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Dreizehntes Kapitel

In den Bergen. – Winifred liegt auf dem Balkon und schreibt einen Zettel. – »Bitte, später!« – »Wie gut hab ich's doch!« – Eine Wendung und eine Drahtnachricht. – Keine lichte Gestalt mehr. – Wohin Wolf-Dieter sich schleicht, und wie Zinna ihre Pflicht tut. – Ein Pfiff im Walde und ein Kuß auf die Türschwelle. – »Fürstin, ich muß fort!«

 

Der Aufenthalt in dem Sanatorium, wo die junge Komtesse nach einer gründlichen Untersuchung zur Beobachtung behalten wurde, war vorüber, und die Herrschaften waren nun alle zusammen in einem schönen, mild gelegenen Bergtale der Schweiz, wo man in der köstlichen Luft und in der Ruhe Genesung für die liebe Leidende erhoffte. Auch den Prinzen mit Herrn Binder hatte man nachkommen lassen, und die beiden sowie der Fürst machten fast täglich größere Ausflüge in die Berge, während die Fürstin meist bei Winifred blieb. In dem hübschen, kleinen Schweizerhause mit dem Blick auf die Schneeberge und auf grüne Matten fühlte sich Winifred wirklich stundenweise vollkommen wohl. Sie freute sich, wenn die freundliche Hausfrau ihr frischgemolkene Milch von den Kühen brachte, deren Glocken so melodisch bei Tag und Nacht zu ihr heraufklangen. Sie freute sich, wenn die Kinder des Hauses für sie Blumen suchten und Erdbeeren brachten, und es tat ihr wohl, wenn sie draußen auf dem Balkon, der rings um das Haus lief, liegen konnte, ihre treue Babi neben sich.

Ihre kleinen Arbeiten mochte sie nicht mehr machen, sie war zu müde dazu, aber es war so schön, stundenlang in die herrliche Bergwelt hinauszusehen und sich von Babi erzählen zu lassen, am liebsten immer wieder, wie es war, als Vater und Mutter noch lebten, und wie es war, da man sie selber als kleines Mädchen zu Onkel und Tante gebracht hatte.

»Wie gut hab' ich's doch immer gehabt, immer Menschen, die mich lieb hatten, und die ich lieb haben darf!« Und nach ein paar Minuten setzte sie noch hinzu: »Die arme Zinna, die so ganz anders aufgewachsen ist, – sie verlangt so heiß nach Liebe!«

Wieder nach ein paar Minuten bat sie Babi um ihre Schreibmappe und um einen Bleistift. Und sie schrieb – es fiel ihr in ihrer liegenden Stellung nicht leicht – einige Worte auf ein Kärtchen, steckte es in einen Umschlag, den sie zuklebte, und dann sagte sie zu Babi: »Bitte, heb' dies auf und gib es später der Zinna!«

»Warum später, und warum schicken Komtesse ihr den Brief nicht jetzt durch die Post?« fragte diese erstaunt.

Aber das Komteßchen schüttelte den Kopf mit den blonden Locken und sagte nur: »Weil es besser ist, später!«

An einem der folgenden Tage – Winifred fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr, und die Fürstin hatte eben zu Babi gesagt: »Sie werden sehen, jetzt kommt die Wirkung, jetzt heißt's nur hier aushalten, und wir dürfen, will's Gott, unser geliebtes Kind wieder gesund mit nach Hause nehmen!« da rief Winifred die Tante zu sich und sagte: »Tantchen, ich möchte so schrecklich gern den Kindern hier im Hause, die da drunten auf der Wiese spielen, und der Hausfrau und ihrem Manne und den Leuten, die mich bedienen, eine Freude machen!« Sie ließ sich alle ihre kleinen Schätze, die sich zum Verschenken eignen mochten, herbeibringen. Weil die Sachen jedoch nicht ausreichten, ward Babi beordert, morgen in das naheliegende Städtchen zu gehen, um das Fehlende einzukaufen. »Wolf-Dieter soll mit und auswählen helfen, das macht ihm Spaß!«

