen, die Vögel sind aus den Wolken gefallen, der Lahr-Fluss, nachts weit ausgebreiteter Mondstrom, Gefährte der Milchstrasse, ist ein junges, murmelndes Gebirgswasser. Alles noch ohne Farbe, die Wiesen entkleidet und taufrisch, die Halden stumpfer Basalt, ihre steinigen Ränder Stirnreifen ohne Glanz, am anderen Ufer träumen die Pferde, graue Monumente. In dieser Höhe gibt es keinen Nebel, und der Rauch des kleinen Tschaikhane ist über Nacht kalt geworden. Meine nackten Füsse im Gras, Frische rührt mich an, Schlaf und Traumwärme gleiten von den Schultern wie ein lästiger Mantel. Ich bin unverletzt, leicht, frei – kein Schmerz rührt mich an. Der Demawend ist ohne Substanz, eine Vision 48 der Frühzeiten. Majestätische Unschuld dieses Landes! – Das Licht streift schon durch den Himmel, der unermesslich hoch ist, ohne Gestirn, ohne Glocken, ohne Weihrauch. Da erzittert das Gewölbe wie unter einem Gongschlag. Es bricht – und in den klaffenden Riss stürzt das Licht, erreicht die fernsten Gebirge, schiesst zwischen Felszacken hervor, wirft sich in die Schluchten –, goldbraun strömt es die Halden hinab, fährt es über die Felsen zu Tal. Die Schatten erkalten wie Lava, die Hügel glänzen wie warmes Fell von Wasserbüffeln, das Licht flieht wie eine Herde Gazellen durch alle Täler. Schau auf! Die Vögel haben ihre Schwingen wieder gefunden! Die Steinböcke kreuzen das Geröll der Abhänge! Kamele schreiten gravitätisch durch die Wildnis, senken die langen Hälse über das schmale Felsband hinaus, um ein Büschel Gras zu rupfen, ihre Höcker schwanken, sie reiben die mageren Flanken gegeneinander, sie sind riesengross, sie werden alsbald ihr Gleichgewicht verlieren und plump durch den Himmel hinabfallen auf unsere Zelte. Wärme ergiesst sich in das Tal, die Kiesbänke sind 50 weisses Elfenbein zwischen dem Grün der Weiden. Unfassliche Fülle! Wunderbare Regsamkeit! Die Soldaten des Schahs galoppieren auf ihren scheckigen Pferden den Saumpfad hinab, lange Peitschen wirbeln über ihren Köpfen, sie jagen die Stuten von ihren Ruheplätzen auf, sie treiben die zitternden, steifbeinigen Fohlen an, sie hetzen die Herde dem Fluss entlang auf eine bessere Weide. Vor der Türe des Tschaikhanes steht der Wirt, eingehüllt vom blauen Rauch seines Samowars. Dieses Tal ist über Nacht eine begangene Strasse geworden! Eine Karawane hochbeladener Maultiere kommt den Afjé-Pass hinunter, die Treiber gehen hinter den Tieren her, machen beim Tschaikhane halt. Talaufwärts ziehen Nomaden, eine vielköpfige Familie, eine ganze Sippe. Wo werden sie ihre Zelte aufstellen? – Die Weide des Talbodens ist karg, die Pferde des Schahs sind darüber hinweg getrabt. Die Nomaden überholen die geduldigen Maultiere, streben der Passhöhe zu, die Kinder treiben schreiend die Esel an, die Frauen schreiten aufrecht, auf dem Haupt ein Bündel Lammfell, einen kupfernen Kessel. In ihrer 51 Mitte geht ein Kamel, es ist ihr einziges, es überragt sie, als führten sie ein Götterbild mit sich!

