Annemarie Schwarzenbach
Das glückliche Tal
Annemarie Schwarzenbach

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IV.

Es wird immer schwerer, sich zu erinnern. Diese Erinnerungen, die ich früher von mir fernhielt – ja, bis gestern! – Ich verbannte sie, ich wollte mich verbannen, kein Exil war mir einsam genug. – Kein Fleck Erde, wo die Winde nicht Eingang finden? – Wo keine Wege sich kreuzen, keine Strasse heimwärts führt? – Ueberall Vogelstimmen, Segel und Wolken, überall Abend und Morgen, Kreislauf der Sterne, Mondlicht in den Zweigen? Ueberall Erde, pulsendes Wasser, duftende Hecken, Jahreszeiten? Hungrig nach sechs Stunden, müde nach sechzehn, Schlaf unter Bäumen, im väterlichen Haus, im Zeltschatten – keine andere Erquickung? – Gras ruft hundert Erinnerungen wach, warmes Heu ist eine Welt von Vertrautheiten. Zu Hause grenzten Wiesen an unseren Garten, im Sommer hörte man frühmorgens die Mäher und stiess die Fensterläden auf. Frühmorgenritte, man bog von der Strasse ab, der Hufschlag der galoppierenden Pferde klang gedämpft auf der Piste des Reitplatzes. Und Alpwiesen, 69 am Rigi, am Mythen, im Engadin! Die Bauern kamen über die steilen Halden, die Kapuze ihres weissen Hemdes über den Kopf gezogen, den Nacken gebeugt unter einem riesigen Heuballen, den ihre kräftigen Arme im Gleichgewicht hielten. – Himbeerpflücken für das Mittagessen, Geruch von Melonen, in der Küche riesige Pfannen voll frisch eingekochter Kirschen, Brombeeren, Aprikosen, und was noch! – Erinnerungen, Vertrautheiten, Tröstungen – ein trockenes Grasbüschel in der Wüste ist zu viel! – Ich tat recht daran: zu verbannen, zu vergessen, die Spuren auszulöschen. Kann man die Meerengen nicht vermeiden, die Arme, Fjorde, Wasserstrassen, die schwedischen Schären, die fauligen Kanäle Venedigs, die man in Amsterdam, in Danzig wiederfindet? Den Bosporus, das Schwert des Islams in Spanien – über Cypern, über den Ruinen von Antiochia, über der Kathedrale von Tartous die Fahnen der Kreuzfahrer? Ich wollte fremde Häfen entdecken, wallend von rostbraunen Segeln –, einen Wald von Masten, Sirenen, Fischerbooten, Weinschenken, Spelunken. Ich habe einen Abend 70 auf den Hügeln von Cypern zugebracht und auf den Hafen hinabgeschaut – wie hiess er? – Draussen auf dem blauen Wasser lag ein italienischer Dampfer, die Flagge gehisst, die Brücken blendend weiss. An seiner Seite eine niedrige Barke, das Deck gepferchtvoll mit Maultieren, die man auf den Dampfer verlud. Man legte ihnen Bauchgurten an, ein Kran hisste sie empor. Ich sah sie mit hilflosen Hufen hängen. Dann sah ich eine Flotille von Barken sich vom Hafen lösen, sie bedeckten die ganze Bucht, ihre abendroten Segel waren gebläht, sie überholten einander, schossen hinaus, legten sich zur Seite, umkreisten den Dampfer – braune Knaben erkletterten die Reling, die weissbärtigen Alten im Turban reichten ihnen Körbe hinauf, gefüllt mit Muscheln, Glasperlen, Stickereien und schweren Trauben . . . Abend auf Cypern, Abend auf dem Berge Karmel, über den Lichtern von Haifa, Abende in Beyrouth mit Mahmut, dem Schuhputzer. Schwarze Augen, gebuckelte Stirn, Kindermund, dicke Locken quellen unter dem Rand des roten Fez hervor, der gefältelte Boden der weiten Pumphose schwappt 71 beim Gehen wie der Fettschwanz eines Schafes. Mahmut und ich tranken Kaffee, wir sassen unter schwatzenden Arabern, am Strand, bei den Felsriffen aus Tuff, Korallen, Meerschaum. In unsrem Rücken die Stadt, die weissen Häuser, die belebten Strassen, die Antiquitätenhändler, die Warenhäuser, die Arabergassen, die Höfe im Dunkeln, die Moscheen, die Bäder.