Sie hatte recht gehabt, der Prinz war froh über diese Unterhaltung. »Da ist's lustiger als bei der Krämerin daheim«, sagte er in dem schönen, für die Fremden eingerichteten Laden, und Babi durfte auch wirklich schöne Geschenke kaufen, denn das Komteßchen hatte ihr einen vollgefüllten Geldbeutel gegeben und gesagt: »Nicht sparen! Ich möchte wirklich allen eine rechte Freude machen – auch etwas, was bleibt, daß sie mich nicht vergessen, wenn ich wieder fort bin!«

»Wenn es nur immer Freude machen kann, unser Kind!« hatte die Fürstin lächelnd gesagt, und als Babi mit dem Prinzen und Herrn Binder, der auch mitgegangen war, gefolgt von Leuten aus dem Geschäft, die allerlei große und kleine Pakete trugen, zurückkamen, da war ein frohes Auspacken und Zeigen, und Winifred bezeichnete noch, wem jedes Stück gehören sollte. Sie speiste auch noch, zum erstenmal nach längerer Zeit wieder mit den Ihrigen am Tische sitzend, auf der Veranda und mußte fast mit Gewalt gemahnt werden, es sei nun höchste Zeit, sich zur Ruhe zu begeben. Kam doch der Vollmond eben so wunderbar schön hinter den Bergen hervor, und ganz aus weiter Ferne ertönte ein Alphorn und das Jodeln von ein paar Sennerinnen, die sich gegenseitig Grüße zuschickten.

Noch in der Nacht schrieb die Fürstin an ihre Mutter einen langen Brief, worin stand: »Freue Dich und danke Gott mit uns, unserem Kinde geht's jetzt entschieden besser!«

Aber wie oft kommt es im Leben vor, daß wir denken, einer großen Sorge entgangen zu sein, und daß der Vater im Himmel dann doch anders über uns beschließt! ...

Es war am Abend des folgenden Tages, als der Schloßinspektor von Alten-Leien sich bei Fräulein Berger melden ließ und, als diese erstaunt fragte: »Was gibt's?« ihr mit zitternden Händen eine Drahtnachricht zum Lesen reichte. »Ich habe sie soeben erhalten ... Was sollen wir tun?«

Die Drahtnachricht, die das alte Fräulein mit bebenden Lippen las, lautete:

»Die Komtesse ist heute früh an plötzlich eintretender Herzschwäche gestorben. Verständigen Sie sich mit Fräulein Berger und teilen Sie es möglichst schonend der Frau Gräfin mit. Wir kehren morgen alle mit der teuren Leiche zurück. Treffen Sie vorläufig alle Vorkehrungen zur Beisetzung. Nähere Befehle folgen sobald wie möglich.

Fürst zu Alten-Leien.«

Und sie waren alle gekommen, und alles war ordnungsmäßig verlaufen. Wieder läuteten wie vor Jahren bei der Geburt des Prinzen die Schloßglocken mit denen der Dorfglocken zusammen. Wieder gab es viele Menschen, die herbeigekommen waren. Alle versammelten sich wie damals in der kleinen Kirche. Aber keine bunten Farben sah man. Und dort am Altare unter dem goldenen Engel stand keine lichte kleine Gestalt mehr. Unten in der Gruft, da, wo die Familienmitglieder des fürstlichen Hauses ruhten, ward ein weiterer Sarg hinzugestellt. Die kleine Komtesse aber war gleich der Sibylla von Alten-Leien »von den heiligen Englein in den Himmel getragen worden«.

 

Der Alltag war wieder eingekehrt oben auf dem Schloß. Wenn ein Menschenkind von dieser Erde abberufen wird, so ist es anfangs, als könnte seine Stelle nicht ausgefüllt werden. Aber das Leben geht weiter, und Gott will auch gar nicht, daß die Menschen sich für immer ihrem Schmerze hingeben, dazu haben wir viel zu viel auf der Erde zu tun, und im Erfüllen unserer Pflichten liegt der beste Trost.