Ich schaue noch: vielfältiges Leben. Da hat die erste Stunde des Morgens ihren Lauf um den Erdball angetreten . . . Ach hinaufzusteigen! Zu schauen vom Dach der Welt, über seine Randgebirge und Abstürze! Bis hinunter zur Bläue des Persischen Golfes, der von Wüsten umgürtet ist! Die Sonne steht hoch, noch ist es Sommer, noch zittert Hitze über der Ebene von Teheran, noch ist es kühl in den grünen Gärten von Schimran – noch ist es Zeit! Begierde, den Strassen zu folgen, den weissen Spuren, den Flüssen – Begierde, die Städte zu entdecken, die Oasen, die goldenen Dome über Palmen – oh, unstillbarer Durst!

Persepolis: die königliche Terrasse hängt wie an Seilen über der Ebene, die Pracht seiner Treppen, seiner Paläste ist von schlanken Säulen überragt, in den Ruinen des mächtigen Saales liegt das gigantische Stierhaupt, geborsten. Blick über die staubgelbe Ebene, an deren Ende noch immer die Berge ruhen wie gestrandete Schiffe. 52 Naksch-i-Rustem, ragende Felswände, das Haus Zoroasthers, die Grabkammern der Könige – Tributbringer, Fackelträger, Büffel, Löwen, Hunde, Dromedare und Wildschweine geistern im grauen Gestein –, auf der Zinne die erloschenen Feueraltäre, darüber gibt es nur noch den Himmel. Alles noch einmal sehen! – Die Strasse nach Schiras schiesst durch die Ebene, pfeilgerade, und verliert sich in fernen Hügeln. Jenseits der Passhöhe steht ein blaues Tor, jenseits des Tores steigt man in die reizende Stadt hinunter, zu den Dichtergräbern, zu den Zypressen, in die magischen Gärten. In ihrem Schatten, am buntgekachelten Teich, lag ich einen ganzen Tag, die Zypressen erhoben sich auf florentinischen Hügeln. Noch einmal zurückkehren . . . Magien, tausend an der Zahl, und ich zittere: ein Leben wird nicht ausreichen, sich ihrer zu erinnern! Stand ich einmal auf dem Meidan-i-Schah, dem Poloplatz von Isfahan? – Sah ich einmal vom »Hohen Tor« hinunter auf die Stadt, ihre leuchtenden Moscheen, ihre von Menschen wimmelnden Basargassen, sass ich einmal vor einem ihrer Tschaikhanes, im 53 Weidenschatten, neben Turbanträgern, Nargilerauchern, Bauern, bettelnden Derwischen? – Einer ging durch die Menge, blind, im zerschlissenen Seidenmantel, eine hohe, mit Koransprüchen bestickte Mütze auf dem Kopf, die Kürbisschale in der Hand. Drüben, auf der anderen Seite des breiten, lehmigen Flusses, in Djulfa, gingen abends die Armenier zur Messe. Am gleichen Abend stand ich in einer Nische der grossen Brücke, an mir vorüber eilten Droschken, rollten Lastwagen, klapperten die Hufe schwer bepackter Esel – verschleierte Frauen hatten in den Nachbarnischen ihre Samoware aufgestellt, sie schwatzten und lachten ohne Unterbruch. In den Schatten des Brückendaches bogen Kamele ein, unterwegs nach Süden. Mondlicht lag über den Fluten. In der Dunkelheit erhob sich eine helle, singende Knabenstimme und erhielt von der anderen Brücke Antwort. Helle, brüchige Stimmen der Christenkinder in der Mission von Urumiah, ein weissbärtiger kaldäischer Pater dirigierte ihren rührenden Chor. Urumiah, oben im Norden, im paradiesischen Aserbeidschan. Dort schlief ich im 54 Schulzimmer der kleinen Mädchen, deren Eltern, Armenier und Kaldäer, von Türken, Persern, Kurden erschlagen wurden. Noch immer drängen sich abends die Christenfrauen im Missionshof und schöpfen Wasser – sie fürchten, die Mohammedaner der Stadt könnten ihre Brunnen vergiftet haben wie in den Jahren des grossen Krieges. Sie erzählen: »Damals waren die Kanäle gefüllt mit dem Blut unserer Männer, rot flossen sie durch die Gärten!