Und ein Tag am einsamen Ufer von Byblos. In den lauen Salzfluten, den Schaumkronen, gebettet im warmen Sand. Jenseits der Felsen braune Ackererde – 72 zur Linken die Anmut griechischer Säulen. Die alte Stadt Byblos wiegte sich auf Klippen über dem Mittelmeer! Sie grüsste Aegypten und Griechenland! – In meinen Träumen schwangen Kirchenglocken: im nächsten Dorf fand ich Kruzifix und Heiligenbilder.

Es war der neunzehnte Januar.

Welchen Jahres?

Den Glocken die Zungen ausreissen, sie begraben, sie vergessen. Die Säulen Griechenlands stürzen. Die Ruinen von Byblos hinter sich lassen. Sich befreien von Jahr und Tag! –

In Beyrouth trennte ich mich von meinem Freund Fred. Am letzten Tag gingen wir noch in alle Antiquitätenläden, um für ihn ein Andenken zu kaufen. Er nahm einen gelben Seidenmantel mit, eine Klinge aus Damaskus, eine Decke aus Ziegenhaar und ein kleines Löwenhaupt aus weissem Alabaster. Ich hatte um dieses Stück lange gehandelt und mein Herz hing daran. Breite Katzenstirn, aufgerissener Kiefer, schmale Augen, Schläfen, Nacken: alles vollendet – es störte nicht, dass ein Ohr beschädigt war, dass ein Sprung über 73 die durchsichtige Schädeldecke lief. – Am Abend, im Hotel, verpackte Fred alle Andenken. Dann gingen wir zum Hafen, Mahmut trug das Gepäck. In einer Stehbar tranken wir Raki. »Zum letztenmal«, sagte Fred. Milchweisses Getränk, süsslicher Anisgeschmack – wir hatten es in Ankara zusammen getrunken. In Kaiserie, in Konya, Aleppo, Rihanie, Baalbek. Und nie mehr. Fred reiste nach Triest, Mailand, Zürich, Berlin.

»Grüss die Freunde!« – Wir würden nicht mehr von Zürich und Berlin sprechen, von den Freunden, von den alten Gewohnheiten. – Im letzten Augenblick wollten die Zollbeamten Fred zurückbehalten, weil sie in seiner Handtasche den Revolver fanden. Ich musste mit dem Kontrolleur, den sie geweckt hatten, Kaffee trinken und ihn beschwichtigen. Mahmut raufte sich mit den Wachtsoldaten und wurde eingesperrt. Fred wurde in Eile zum Motorboot geführt, schon stiess es vom Ufer ab und verschwand in der Dunkelheit. Draussen heulte die Sirene des Dampfers. Fred war fort, der Kontrolleur lud mich zu einer zweiten Tasse Kaffee ein. Er trug 74 Pantoffeln und eine französische Uniform. Ich bat ihn, Mahmut freizulassen. Es dauerte lange. Das Schiff hatte längst die Hafenbucht verlassen, als Mahmut und ich durch die leeren Strassen zum Hotel Metropole zurückgingen. Fred schlief wohl schon in einer weissen Kabine – mit ihm das kleine Löwenhaupt. Ich hatte die Andenken fortgeschickt. Ich wollte, dass mein Gepäck immer leichter werde. Keine Gegenstände, keine Bilder, keine Bücher. Keine Namen. Und kein Dach über dem Kopf . . .