Die Fürstin nahm sich wieder ihrer Armen an, doppelt derjenigen, die Winifred besonders geliebt und bevorzugt hatte. Der Fürst arbeitete, ritt, ging auf die Jagd und verwaltete seine Güter. Wolf-Dieter mußte nun wirklich ernstlich lernen, und damit er nicht gar so allein sei, nahmen die gleichaltrigen Kinder des Pfarrers und des Lehrers vom Dorf an seinen Stunden teil. Im Garten und Park blühten in den letzten bunten Herbstfarben Astern, Dahlien und Georginen, und die Gärtner bargen bereits da und dort die empfindlicheren Pflanzen in den Gewächshäusern. In der Küche wurde gekocht, in der Wäschestube genäht und gebügelt, und Zinna hatte nun wieder mit Nannette gewechselt, sie war von neuem drüben unter Babis Obhut.

Nach außen hin schien alles wie früher, und doch hatte ein jeder im Schlosse tief innen das Gefühl, als fehle das Beste. Es war die liebe, lichte Gestalt mit dem stets freundlichen Lächeln, mit den herzlichen Worten oder Blicken für einen jeden und den Händen, die sich nach Leid ausgestreckt und es durch Geben zu mildern versucht hatten.

Die Großmama war nach diesen Tagen plötzlich grau und alt geworden, aber sie hielt sich rüstig aufrecht. War sie ja doch diejenige, die am nächsten hoffen durfte, den dahingegangenen Liebling wiederzusehen.

Bei Tisch war angesichts des leeren Platzes, den hauptsächlich der Fürst noch kaum ertragen konnte, der kleine Prinz eine wahre Wohltat. Er hatte nach Kinderart zuerst ein paar Tage lang bitterlich geweint und immer wieder die Frage gestellt, ob denn seine Winifred wirklich nicht mehr komme. Aber dann gab es neue Pferde im Stall und im Gärtnerhause ein zahmes Reh und junge Hasen, was er alles nun den neuen Lerngenossen zeigen konnte. Und so erscholl gar bald wieder fröhliches Lachen und seine lustige, etwas befehlende Stimme durch alle Räume. Nur des Abends etwa, wenn man sich nun wieder vor dem Zubettgehen beim wärmenden Kaminfeuer versammelte, wenn die Großen lasen oder sich von Dingen unterhielten, die ihn gar nicht interessierten, da faßte manchmal das Dieterle, wie Winifred so gerne gesagt hatte, etwas wie Unbehagen. Es litt ihn nicht bei den andern, und allein mochte er doch auch nicht sein. Da konnte es nun vorkommen, daß er sich durch die Gänge die Treppe hinauf zu Zinna schlich, die meistens um diese Zeit arbeitend in ihrem kleinen Zimmer saß. Da vergaß er ganz, daß Zinna eine Zigeunerin war. Bei ihr allein mochte er von Winifred reden, sie allein fing nicht gleich an zu weinen wie die Babi und die andern, so daß es einem selber zu dumm in die Augen kam, wo man doch ein Junge war und so etwas hinunterschlucken mußte.

Gleich nach dem ersten Tage, nachdem die Begräbnisglocken verklungen waren, hatte die Fürstin Zinna Winifreds Briefchen übergeben. Sie hätte gerne gewußt, was darin stand, aber Winifred hatte es zugeklebt, und Zinna nahm es mit sich auf ihre Stube. Dort ganz allein riß sie den Umschlag auseinander und las die mit Bleistift geschriebenen Worte: »Hab lieb, und man wird Dich wieder lieb haben! Es hat dich sehr lieb gehabt Deine kleine Komtesse.«

 

Zinna hatte während der ganzen schrecklichen Zeit, vom Eintreffen der Todesnachricht bis zu dem Augenblick, wo der schmale, weiße Sarg mit den goldenen Handhaben in der Gruft verschwunden war, keine Träne vergossen. Sie war sich selbst ein Rätsel, alles war in ihr wie ausgetrocknet. Mochten die Leute tausendmal sagen: »Nicht einmal weinen tut sie, die Zinna, und die Komtesse war doch so besonders nett zu ihr!« – alles war ihr gleichgültig gewesen. Aber nun, angesichts dieser mühsam geschriebenen Worte, die an sie, sie ganz allein, gerichtet waren, da brach der Schmerz mit größter Gewalt durch, und vergebens rief Babi zum Mittagessen und später zur Arbeit, Zinna hatte sich eingeschlossen und wollte keinen Menschen sehen.