« – 55 An einem schönen Frühlingstag zog ich mit den Schülern hinaus vor die Stadt – neben dem Stadttor knarrte das Rad einer Wassermühle, da wurde das Korn gemahlen, das die Missionare auf ihren Aeckern ernten –, über einen Wiesenpfad gelangten wir in den ummauerten Obstgarten; es gab Kirschen, Pflaumen, halbreife Aprikosen und Pfirsiche. Ein anderes Mal gingen wir in die ersten Hügel Kurdistans; der Pater im Tropenhelm und weissen Mantel, fischte mit der Angel, die Buben zogen sich aus, warfen sich in den Fluss und fingen die Fische in flachen Körben. Ueberall in den Feldern, bis an den Rand der Stadt, zerfielen die alten Wachttürme. Vom Dach der Mission aus sah man über den Gürtel der Gärten hinweg das weisse Ufer, die schwarzblaue, unbewegte Fläche des Salzsees – im Norden zarte Umrisse eines Gebirges, den in Sonne gebadeten Kaukasus. Ich grüsste die sanften Rebenhügel Georgiens, die Dörfer, die Eichenwälder, ich sah wieder die Festungskirchen von Mzchet, die Kirchen Armeniens, die bewehrten Höfe, die ossetischen Totentürme. Ich sah Tiflis wieder, die Stadt der hundert 56 Sprachen, den Basar, wo alle Gesichter Asiens sich zusammenfinden, ich stieg in die Gassen der Altstadt hinab, die sich am Steilufer zusammenwürfelt, in einer Flussbiegung – ich sah in einem Hof gesattelte Pferde, in einem anderen ein Meer von Kamelhöckern, in einem dritten knieten Frauen und bearbeiteten eine Rolle Ziegenfilz, Teppiche stapelten sich in dunklen Gewölben, es roch nach Pfeffer, nach geröstetem Schaffleisch, nach fauligen Melonen. Als ich mein Gesicht an die hölzernen Stäbe eines Haremsgitters presste, begegneten mir dunkle, längliche Augen . . . Oh, leuchtende Traurigkeit der Sommerabende am Rand der fremden Städte, wo beständiger Aufbruch herrscht – Kamele, Eselherden, Reiter in riesigen Lammfellmützen; das buntgekachelte Tor entlässt sie, draussen beginnt die Oednis, sie entschwinden in einer Wolke von Staub . . . Könnte ich mich erinnern! An die heiligen Städte, an Kadimen, Kum, Meshed, an ihre goldenen Dome – an die Totenstädte Kerbela und Nejaf, an die bewehrten Städte, die Zitadellen von Ankara, von Aleppo – Falken segelten über ihren 57 Zinnen –, an die Hafenstädte, an die Ruinenhügel im Tal des Orontes. Ich bin mitten in der Nacht über die bleichen Gärten von Damaskus aufgestiegen und über die syrische Wüste geflogen, ein erstarrtes Meer, ein erloschenes Gestirn – wir flogen nach Osten, der Flammenwand entgegen, da flutete samtiges Licht über die Sandhügel, grosse Schatten wanderten unter uns hinweg, die schwarzen Firste von Beduinenzelten waren von einem Wall aus Dornbüschen umgeben; ein Mann trat heraus, blickte zu unsrem Flugzeug empor, wandte sich dann ostwärts und betete. Wir aber hatten schon den schimmernden Euphrat erreicht, wir sprangen hinüber zu den trüben Fluten des Tigris, wir kreisten über Bagdad, das Flugzeug neigte sich seitwärts, da hingen die Minarette und goldenen Kuppeln von Kadimein im Morgenhimmel. Magische Namen, magische Anblicke, tausend Magien . . . Ich habe die Höhe des Peitak-Passes erklommen, ein düsteres und riesiges Gebirge, der Anfang Persiens – nicht endend die Fahrt über kahle Hochflächen, durch unfruchtbare Täler, unzählig die zurückgelassenen 58 Windungen, und die Schneemauern, welche die Strasse säumen, wachsend zu schmutzig gelben Wällen. Man konnte nur noch vorwärts blicken. Der Wind jagte über die höchsten Kämme, die sich wie Brücken nach allen Seiten ausspannten in den unermesslichen Himmel.