Ich wollte unbeschwert sein: hatte ich vor mir einen so weiten Weg? – Und kein Ziel! – Die Städte nicht für mich gebaut, die Türme ohne Gruss, die Gebete in fremden Zungen – kein Haus zu meinem Empfang geöffnet, keine Lampe unter dem Hoftor, um mir den Heimweg zu weisen. Ich begegnete Menschen, sie wurden Freunde – niemals Weggenossen. Ah, welche Trennungen, welche Abschiede! Vor jedem neuen Aufbruch zerriss mich die Angst: allein aufzubrechen. Und doch: so, wie man zögert an der Grenze zwischen Nacht und Tag, kurz vor der 75 Morgendämmerung, und sich sagt »Es wird nie wieder Tag werden«, während schon violettes Licht über den Horizont gleitet, die strahlende Wiedergeburt ankündigend – so brachte die erste Stunde des Aufbruches reichlichen Trost. Das Herz wurde leicht, leer, nüchtern, empfänglich. Die Angst fiel von mir ab. Vor mir eine weisse Strasse, eine Wüstenspur, ein Gebirgspfad, ich weiss nicht, wo sie enden – dem Himmel sei gedankt! – Eine Sekunde lang ahne ich die Befreiung . . . und die Stadt, der ich soeben den Rücken kehrte, bleibt in Ruinen zurück. – Habe ich mich wirklich geborgen gefühlt in ihren Mauern? – Mich eingenistet in den Gärten der Freunde, mit ihnen am Feuer gesessen, am Abend mit ihnen den Schein der Lampe geteilt, und ihre Mahlzeiten, ihre Gewohnheiten, ihre Freuden? Wurde ich einer von ihnen, hörten ihre Hunde auf meinen Pfiff und erkannten meinen Schritt, wenn ich in die Strasse einbog, das Gartentor öffnete, die Treppe hinaufstieg zu dem Zimmer, das schon mein Zimmer geworden war? – Ich: Gast, Fremder, Abenteurer, was noch – neugierig, wissensdurstig, ungeduldig, 76 unterwegs –, allein. Aber sie vergassen es. Sie nahmen mich auf. Und begierig, zu erfahren, wie sie leben, lebte ich mit ihnen.

Welche Versuchung: mit ihnen leben. Mit euch. Zusammenleben. – Die Steppe brennt nicht mehr, die Nacht ist ohne Flammen. Die Gletscher sind weit. Die Sonne geht nicht mehr über der Wüste auf. Die Wüste ist ungeborenes Land. Das Meer hat sich geteilt: nur die Strassen der Schifffahrt bleiben übrig. Am Morgen schreien die Hähne. – Zum drittenmal? –

Welchen Meister hast Du verraten? –

Halt! – Die Gedanken anhalten, die Versuchungen – und die Decken abschütteln: es ist Zeit.

»An die Arbeit! – Freunde, Kameraden, an die Arbeit!« – Der Ruf entzückte mich. – »Kameraden!« – auch ich war gemeint. Sie fragten mich nicht, woher ich gekommen sei. Ich brauchte keine Herkunft. Ein Paar starker Arme, ein gewappnetes Herz. Mit was hatte ich bisher meine Zeit verloren? – Verlorener, Heimatloser, Müssiggänger auf allen Strassen, den Winden, der Kälte, dem Hunger preisgegeben. Immer allein, vorzustossen bis an den Rand 77 der Abgründe, in ihnen kochte noch flüssiges Gestein, das unverfälschte Herz der Erde. Was hatte ich dort zu suchen? – Tage, bis zu taumelnder Erschöpfung – und Schlaf, der nicht erquickte –, wandernde Flammen am Horizont. Trotzdem, im Morgengrauen, raffte man sich wieder auf, das Herz warf sich unbekannten Tröstungen entgegen. Und fand sich wieder in den Einöden, unter dem fürchterlich leeren Himmel . . .

Vorbei, vergessen – ich bin müde, ich bin unter euch, ich bleibe. – Ein Zufall hat mich nach Ankara geführt. Wie lang blieb ich? – Man gab mir ein Pferd zu 78 reiten, einen Goldfuchs, eine junge Stute. Sie hiess Büske und war voller Anmut. Sie begrüsste mich wiehernd, wenn ich morgens den Stall betrat. Ein türkischer Soldat legte ihr den Sattel auf und führte sie in die Reitbahn. »Sie braucht noch viel Arbeit«, sagte der ungarische Trainer – »aber sie hat Chancen, in drei Monaten das Klubrennen zu gewinnen.« – Arbeit jeden Morgen, und weicher Galopp auf dem Steppenboden, der den Hufschlag dämpfte. Nachher plauderte man in der Bar, fachmännisch: emanzipierte junge Türkinnen in schlecht sitzenden Reitanzügen, Offiziere, ausländische Diplomaten, Trainer, Pferdeknechte. – Aber ich wartete das Rennen nicht ab. Ich überliess Büske fremden Händen. – Hätte man in Ankara nicht leben können? – Ich kannte alle Strassen, Clubs, Geschäfte. Ich wusste, wie den Autobus anhalten, der mich nach Yenischehir brachte. Nur noch einige Schritte bis zu dem kleinen, weissen Haus, in welchem ich wohnte. Längst hatte ich aufgehört, abends auf den Burghügel zu steigen und in die Steppe hinauszuschauen. Ich wohnte in der Stadt, ich hatte neue 79 Gewohnheiten, der Tag war ausgefüllt. Und es war der Anfang des Winters – die Kurden am Rand von Ankara froren in ihren Hütten. Und die Wohltat warmer Stuben, im Lampenschein – in der Küche nebenan Tellerklappern, Duft von Apfelstrudel. Die Freunde waren Oesterreicher.