Die Babi hätte sie wohl am besten verstanden, aber diese war, wie der kleine Prinz ganz richtig fühlte, gänzlich fassungslos. War ihr doch auch gleichsam der Boden unter den Füßen genommen, denn nach dem Hinscheiden ihres geliebten Herzenskindes war ja eigentlich ihres Bleibens im Schlosse nicht länger, man hatte keine Beschäftigung mehr für sie. Nachdem einmal des Komteßchens Zimmer geordnet war, viele ihrer kleinen Dinge noch als Andenken weggegeben worden waren, und man auch alle ihre Kleider und Spielsachen verschenkt hatte, wurde die Wohnung oben fest verschlossen. Der Hausmeister reihte die Schlüssel dazu an seinen großen Bund zu all den andern, und damit war erst so recht alles aus und vorüber.

Die Fürstin und die Großmama zerbrachen sich vergeblich den Kopf, was sie tun sollten. Babi, die treue, die dem Hause so viele Jahre gedient hatte, wollten sie nicht von sich lassen, und doch wußten sie ihr keinen Platz anzuweisen. Da war's nun wie eine Schickung, daß Fräulein Berger wegen ihres Gichtleidens und ihres Alters wirklich ihren Dienst nicht mehr versehen konnte und sich zur Pflege in ein Stift für alte Fräuleins zurückzog. Nun konnte Babi an ihre Stelle treten.

Die gleichen Bedenken, nur wieder ein bißchen anderer Art, gab es aber auch mit Zinna. Auch sie mochte die Fürstin nicht ohne weiteres gerade jetzt entfernen, und doch war kein Platz und keine Arbeit mehr für sie vorhanden, und Zinna selber fing an, dies auf das qualvollste zu empfinden.

»Was tun wir mit ihr, was fangen wir mit ihr an? Wir können sie doch unmöglich wieder in die alten Verhältnisse zurückschicken!«

Allerlei Pläne gingen der Fürstin durch den Kopf, die sie aber wieder verwarf, und der Fürst hätte wohl sagen können: »Hab' ich dir's nicht im voraus prophezeit? Man nimmt so etwas nicht aus seiner Sippe heraus, ohne nachher in große Schwierigkeiten zu kommen!« aber er schwieg diesmal. Hatte er doch nach und nach Zinnas Art selber schätzen gelernt, und war sie doch nicht nur ihm, sondern allen im Haus wie ein Stückchen von Winifred geworden, die sie so sehr geliebt hatte.

Zinna hatte noch nie so viel und so fleißig gearbeitet wie jetzt; überall im ganzen Schlosse, wo es galt, trat sie ein, und im Dienerschaftszimmer, wenn sie nicht dabei war, konnte man jetzt manchmal hören: »Die Zinna ist doch nicht so übel, schade nur, daß es ein Zigeunermädel ist, fast könnte man sich sonst an sie gewöhnen.« Etliche der jungen Diener und Stallburschen probierten jetzt auch, sich ihr spaßhaft zu nähern, um von ihr zu erreichen, daß sie ihnen wahrsage, aber sie versuchten's nur einmal. Mit ihrem finstersten Blick schlug ihnen Zinna auf die Hand und sagte: »Das ist vorbei, das tu ich nimmer!«

»Autsch, ist die brav geworden!« sagte der jüngste Diener, und die andern lachten und meinten: »Laßt sie laufen, sie wird wohl nichts wissen!«