Wenn ich mich zu erinnern versuche, dann scheint mir, wir seien tage- und nächtelang durch jene grossen Einöden gefahren, schwefelgelben Sonnenaufgängen entgegen, die von den schwarzen Brandstätten der Halden und vom Schnee verschluckt wurden, bis nur noch trübes Zwielicht übrigblieb. Sonne und Mond lösten einander ab und hingen bleich am Firmament, vor uns setzte sich die Strasse fort, zwischen Himmel und Erde. War so der Weg ins Gelobte Land? Hätte ich ihn vermeiden, umkehren sollen, gestern noch? Hatte ich mich zu weit vorgewagt? – Hatte etwa eine fremde Hand eingegriffen, ein Zufall, und mich auf diese Spuren der Fremdheit geworfen? – Dieses furchtbare Zwielicht, diese tödliche Grösse! – Das war mir nicht bestimmt, dem war ich nicht gewachsen, nicht ich hatte diesen Weg 59 gewählt – dieses Ich, das früher einmal gespielt hatte im Schatten der Laubbäume, den Geruch von Heu, warmem Gras und feuchtem Waldboden geatmet, sich gespiegelt hatte in blauen Seen – lachend die Anhöhen erobert auf federnden Sohlen, das Gesicht der Sonne zugekehrt – über Herbstwiesen geritten, glänzende Schneefelder durchquert, vertraut mit allen Strassen, in allen Gassen der Stadt beheimatet, alle Türme erstiegen und hinausgeschaut in das schöne und blühende Land. Ach, den Kopf bergen in zärtlichen Händen! Wie waren die Abende sanft, zu Hause! – Vergessen, verspielt, verträumt am Kaminfeuer – und noch die Ungeduld war sorglos, schmerzlos. Ich, das Haar zerzaust von allen Winden . . . nie wieder, nie wieder? – Aber was half es, so zu fragen! – Ich hatte die Küsten des Mittelmeeres zurückgelassen, die Weinberge und Zedern des Libanon – das letzte vertraute Ufer eingetauscht gegen die Wüste, jetzt war ich schon auf der uralten Völkerstrasse, auf der Königstrasse der Achämeniden, auf der Höhe des Peitak-Passes. Fern von den vertrauten Tröstungen, allein. Die Fremdheit 60 rührte mich an, ich erkannte mich nicht mehr. Was vermochte so viel über mich? Welcher Gewalt war ich preisgegeben? Ich war preisgegeben! Mir selbst entfremdet! – Aber schon am Abend des zweiten Tages erreichten wir Hamadan. Die Strasse führte in riesigen Schleifen abwärts, in eine mit Schnee bedeckte Ebene. Hügelzüge unterbrachen sie, bald unterschied man Dörfer, Rauch kräuselte sich über den flachen Dächern der Lehmhütten, an den Abhängen schmolz der Schnee, gelbe Erde, dürftige Wiesenflecke wurden sichtbar, ein kleiner Fluss überschäumte von milchigem Wasser, schmächtige Weiden neigten sich über sein Ufer. Es gab also Frühling in diesem Land!