Warum bin ich nicht in Ankara geblieben? – Jetzt, wenn ich daran zurückdenke, höre ich wieder den Steppenwind. Ich gehe wieder der Strasse entlang, die – wie viele der neuen Strassen dort – nirgends hinführte und im Gras der Wildnis versickerte. Ich sehe wieder die samtigen Hügel im Abendlicht: violette, rote, nachtblaue, flammend gelbe Streifen teilten den Himmel. Und ich höre wieder das eintönige, ächzende Schreien der Ochsenkarren, die auf ihren Scheibenrädern aus schwerem Holz seit tausend Jahren Spuren in die Erde Anatoliens graben. »Nachtigallen« nennt sie der Volksmund. Ihr Gesang rollt wieder über die Steppe. Ich höre ihn wieder . . .

Den Spuren folgen? – Den wandernden Nomadenfeuern? – Kalter Glanz liegt auf den erfrorenen Ebenen, in den Dörfern 80 bellen die kleinen Windhunde, die Hütten sind verschlossen, Rauch qualmt durch die Lehmwände. Kälte in Kaiserie, Kälte in Konya: jenseits des Taurus muss es mildere Gegenden geben.

So kam ich, eines Tages, nach Rihanie, einem syrischen Dorf, eine Stunde von Aleppo entfernt. Wollte ich nicht Ausgräber werden? – Ein Handwerk ausüben! – Das Haus der amerikanischen Expedition lag auf einer Anhöhe, man konnte den Fluss Afrin überschauen und die weite Ebene mit ihren dunklen Ruinenhügeln. Unser Hügel hiess Chatal Hüyük. Da gab es Arbeit, alle Hände voll zu tun! – Erdschichten von Jahrhunderten abzutragen, arabische, byzantinische, hellenistische, assyrische – Mauerreste, Gräber, Häuserquartiere, Tempel – Tonkrüge und Urnen, Siegel und Spindelgewichte, Stiftungsnägel, Votivtiere, kleine Gottheiten, Skelette, Scherben. Ein Fordauto voll Scherben brachten wir abends nach Hause! – Regt euch, keine Zeit zu verlieren. Regengüsse schwemmten die Gräber fort, zerstörten den Plan der Häuser. Verzweiflung des Architekten. Der Direktor schrieb einen 81 Bericht nach Chikago, die Whiskyflasche neben sich. Die Mahlzeiten des ägyptischen Kochs waren üppig. Mein Freund Bob und ich fuhren nach Alexandrette und holten einen Weihnachtsbaum. Um sechs Uhr, jeden Abend, hörten wir mit der Arbeit auf und tranken Raki am grossen Kaminfeuer. Wohlverdiente Ruhe, wohlverdienter Schlaf in unseren Zimmern, in denen die Petrolöfen brannten. Am frühen Morgen brachte uns Mohammed heissen Tee, um uns zu wecken; man hörte ihn auf den Steinfliessen des Hofes von Türe zu Türe gehen. Und dann war alles auf den Beinen, in hohen Juchtenstiefeln, wollenen Hemden, und versammelte sich im Esszimmer. Kaffee, Bananen, Haferflocken, Eier, Orangenmarmelade, und noch einmal Kaffee. Im Hof sprang der Motor des Lastwagens an. Mac sah auf die Uhr, steckte ein Paket Zigaretten in die Brusttasche. Auf der Strasse zum Chatal Hüyük überholten wir unsere Araber: zweihundert Arbeiter. Frauen und Knaben als Korbträger . . .