»Laßt sie laufen!« Ja, dieses Gefühl hatte Zinna gegenwärtig in allem. Kein Muß, kein Befehl, keine Wünsche, – keine Liebe mehr! Was hatte die Bosche gesagt, als Zinna fortging? »Halb ist nicht ganz, und ganz ist nicht halb, und wer fortgeht, der schwebt in der Luft.« Ein dutzendmal am Tage ertappte sie sich darüber, daß sie die Wendeltreppe hinauflief, um an ihres Komteßchens verschlossenen Türen wieder umzukehren – vorbei! Aber wenn sie so allein bei irgend einer Näherei, die eigentlich gar keinen Zweck mehr hatte, in ihrem Zimmer saß, da kamen ihr mit Macht auch allerlei andere Bilder und Gedanken. Wo mochte die Bande jetzt wohl sein? Wie ging's dem Vater bei der Lolischei, die ihn gewiß plagte und zum Narren hielt? Lebte die Bosche noch, und tollten der Janosch, der Wenzel, der Wadomer und der kleine Peter, der immer ihr Liebling gewesen, noch mit Satan und Mischka, den Hunden, herum? Wo spielte die Schellata wohl gegenwärtig ihre Harfe, und wo tönte des Tetias Geige? Manchmal auch wurden ihr plötzlich die Wände zu eng, alles, auch ihre jetzigen Kleider, bedrückten sie, und sie meinte fortlaufen zu müssen, weit, immer weiter, über die Heide, die kein Ende hat.

In solche Gedanken versunken war Zinna ganz besonders eines Abends, als sie wegen der einbrechenden Dunkelheit ihre Näherei beiseite gelegt und noch kein Licht angezündet hatte. In ihr wogte und drängte es, und ein tiefes Sehnen nach irgend etwas Bestimmtem, Festem, nach irgend etwas von dem, was ihrem Komteßchen so viel Mut und Frieden gegeben hatte, war in ihr.

»Wir wollen unsere Pflicht tun, Zinna, dann sind wir vergnügt nachher«, hatte sie so manchmal gesagt, wenn sie irgend etwas zusammen vornahmen, und sie hatte immer so fröhlich dazu gelächelt.

Zinna saß am Fenster, das nach dem Wald hinaus ging. Es war ein milder Spätherbstabend, die Mondsichel stieg weit hinter dem Dorf auf, dort, wo die Äcker und Wiesen anfingen. Zinna öffnete die Fensterflügel und beugte sich hinaus. Da, plötzlich, – was war das? – Ein Pfiff drunten aus dem Walde, schrill und kurz, und gleich darauf noch einer, so eigenartig und so durchdringend, wie es nur einen auf der Welt gab, den Pfiff, den die Zigeuner untereinander gebrauchten, wenn sie sich gegenseitig zu irgend etwas Wichtigem riefen. Und diesem Pfiff mußte gehorcht werden.

Mit vorgestrecktem Kopfe lauschte die Zinna in die Nacht hinaus. Und da vernahm sie etwas, was all ihr Fühlen und ihr Inneres aufrührte: die Töne einer Geige. Sie spielte das Zigeunerlied:

»Rasch und rasch fliegt der Rauch,
und der Mond, der fliegt auch,
und der Mond, der nimmt ab,
groß ist das Heidegrab.« ...

Und gleich darauf Zinnas Lieblingslied, das auf deutsch lautet:

»Hier auf Erden weit und breit
find' ich überall nur Leid;
Schmerz und Leid muß ich stets haben,
seit ich Mütterchen begraben.
Schöner Sommer schwand dahin,
grau die Wolken seh' ich ziehn,
kalt fühl' ich den Regenschauer,
und mein Herz ist stets voll Trauer«,

ein Lied, bei dem man entweder schluchzen oder hell aufweinen mußte.

Das war Tetias Geige, nur er konnte so spielen.

Nun gab's für Zinna kein Halten mehr. Ohne ein Tuch umzunehmen, rannte sie die Treppe hinab, über den Schloßhof, an den alten Linden vorüber, durch das äußere Tor den Berg hinunter – weiter, immer weiter – und hinein in den Wald, in der Richtung dorthin, woher Pfiff und Lieder geklungen hatten.