Leichter, von schrägen Sonnenstrahlen erhellter Nebel bedeckte es, und machte es um so lebendiger . . . Vergessen die Einöde, der fürchterlich entblösste Gebirgswall, der Schrecken des Zwielichtes. Ich sah vorwärts, sah Hamadan liegen, schwarz in der weissen Ebene, die Strassen liefen um den grossen Ruinenhügel, der die mit Gold, Silber und Lapis Lazuli bekleideten Mauern des alten Egbatan und alle seine 61 Wunder birgt – die Stadt rückte näher, schon unterschied man die Häuser, Karawanenhöfe, Moscheen, Pappeln über den Dächern. In den Höfen schrien Esel aus vollen Lungen. Wir fuhren jetzt in der Ebene, überholten Kamele, die gravitätisch durch den Schnee schritten, Eis im zottigen Haar, die Glocken schlugen dröhnend gegen ihre Flanken. Das Land dampfte, badete im Abendlicht. Und weithin Weisse, Schnee auf den Feldern, Hütten, Herden, Bäume, Wasser, weithin Hügel und immer neue Hügel, weithin atmende Erde – die Welt war mir wieder geschenkt.

So betrat ich zum erstenmal Persien.

Und seither habe ich auf alle Arten in Persien zu leben versucht. Es ist mir nicht 62 gelungen. Ich habe mich doch bemüht! Zweimal bin ich abgereist, zweimal zurückgekehrt, als schuldete ich diesem Land Treue! Was hatte ich darin zu suchen? Hatte ich nicht genug gesehen, gleich das erstemal, kannte ich nicht alle Moscheen von Isfahan bei ihren Namen, hatte ich nicht die riesige Hochebene durchquert, von den Gärten von Schiras bis zum Fuss des Elbrus, hatte ich nicht die grossen Gebirgswege überstanden, Nächte an überschwemmten Ufern gewartet, und in der Morgendämmerung aus dem noch schwarzen Land die Geburt des Demawend erlebt? – Es war ein anderer Demawend als der, der hier den Ausgang unseres Tales versperrt. Dieser ist ein Gigant, ein Unberührbarer, Ungeborener, ein Sohn des Himmels. Er trägt jetzt, im Sommer, ein gestreiftes Kleid aus Lava und schmelzendem Schnee. Um seine Schultern hat er sich eine Wolke gelegt und verhüllt manchmal auch das leichte Haupt. Er hat keinen Fuss, er schwebt über den Tälern, ragt über alle Gebirge, grüsst das Meer und vermählt sich mit den Sternen. Er ist gewaltig und unbeschwert zugleich. Er 63 leuchtet Tag und Nacht in einem milden Licht. Ohne ihn wäre dieses Tal nichts, es wäre wie tausend andere Täler. Er macht es zum Tal am Ende der Welt.

Landkarten trügen. Sie kennen nur einen Aspekt, und im Kreuz von Norden, Süden, Osten, Westen bleibt der Demawend immer ein und derselbe. Ich habe aber einen anderen Demawend gesehen. Es war, ich erinnere mich, im Frühling, auf der Strecke zwischen Isfahan und Teheran. Im Frühling, und die Bäche traten über ihre Ufer. Ströme brachen aus Gebirgsschluchten hervor, ohne Ankündigung, wie Lawinen. Sie stürzten in die Ebene, bahnten sich ihren Weg, gruben sich ihr Bett, nährten sich von der dürftigen persischen Erde, wurden gelb und schwer und mächtig, als wollten sie ihre breiten Fluten einem Meer zuführen. Aber schon nach zwei Tagen, oder nach einem einzigen, wurden sie von der grossen Ebene aufgesogen und liessen nur ein wüstes Bett zurück. – Hindernisse auf dem Weg – Hölle der Hindernisse! – Zum erstenmal in Persien, wollte ich fliegen – und blieb liegen an einem Flussufer, weil es keine Brücke gab, weil dieser 64 Fluss nicht vorgesehen war auf den Landkarten, weil der Schnee taute in namenlosen Hügeln, weil es Frühling war. Am Abend waren wir von Isfahan aufgebrochen, mein Kollege Berger und ich. Zusammen mit den Kamelkarawanen hatte unser Wagen das bunte Tor passiert, draussen überholten wir die Karawanen, eine um die andere – der ganzen Strasse entlang dröhnten die Glocken. Ein Treiber rief uns eine Warnung zu, er sass vermummt auf seinem Höcker, den Filzmantel über den Kopf gezogen. – »Was schreit er?« –