Winter in Rihanie. Ich bin Ausgräber geworden. Ich gehöre zur Zunft. Bob und ich werden nach Beyrouth geschickt, um 82 eine Keilinschrift, die wir nicht entziffern können, der amerikanischen Universität zu übergeben. Wir fahren mit Hussein, dem türkischen Chauffeur. Auf der hölzernen Türe unseres »Ford-Station-Car« steht in weissen Lettern der Name unserer Expedition. Wir fahren nach Homs, nach Baalbek, Damaskus. Wir fahren über den Libanon und wieder nach Aleppo, der Küste des Mittelmeeres entlang. Nach zehn Tagen kommen wir nach Rihanie zurück. Die gewohnte Arbeit beginnt wieder. Winterregen in Rihanie . . .

Und die Bauern auf ihren Feldern. Petri Fischzüge. Wir lesen Münzen unter dem Mikroskop. Wir kennen chemische Verfahren, um die Herkunft des Tons zu prüfen. Nächstes Jahr werden wir im Flugzeug neue Ruinenstätten entdecken. Wir werden die Kamera an einem Ballon befestigen und die Geschichte der Völker photographieren. Unsere Methoden werden immer fortschrittlicher. Wir werden einen Kran haben, um die Erde fortzuschaffen –, wir werden die Korbträger-Knaben nicht mehr bezahlen. In Rihanie liegen die neuesten Zeitschriften auf. Die jüngsten 83 Entdeckungen. Die Zeichentische der Architekten. Die Zirkel der Anthropologen. Die Baumwollpflücker Amerikas. Die Arbeiter am laufenden Band. Jeder an seinem Platz. Und pünktlich! – Triumph der Technik! – Die Astronomen zählen die Sterne. Die Völker marschieren. – Um Brot? –

Lasst euch nicht beirren. Die Arbeit! . . . Die Arbeit des Menschen . . . Da wird es zum Schreckensruf: Jeder an seinem Platz! – Von einem Dachziegel erschlagen, von einer Bombe. Hat jeder seine Pflicht getan, das Seine beigetragen? Rette sich, wer kann!

In Rihanie wurde weiter gegraben, jetzt waren wir schon bei den Schichten der Hettiter, und ein lauer Frühling setzte ein. Die Ebene wurde grün, und der Anblick der dunklen Scherbenhügel, längst vertraut, konnte uns nicht mehr erschrecken.

Ich hatte mich daran gewöhnt, »wir« zu sagen, laut und vernehmlich. Ich fragte mich nie, ob ich das Expeditionshaus liebte, ob ich meine Kameraden liebte, ob ich die Arbeit liebte, die ich tat. Wir hatten vergessen, dass mich ein Zufall nach Rihanie geführt hatte.

84 Der Abschied wurde mir schwer.

Ich hätte doch in Rihanie bleiben können. Man hatte mir auch angeboten, nach Ras Shamra zu gehen, auf jene wunderbar vielseitige und fruchtbare syrische Ausgrabung, wo Herr Schaeffer erst kürzlich eines der frühesten, vielleicht das erste Alphabet entdeckt hatte. Und mindestens sechs Sprachen waren in jener Stadt gelehrt worden, Schüler aller Völker hatten ihre Bibliotheken gefüllt, Händler aus allen Ländern ihre Waren ausgetauscht – Stile, Kulte, Gottheiten waren sich begegnet, Priester aus Aegypten, Sternkundige aus Ur und Babylon, Vasen von Kreta und Cypern. Ich hätte in Ras Shamra teilnehmen dürfen an jener passionierenden Forschung nach den Anfängen der Geschichte, den Wanderungen und ersten Entfaltungen der Menschheit. Die Erde selbst als Bewahrerin ihrer Geheimnisse! – Der Hügel, in den man vorsichtig eindringt, um keine Zelle zu zerstören, wie das Seziermesser in das Gewebe der Haut –, dieser dunkle, ebenmässig geglättete Hügel ist nicht natürlichen Ursprungs, seine Schichten sind keine 85 geologischen Ablagerungen –, in einer sanften Senkung glaubt man die Stelle des einstigen Stadttors zu entdecken –, und dort, wo in einer deutlich abgerundeten Erhöhung die Kräfte sich zu sammeln und zu steigern scheinen, wo die Oberfläche bis zum Bersten gespannt ist wie über dem muskulösen Nackenbuckel eines Zebus, dort vermutet man Tempel, Zitadelle und Königspalast –, die Macht der Regierung, der Schrecken der Gerechtigkeit, die göttlichen Ordnungen und menschlichen Satzungen nahmen von jenem heute noch sichtbaren Zentrum ihren Ausgang und beherrschten das Leben der Bewohner bis zu den letzten Ausläufern des Hügels, kaum merklichen Bodenwellungen, den wenig stabilen Aussenquartieren der alten Stadt.