»Tetia – Tetia!«

Da trat der junge Zigeuner hinter einem Stamm hervor. »Ich wußte, daß du kommen würdest!« Und ohne weiter viel Worte zu machen, gab er sofort Zinna den Grund seines Erscheinens an: »Dein Dade ist krank, er verlangt nach dir. Die Lolischei hat ihn verlassen, sie ist in der großen Stadt zurückgeblieben, und er ist nun allein. Wir sind gar nicht weit von hier. Wenn du dich sputest, können wir, bevor die Sonne aufgeht, bei den Unsrigen sein. Der Dade hat vor Schmerzen keinen Schlaf, und er wartet auf dich. Kannst du mir gleich folgen oder mußt du noch einmal dort hinauf?«

Ja, das mußte Zinna freilich – so läuft man nicht ohne weiteres davon. Überhaupt ...

Aber nun war alles andere Nebensache gegenüber der Nachricht, daß der Dade rief. Des Vaters Wille war heilig, er mochte noch so schwer zu erfüllen sein.

»Ich komme, Tetia. Etwa in einer Stunde erwarte mich hier, und ich werde dir folgen«, sagte Zinna mit unterdrückter Stimme und reichte dem Burschen die Hand.

»Du kommst sicher?« fragte dieser mißtrauisch, aber Zinna, die sich schon zum Gehen gewandt hatte, sagte nur kurz: »Ja, sicher!« und fort war sie.

So rasch das Mädchen vermochte, lief sie den Berg hinauf und kam atemlos, zum Glück ohne von jemand bemerkt zu werden, wieder in ihrem Zimmer an. Dort strich sie sich wie geistesabwesend einen Augenblick die Haare aus der Stirn. Dann aber kam ihre ganze Energie über sie, und ganz klar wußte sie, was sie zu tun hatte. Verließ sie bei Nacht und Nebel ihre Wohltäter, so hatte sie auch kein Recht dazu, irgend etwas von ihnen mitzunehmen. So weit hatte sich Zinnas Rechtsgefühl schon gefestigt.

Schleunigst streifte sie ihre Kleider von sich und holte aus der untersten Ecke ihres Schrankes das Tuch, das sie mitgebracht hatte, in dem sich ihre alten Kleider eingewickelt befanden. Ordnungsliebend, wie sie im Schlosse geworden war, hatte sie diese einst, ehe sie aufgehoben wurden, gewaschen und herausgeflickt. Nachdem sie die Kleider angezogen hatte, suchte sie nur das zusammen, was ihr geschenkt worden war, vor allem andern die Andenken an die Dahingegangene. Dies band sie in ihr Tuch. In äußerster Hast nahm sie dann ein Blatt Papier, setzte sich zum letztenmal an ihr Tischchen, tauchte die Feder ein, und mit einem tiefen Seufzer schrieb sie folgendes:

»Fürstin, ich muß fort!

Der Elsterruf hat getönt, und da muß man folgen. Mein Vater ist krank – die Neue ist von ihm gegangen! Er liegt verlassen da und verlangt nach mir. Tetia hat mir die Nachricht gebracht. Ich gehe, weil ich muß. Und ich gehe auch, weil ich zu nichts mehr nütze bin. Meine Komtesse ist tot, und niemand braucht mich mehr. Mein Herz klopft, und meine Stirn ist heiß. Ich sage der Herrin und allen tausend- und tausendmal Dank für das, was sie an der Zinna getan haben, ihre Seele wird ewig daran denken. – Ich küsse die Schwelle, über die ich kam und über die ich wieder fort muß. Ich gehe schwer, aber der Zwiespalt zieht mich auch wieder zu den Meinen. Das Zigeunermädel hat es doch nicht im Lichte ausgehalten!