»Langsam, langsam, es kommt ein grosses Wasser . . .«

Da trat Berger auf die Bremse. Die Strasse brach ab, die Erde war geborsten, ein Riss klaffte, darin brandete ein nächtlicher Strom. Mitten im Wasser lag ein Lastwagen wie ein in die Knie gebrochenes Tier. Mit einer Lampe, die wir an die Batterie anschlossen, suchten wir das Ufer ab. Bis zu den Hüften im Wasser, suchten wir eine Furt. Nichts als rieselnder Sand unter den Füssen! Und die Flut riss mich beinahe mit sich fort! – Ich tastete mich 65 vorwärts, hinter mir hörte ich den Motor anspringen, die Scheinwerfer glitten über den Strom, Berger lenkte den Wagen die Böschung hinab, die Räder klatschten auf, wurden überspült, aber der Wagen bewegte sich! – Ich schrie: »Halte nach rechts« – da verstummte der Motor. Die Räder hatten sich in den Sand eingegraben, drehten leer. Ich ging zurück. »Wir bekommen ihn frei«, schrie Berger, »wenn nur der Magnet nicht nass wird!« – Hindernisse zu bekämpfen, kämpfen gegen das Wasser ohne Brücke, gegen den Sand, gegen die Kälte, gegen die Dunkelheit. Uns zurufen, uns verständigen über das Brausen des Stromes hinweg. Den Wagen retten, das Ufer gewinnen, zusammenarbeiten! – Wir öffneten die Kühlerhaube und wickelten mein Halstuch um den Magnet. Es gelang uns, den Wagenheber zwischen Steinen zu verankern. Wir schoben unsere Ziegenhaardecken unter ein Rad und liessen den Motor anspringen. Er zischte, er lief – der Wagen machte einen Satz nach vorwärts und versank wieder. Wir suchten die Decken, zogen sie aus dem Wasser, eine war zerrissen. Auf dem Trittbrett stehend, 66 schöpften wir Atem, zündeten uns Zigaretten an. Dann von neuem . . . wir pflasterten die Furt mit Steinen, die Arme erstarben im eisigen Wasser. Es war Mitternacht, ein Uhr, zwei Uhr. Zuletzt die Uferböschung, glatt, steil. Unüberwindlich? – Berger sass schon am Steuer, der Motor zog an, die Vorderräder glitten über den Uferrand, die Achse schlug auf. Ich stand noch im Wasser, ich hielt den Atem an: »Wir landen!«

Warum erinnere ich mich daran so deutlich und halte noch jetzt den Atem an? Und vergesse die Gesichter von Menschen, die ich geliebt habe – vergesse sogar ihre Namen?

Der Wagen lag oben, auf der wiedergewonnenen Strasse, der Motor zitterte noch vor Erschöpfung. Berger gab mir Whisky zu trinken, legte einen trocken gebliebenen Pustin um meine Schultern. Die Morgendämmerung bereitete sich vor, warme Schimmer berührten die schwarze Ebene. Es war eine Wüstenebene, die sich vor uns ausbreitete: Trockenheit, Kahlheit, Stein, eine Handvoll Erde, Beute des Windes – vereinzelte Grasbüschel, gelb und leblos. 67 Welch ein Anblick! – Die Augen werden müde, den Horizont zu suchen. – Geduld, gleich wird es Tag sein. Goldene Ströme werden die Wüste überfluten. Geduld . . . Da ging am äussersten Rand der Ebene der Demawend auf. Winziges Dreieck im blauen Nachthimmel, makellos weiss, leuchtend – und ich sah ihn zum erstenmal! Berger, erregt wie ich, holte seine Leika hervor. »Er ist achtzig Kilometer weit entfernt! Wir müssen die Sonne abwarten!« rief er mir zu. Wir warteten. Wir photographierten den Demawend aus achtzig Kilometer Entfernung. Und die Sonne wärmte uns und trocknete unsere Kleider. 68

 


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