Zurückzufinden bis zum Boden Syriens! – Die Kirche und die Fresken der Synagoge von Doura-Europos sind noch leicht zu entziffern, die Tempel des Mithras, die Kasernen der römischen Legionäre, die von den Persern mit Brandfackeln und Wurfgeschossen eroberten Wälle, zwischen deren Mauern man die vornüber gebeugten Skelette im Rauch erstickter Soldaten findet.

86 Aber die Altäre von Petra! Die mysteriöse Stadt in Transjordanien, die »rosafarbene Stadt«, deren Kamelkarawanen so gross waren, dass sie marschierenden Armeen glichen –, der viereckige Stein Dusharas, des nabatäischen Sonnengottes –, und der runde Tempel –, man muss bis in das Bronce-Zeitalter zurückgehen, bis nach Yemen in Arabien, um sich seinen Ursprüngen zu nähern . . .

Welche Chancen habe ich ausgeschlagen, als ich Rihanie verliess? Auf welche Befriedigungen verzichtet? – Das tägliche Brot, die tägliche Arbeit, das täglich sich mehrende Wissen, eine Form des Lebens, in ständiger Fühlung, in ständigem Austausch mit den Lebensäusserungen der Menschheit: wäre ich nicht getragen worden vom Strom ihrer Schicksale? Hätte ich nicht hinabsteigen können durch die Schichten der Jahrhunderte, Schichten aus gebranntem und ungebranntem Lehm, aus Tonscherben, niedergebrochenen Häusern, gestürzten Tempeln, in Erde zurückverwandelten Gräbern, hinab durch die längst verrauschten Feste, die vergessenen Gottesdienste, die gefeierten und vergessenen 87 Triumphe, Brandschatzungen, Erdbeben und Auferstehung – hinab bis zu den tiefsten Brunnen?

War dies alles ein Linsengericht für meinen Hunger, dass ich es ausschlug?

Ich sah uns über die Totenschädel unseres Hügels gebeugt, eine fröhliche Zunft. Wir wurden blind über den tausend Spindelgewichten, die wir zählten, wogen, zeichneten und mit einer Katalognummer versahen –, den Münzen, die wir unter dem Mikroskop entzifferten, den Scherben, die wir fleissig zusammensetzten wie die Kinder ein Puzzlespiel.

»Jeder kann nur das Seine tun, ein winziges Teil beitragen, nur einen Fussbreit vorrücken . . .«

– Auf welchem Weg? Zu welcher Erkenntnis? Zu welchem Ziel? – Und ich dachte auch an andere Berufe: an Aerzte, Ingenieure, Förster, Priester, Pferdeknechte, an Bauern und Soldaten. Ist das Leben des Pferdeknechtes ärmer als das des Archäologen? – Ein verwundeter Soldat bedürftiger als der Arzt, der ihm das Leben rettet? – Gibt es Rangunterschiede der Befriedigung, Rangunterschiede der 88 Arbeit –, unterscheidet Gott zwischen den armen und den reichen Opfern, deren Rauch vermischt zu ihm aufsteigt? – Höchst verwerflicher Gedanke! – Kein Abendländer würde ihn aussprechen –, vergesse ich die Fundamente der christlichen Gesinnung?

Aber ich habe den Sitten des Abendlandes den Rücken gekehrt. Und ich frage mich: um welchen Preis erkaufen sie dort den Frieden ihrer Seelen?