Zinna.«

Diesen Zettel legte sie offen auf den Tisch in der Mitte des Zimmers. Dann stand das äußerlich so gänzlich verändert aussehende Mädchen einen Augenblick still, ehe sie, in der Dunkelheit tastend, noch die Wendeltreppe hinaufeilte, auf die Klinke der Türe ihrer kleinen Herrin einen heißen Kuß drückte und dann möglichst lautlos die Treppe hinab, durch das Haus und den Garten huschte. Dort war ein kleines Pförtchen, das in den Wald führte, und dessen Verschluß sie kannte. Ehe noch die ausgemachte Stunde verflossen war, stand Zinna hochaufatmend neben dem harrenden Tetia, und zusammen verschwanden sie in dem Dunkel des Waldes ...

Am andern Morgen, beim Frühstück, sagte der Fürst:

»Habt ihr auch gestern abend noch spät den merkwürdigen Pfiff gehört, der drunten aus dem Walde kam? Es war kein Menschen-, sondern ein Vogelruf, und ich kenne doch alle Vögel in meinem Revier.«

Die Großmama sagte: »Seltsam, ich konnte nicht einschlafen, und da war mir's, als hörte ich in weiter, weiter Ferne Musik, und der Wind wehte doch nicht in der Richtung vom Dorfe her, wo vielleicht eine Festlichkeit stattgefunden haben könnte.«

Babi, die eben hereinkam, wurde darüber befragt, wußte aber nichts davon, sagte hingegen, es sei heute nacht zwischen zehn und elf Uhr ein solch merkwürdiges Huschen auf den Treppen und im Hause gewesen. Einmal habe es sogar wie Schluchzen getönt, und der Gärtnerbursche habe eben gemeldet, daß das Pförtchen in den Wald hinaus heute früh offengestanden habe.

Gleich darauf kam Weber herein, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Als er Babi sah, die der alten Dame ihre Pillen gebracht hatte, die sie des Morgens pünktlich nehmen mußte, flüsterte er ihr leise etwas zu. Betroffen blickte diese auf und verließ dann das Zimmer.

Als bald darauf die Dienerin ihrer alten Herrin an dem Waschtisch mit den schönen, silbernen Kämmen und Bürsten die Haare zurecht machte und ihr dann das schwarze Spitzenhäubchen aufsetzte, da fragte Babi wie von ungefähr: »Haben gräfliche Gnaden heute schon die Zinna gesehen? Ich habe ihr gestern gesagt, sie solle in der Frühe herüberkommen, es gäbe etwas am Morgenrock der Frau Gräfin auszubessern.«

Als die alte Dame die Frage aber verneinte und sagte, der Morgenrock liege ja noch dort, da wurde Babis Gesicht ernst, sie sagte aber nichts.

Im selben Augenblick jedoch wurde es draußen auf dem Vorplatz unruhig. Verschiedene Stimmen sprachen durcheinander, und als Babi hinausging, zu fragen, was es denn gebe, standen Nannette und ein Hausmädchen beieinander, und die erstere rief mit ihrer lauten, nicht sehr melodischen Stimme: »Fräulein Babi, wo steckt denn nur die Zinna? Die Bügeleisen im Bügelzimmer sind heiß, und ich warte nun schon seit dem Frühstück auf sie, und das faule Ding hat sich immer noch nicht sehen lassen. Ich sag' nur, wenn unsereins sich so etwas herausnehmen würde, aber die darf sich ja bei den Herrschaften alles erlauben, der wird der Kopf immer gehalten!«

Babi verwies Nannette kurz ihre unartigen Reden und sagte, sie solle nur eilen, daß ihretwegen nicht die Bügeleisen kalt würden! Sie selber werde jetzt nach Zinna sehen, die am Ende krank geworden sei.

Die alte Dienerin begab sich nun, wie sie gesagt hatte, in Zinnas Zimmer, wo sie zu ihrem Erstaunen die Türe offen fand, und – was war das? Das Bett an der Wand stand völlig unberührt da, die Fensterflügel waren weit offen, und auf dem Tisch flatterte im Zugwind ein weißes Blatt Papier, das Babi, von einer schlimmen Ahnung ergriffen, sofort an sich nahm. Als sie die Überschrift »Fürstin« sah, da las sie natürlich nicht weiter, sondern eilte mit dem Brief, so rasch sie nur konnte, in den andern Flügel hinüber, wo sie das fürstliche Ehepaar noch im Frühstückszimmer fand.

»Euer Durchlaucht wollen entschuldigen, wenn ich so ohne weiteres hereinkomme, aber ich fürchte, Zinna ist fort. Auf ihrem Tisch habe ich hier diesen Zettel für Euer Durchlaucht gefunden«, und damit überreichte sie diesen der Fürstin.

Die Fürstin war bei den Worten: »Zinna ist fort« erschrocken in die Höhe gefahren, und als sie das Blatt überflogen hatte, reichte sie es stillschweigend dem Fürsten. Es war ihr bei den in Erregung geschriebenen Zeilen so eng ums Herz geworden, daß sie zuerst kein Wort hervorbrachte.

Auch der Fürst war sichtlich gerührt, als er Zinnas Abschiedsworte gelesen hatte, und er sagte: »Das ist ein unerwarteter Abschluß, und es tut mir leid um dich, aber auch um das Mädchen. Was wird nun wohl aus ihr werden? Ich bin nur froh, daß unsere Winifred dies nicht noch erlebt hat, das hätte sie noch weit tiefer gepackt als uns!«

Winifred! Die Fürstin fuhr in die Höhe. Schon um des geliebten Kindes willen mußte man für diejenige, an die es so anhänglich gewesen war, tun, was man nur zu tun vermochte.

»Babi, wir müssen umgehend versuchen, die Flüchtige wieder zu erreichen und zu uns zurückzubringen. Das darf nicht sein, daß das Werk, das ich in bester Absicht begonnen habe, nun so jäh endet!«

Die Fürstin klingelte heftig, und sofort kamen Weber und der Leibjäger, und nach und nach auch das andere Dienstpersonal zusammen.

Aber der Fürst und die erfahrenen Männer waren sofort vollständig einig und sich klar, daß da nichts mehr zu machen sei. Zinna hatte mit ihrem Begleiter den Vorsprung einer ganzen Nacht, und der Jäger, der dies fahrende Volk von lange her kannte, sagte: »Ein Suchen wäre ganz vergebliche Mühe, Euer Durchlaucht! Wenn ein Zigeuner verschwinden will, so ist unsereins machtlos gegen all die Mittel und Wege, die er dazu findet.«

Diesen ganzen Tag über und die folgenden Tage war größte Aufregung im ganzen Schloß, und Wolf-Dieter war kaum zu halten, er wollte durchaus mit Spazzo und Fox in den Wald hinunter und Zinna suchen. »Wie hat sie nur gerade jetzt fortgehen können, wo wir noch so schön drunten im Park mit ihr Wolf und Räuber spielten, und wo niemand so gut versteht, im dürren Laub Höhlen zu machen und Pfeifen aus Kastanien anzufertigen und sonst noch so vieles andere!«

Die Fürstin und ihre Mutter waren wirklich bekümmert um Zinnas Schicksal. Und wenn sie sich auch zehnmal am Tage sagten: »Es ist eigentlich edel von ihr, daß sie zu ihrem kranken Vater geht, und es zeigt ihren ganzen vornehmen Charakter, daß sie alles Eigentum vom Schloß zurückgelassen hat«, so war ihnen doch gerade für diese innerlich fein gewordene Art Zinnas angst und bange, wie sie in Zukunft das alte ziellose und ungeordnete Leben ertragen würde. Von Tag zu Tag hoffte man auf einen Brief, aber es kam keiner. Die Fürstin schrieb an Schwester Martha, ob nicht vielleicht dort irgendwelche Nachricht eingelaufen sei, aber diese wußte nur zu sagen, daß der Heiner eine Karte mit fremden Postzeichen bekommen habe, auf der stehe:

»Ich bin wieder bei den Unsern und pflege Vater, der krank ist. Sei froh und dankbar, daß du da bleiben darfst, wo du bist.

Zinna.«


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