Es gehört zu den erprobten Hilfsmitteln der Nervenkliniken, ihren Patienten einen genauen Tagesplan vorzuschreiben, der die Kranken beschäftigt, ablenkt und vor leeren Stunden bewahrt. – Ausgefüllt mit Lektüre, Kartenspiel, Mittagsruhe, Spaziergang, Kunstgewerbe, vergeht der Tag schnell und verschafft dem Kranken auch noch die Befriedigung, ihn auf normale Weise verbracht zu haben. – Tatsächlich, die Gesunden, die normalen Alltagsmenschen, machen es nicht viel anders. Mögen sie Arbeiter sein oder Astronomen, die sich mit der Zählung der Sterne beschäftigen, oder Steuerbeamte: erschrecken sie nicht alle vor der Begegnung mit dem Himmel? 89 – Und reden sich ein, die Natur zu lieben! – Ein Mann, einen Abend allein in seinem Zimmer, kann sich nicht entschliessen, ins Kino zu gehen. Er ist ein guter Bürger, tüchtig in seinem Beruf, frei von Lastern. Aber was soll er mit sich allein anfangen, wie soll er dieser nächtlichen Stille begegnen? – Da dreht er wenigstens sein Radio an.

Die Nervensanatorien Europas sind überfüllt. Die Heere sind gerüstet. Die Jugend ist diszipliniert. Die Maschinen funktionieren. Der Fortschritt ist unterwegs. – Und ganze Völker werden von Psychosen erfasst. Einzelne heilt man mit »Arbeits-Therapie« und führt sie in das normale Leben zurück. Das normale Leben . . . wie tief reichen seine Wurzeln noch? Aus welchen Quellen nährt es sich?

Ich liege wieder am Strand von Byblos und lausche auf den Klang einer christlichen Glocke.

Und es ist, noch einmal, ein Gruss von dort!

– Soll ich eingestehen, dass ich Heimweh habe?

– Vielleicht tragen sie im Dorf ein 90 Sarazenenkind zur Taufe: ein französischer Mönch gibt ihm den Segen und wird über seine zarte Seele wachen. – Missionare, Mönche, Priester, Nachkommen der Kreuzritter –, Syrien ist voll von ihnen. In Beyrouth allein muss es ein Dutzend christlicher Bischöfe geben. Einer für die Armenier, die in ihren Flüchtlingsbaracken aus Pappdeckel und Blech hinter Stacheldraht zugrunde gehen. Einer für die Nestorianer, einer für die Maroniten, ein anderer für die Alaouiten, deren blonde Kinder Frankenblut in den Adern haben.

Die Tscherkessen in den Dörfern im Norden brauchen einen Seelsorger. Und die Drusen in ihren Bergen müssen bekehrt werden. Wir müssen die Sarazenenkinder pflegen, die Armen, die Kranken, die 91 Blinden, die Krüppel –, die Türken, die Heiden und Muselmänner. Die Messe wird lateinisch gelesen, aber auch griechisch, armenisch, syriakisch. Wer versteht noch syriakisch? – Es ist dem Aramäischen verwandt, der Sprache Christi . . .

Die Mönche trinken syrischen Wein, sie befolgen die Ordensregeln und halten das Zölibat. Sie führen in ihren Klöstern an den sanften Abhängen des Libanon ein Leben der Armut und Keuschheit. Und ob sie glücklich sind! – Seit dreissig Jahren in diesem Land, wohlgelitten. Sie weihen neue Kapellen ein. Sie taufen. Sie lehren in ihren Schulen. Sie beteiligen sich auch an Wissenschaft und Forschung. Sie wetteifern mit den Archäologen. Glückliches Leben, glückliches Leben – fern von den Schlachtfeldern, den profanen Schauplätzen.

Werden irgendwo Schlachten geschlagen?

Auch ich bin ihnen entgangen, allen Gefahren glücklich entronnen, ich habe Arbeit gefunden, eine friedliche Existenz, das Glück wird sich einstellen. Ich werde es mir verdienen. Und werde heimatberechtigt sein. Wie der Bauer hinter dem Pflug. Wie 92 die Professoren an der Universität von Beyrouth, wie die Studenten, wie die Archäologen, die Väter und Söhne. – Denn die Söhne finden heim, und ein Kalb wird für sie geschlachtet.

– Wie ich ihn –, als man mir noch die biblischen Geschichten vorlas, verachtet habe: Den verlorenen Sohn! Sein Mut reichte nur so weit wie sein väterliches Erbteil. Der Hunger machte ihn mürbe, da bekehrte er sich und bereute. Nannte er es Liebe, als er sich seinem Vater zu Füssen warf? – Deserteur, Feigling, Betrüger –, wäre er bei seiner Schweineherde geblieben!

Aber ich habe Heimweh . . . Eine Barke hat mich am Strand von Byblos ausgesetzt –, eine Barke mit zerrissenen Segeln. Jetzt wiegt sie sich auf dem Wasser, die ruhigen Wogen schaukeln sie sanft, ich sehe sie, einen dunklen Rumpf, abgetakelte Maste, ein Wrack, sich abheben gegen einen flammenden Abendhimmel –, gegen Westen.

Aber es gibt andere Schiffe, grössere, schnellere, mit geblähten Segeln, mit Fahnen, mit weissen Brücken, mit 93 Luxuskabinen, mit rauchenden Schornsteinen, stampfenden Maschinen, Lotsen, Kapitänen, Fahrplänen. In Beyrouth in den Reiseagenturen wird man mir die Abfahrtszeiten sagen und ein Billett ausstellen auf meinen Namen. Legal, mit ordentlichen, auf meinen Namen ausgestellten Papieren werde ich in Europa landen. In Triest. In Athen. In Marseille. – Ich brauche mich nur zu entschliessen. –

Ich hätte mich nur zu entschliessen brauchen, in Rihanie zu bleiben –, man hätte es mir leicht gemacht. Ein Jahr in unserem Expeditionshaus, vor dem Kaminfeuer. Blick über die dunstige Orontes-Ebene, über die Erde Syriens, bis zu den fernsten Ruinenhügeln, bis zu einem wunderbar milden Horizont. Dreissig Jahre auf den syrischen Tells, ich würde Wurzeln schlagen! – Denn man hat nur ein Leben, und es will nicht verschwendet und vergeudet sein. Man tut gut daran, sich rechtzeitig zu besinnen. Welchen Wegs, Fremdling?

Jäher Schrecken: wer hat es ausgesprochen? Wer hat es gewagt? Nur ein einziges Leben! – Nicht zehnmal, nicht 94 dreissigmal? Wer hat mich nach meiner Herkunft gefragt? Genügt es nicht, einmal Abschied zu nehmen, Aufbruch zu feiern, einmal eine Stätte zu finden? – Die Hähne schreien, zum wievielten Male –, nicht für mich! Ich habe meinen Bruder nicht verraten, und ich bin müde von meinem Tagewerk; lasst mich schlafen, eine Stunde noch, eine einzige Stunde!

Aber es war zu spät. Das Licht eines neuen Morgens weckte mich, und die Fanfaren des Aufbruches liessen die Erde erzittern. Die Fensterscheiben klirrten, draussen wallte Nebel über die Ufer des Afrin, die Ebene war verhüllt, nur die dunklen Ruinenhügel ragten hervor wie die Häupter schlafender Seelöwen. Der milde Horizont Syriens? Vertraute Sonnenaufgänge? – Aber ich sah alles zum erstenmal! War ich, bisher, blind gewesen? Wie lange schon in diesem Land, und nichts gesehen! – Mit Bob auf den grossen Strassen gefahren, und nichts gesehen! Gearbeitet, gelernt, satt geworden, am Morgen früh aufgestanden, erquickt von guten Nächten, und mit den Kameraden den Tag begonnen.

95 Ach, es war ein gutes Leben, in einem gesegneten Land . . . Warum komme ich mir jetzt vor wie ein Feigling, Deserteur, Betrüger? – Ich, der ich noch mein Heimweh gestehen muss nach vertrauten Ufern, Hügeln, Kirchtürmen –, ich, der ich Einlass begehrt habe vor fremden Türen –, ich, Gast im Lampenschein! Was wird aus mir? –

Werde ich eines Tages bereuen? Und nicht mehr umkehren können?

Werde ich eines Tages den Heimweg nicht mehr finden?

Zu spät! – Mein Gott, ich werde zu spät bereuen . . . 96

 


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